Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Neutral soll er sein, unser Staat. Gleichzeitig wollen wir unsere Wurzeln hochhalten, die aus einem jüdisch-christlichen Mix mit einem Schuss antireligiöser Aufklärung bestehen. Übersetzt in die Tagespolitik heißt das: Ja zu Kreuzen in Gerichtssälen, in Schulen und auf Berggipfeln, nein zu getragenen religiösen (und politischen) Symbolen an Richtern, Staatsanwälten und Polizisten, ja zum Kopftuch für Lehrerinnen oder Kindergärtnerinnen, nein zur Burka.
Logisch sind diese Ge- und Verbote nicht; aber politisch vernünftig - gemessen an der Erwartungshaltung vieler Bürger - womöglich schon. Die drohende Wucht des Spannungsverhältnisses, das Demokratie und Rechtsstaat verbindet, macht sich erst unangenehm bemerkbar, wenn rauere Zeiten aufziehen. Bei Schönwetter gibt das maximal Stoff für Sