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Großmeister der Kleinen Form

Von Walter Hömberg

Reflexionen
Alfred Polgar (1873–1955) - ein kritischer Humanist und dazu ein vortrefflicher Stilist.
© ullstein bild

Wie viele jüdische Autoren emigrierte Alfred Polgar während der Nazizeit. Vor 150 Jahren wurde er in Wien geboren.


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Die lebenswerteste Stadt in Europa? Bei solchen Umfragen ist Wien häufig Spitzenreiter. Als Gründe werden dann gern das besondere Fluidum der Stadt oder auch Sehenswürdigkeiten wie der Stephansdom, die Hofburg und der Prater genannt. Kirchen, Denkmäler und Museen gibt es in vielen Städten. Eine Besonderheit Wiens sind jedoch die vielen Kaffeehäuser, die die Atmosphäre dieser Stadt prägen.

Das Wiener Kaffeehaus ist eine Institution, deren Geschichte sich bis zu den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Eine Blütezeit erlebte diese Einrichtung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert in Form des Literatencafés. Im Griensteidl, im Herrenhof oder im Central trafen sich sowohl aufstrebende als auch etablierte Schriftsteller zum Gespräch, zur Arbeit und - nicht zuletzt - zum Lesen der vielen Zeitungen und Zeitschriften aus dem In- und Ausland, die dort, eingeklemmt in hölzerne Halter, auf sie warteten.

Theorie des Cafés

Insbesondere das Café Central war für viele Autoren der Mittelpunkt ihres Lebens. Der Feuilletonist Peter Altenberg ließ sich sogar seine Post dorthin liefern. Zu den Stammgästen gehörte auch der Kritiker und Erzähler Alfred Polgar, der seine Beobachtungen 1926 in einem Essay mit dem Titel "Theorie des ‚Café Central‘" zusammenfasste. Einige seiner Kernthesen:

"Das Café Central ist [...] kein Kaffeehaus wie andere Kaffeehäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen."

"Das Café Central liegt unterm wienerischen Breitengrad am Merian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen."

"Es ist ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden."

"Das Café Central ist ein Provinznest im Schoß der Großstadt, dampfend von Klatsch, Neugier und Médisance. So wie die Stammgäste in diesem Kaffeehaus, mögen, denke ich, die Fische im Aquarium leben, immer in engsten Kreisen umeinander, immer ohne Ziel geschäftig, [...] immer voll Erwartung, aber auch voll Sorge, daß einmal etwas Neues in den gläsernen Bottich fallen könnte [...]."

"Es gibt Schaffende, denen nur im Central nichts einfällt, überall anderswo weit weniger."

Unter dem Familiennamen Polak am 17. Oktober 1873 geboren, wuchs Alfred Polgar als Sohn eines jüdischen Ehepaars ungarisch-slowakischer Herkunft in der Wiener Leopoldstadt auf. Seine Schulkarriere war kurz und nicht gerade erfolgreich. Jahre später muss er einräumen: "Meine Bildung besteht zum größten Teil aus Lücken." Zusammen mit Freunden besuchte er lieber das Café Griensteidl, in dem sich Schriftsteller, Publizisten und Musiker trafen. Darunter waren etablierte Autoren wie Hermann Bahr und Arthur Schnitzler, aber auch Newcomer wie der junge Felix Salten.

© Rowohlt

Als Berufsfeld wählte Polgar ein Metier, in dem man sich auch ohne spezielle Ausbildung profilieren konnte: den Journalismus. Seine ersten Beiträge erschienen anonym in der "Wiener Allgemeinen Zeitung", umredigiert und entschärft vom Chefredakteur. Polgar lieferte zunächst Berichte aus dem Gerichtssaal und aus dem Reichsrat, bevor er dann immer mehr die Kultur ins Visier nahm. Erst die Musik, dann beschäftigte ihn vor allem das Theater, und 1902 wurde er zum Burgtheaterreferenten der "Wiener Sonn- und Montagszeitung" bestellt. Seine Kritiken fanden auch überregional Aufmerksamkeit, sodass er schon bald auch regelmäßig in der neu gegründeten Berliner Zeitschrift "Die Schaubühne" (1918 umbenannt in "Die Weltbühne") publizieren konnte.

Etabliert als Kritiker

Im Rückblick auf die intensive Kommunikation innerhalb des Wiener Kulturbetriebs jener Zeit muss man zweierlei feststellen: Zum einen nötigt die Kreativität der vielen zeitgenössischen Schriftsteller dem Beobachter auch heute noch Respekt ab. Zum anderen trüben die vielen kleinkarierten Streitereien untereinander das Bild: Die inzwischen veröffentlichten Briefe und Tagebucheinträge der Beteiligten offenbaren ein dichtes Netz von offenen und versteckten Freund- und Feindschaften.

Als Theater- und Literaturkritiker fand Polgar bald eine respektierte Position innerhalb der zeitgenössischen Journaille. Zu diesem Thema veröffentlichte er 1938 ein "Handbuch des Kritikers". Der pompöse Titel verspricht allerdings mehr, als das schmale Büchlein halten kann. Es bietet lediglich eine lockere Aneinanderreihung von Randnotizen, Anekdoten und Beobachtungen bei zeitgenössischen Theateraufführungen. Auch Aphorismen sind darunter: "Nie ist mein Senf besser, als wenn ich ihn nicht dazugebe."

© Löcker

In seinen Theaterkritiken sparte er nicht mit Lob und Tadel. Mit dem Burgtheaterdirektor Alfred von Berger verband ihn eine veritable Fehde, während er etwa den Ibsen-Zyklus des Lessingtheaters in sensiblen Besprechungen würdigte. Bald versuchte Polgar sich auch selbst als Bühnenautor, und zwar durchaus erfolgreich: Das zusammen mit Egon Friedell verfasste Lustspiel "Goethe" erlebte im neu eröffneten Cabaret Fledermaus über 300 Aufführungen ohne Unterbrechung.

Sein eigentliches Metier war das Feuilleton. Der Begriff bezeichnet drei Bereiche: das Feuilleton als redaktionelle Sparte, als subjektiv getönte Stilhaltung und als Darstellungsform. Polgars Tätigkeit umfasst alle drei Aspekte. Vor allem als Meister der "Kleinen Form" hat er sich einen Namen gemacht. Seine eleganten Prosaskizzen fanden Abnehmer bei immer mehr Zeitungen und Zeitschriften. Später erschienen sie dann gebündelt in Buchform. So ist es ihm gelungen, schreibt sein Biograf Ulrich Weinzierl, "die Schwelle zwischen Journalismus und Literatur zu überschreiten".

Exil in den USA

Zwischen 1908 und 1912 kamen drei Bände mit Prosaskizzen und Erzählungen heraus. Ein Jahrzehnt später entstanden viele Parodien und Satiren. Polgar nahm darin aktuelle Ereignisse in Politik und Kultur aufs Korn. Auch die Auseinandersetzung mit österreichischen Medien, etwa der "Neuen Freien Presse" oder mit Emmerich Bekessys Skandalblatt "Die Stunde", scheute er nicht. Auf diese Gesinnungssatiren passt der Titel von Christian Dietrich Grabbes Komödie, die 1876 am Wiener Akademietheater uraufgeführt worden war: "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung".

Mitte der Zwanzigerjahre übersiedelt Polgar nach Berlin, wo er neben der "Weltbühne" auch das "Tage-Buch" mit Beiträgen versorgt. In der turbulenten Stadt bewegt er sich vornehmlich in Literaten- und Künstlerkreisen. Doch bald zieht es ihn zurück nach Wien, wo er 1929 seine Partnerin Elise Loewy heiratet. Im Jahr darauf verfasst er sein einziges größeres Drama: "Die Defraudanten". Diese Komödie wird zwar in Berlin und Hamburg aufgeführt, ist aber nicht erfolgreich. Es folgen einige Filmskripts, die aber nur zum Teil realisiert werden.

Alfred Polgar in den 1930er Jahren.
© ullstein bild

Die Machtübernahme der Nazis im Frühjahr 1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt im Leben Alfred Polgars: Wie viele andere jüdische und/oder politisch missliebige Autoren ging er ins Exil. Prag, Paris und Zürich waren die ersten Stationen seiner Odyssee, bevor er schließlich zusammen mit seiner Frau Lisl und zahlreichen anderen Zeit- und Leidgenossen aus der schreibenden Zunft von Lissabon aus per Schiff nach New York ausreisen konnte. Die nächsten Jahre verbrachte er in Kalifornien, bevor er 1943 nach New York übersiedelte. Beruflich konnte er sich in der Emigration nicht etablieren, es blieb bei Gelegenheitsjobs. Am meisten setzte ihm zu, dass er jetzt auf fremde Hilfe angewiesen war.

Im Frühjahr 1949 reiste Polgar, nun amerikanischer Staatsbürger, zurück nach Europa, und zwar in seine Wahlheimat Zürich. Er begann wieder, für deutschsprachige Zeitungen zu schreiben, und brachte einige Sammelbände auf den Weg. 1951 mit dem erstmals verliehenen "Preis der Stadt Wien für Publizistik" geehrt, zog es ihn dennoch nicht zurück in seine Heimatstadt. Am 24. April 1955 ist er, 81 Jahre alt, in Zürich an einem Herzinfarkt gestorben.

Kaffeehäuser heute

Was die Wiener Kaffeehäuser betrifft, so existiert der Herrenhof schon lange nicht mehr, im Griensteidl ist jetzt ein Supermarkt und das Café Central wird inzwischen hauptsächlich von Touristen besucht (nicht selten warten dort lange Schlangen von Reisenden auf Einlass). Als langjähriger Wien-Besucher empfehle ich das Café Bräunerhof, das auch von Thomas Bernhard geschätzt wurde. Auf abgeschabten Stoffbänken wird man hier von Kellnern bedient, die sich nicht durch übertriebene Höflichkeit auszeichnen. Dafür lockt das riesige Angebot der internationalen Presse. Die Einrichtung stammt wohl noch aus Zeiten Alfred Polgars, der im selben Haus (Wien I, Stallburggasse 2) viele Jahre gewohnt und darüber auch einen Essay geschrieben hat.

Im selben Haus wohnten zur selben Zeit übrigens nicht nur der Dichter Hugo von Hofmannsthal und die Operndiva Maria Jeritza, sondern auch Engelbert Dollfuß. Ein geschichtsträchtiger Ort also, an dem auch heute noch an jedem Wochenende ein Kaffeehaus-Trio "Wiener Melodien" spielt.

Walter Hömberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt sowie Gastprofessor an der Universität Wien. Er ist Herausgeber des Almanachs "Marginalistik", von dem soeben der zweite Band erschienen ist (Allitera Verlag, München).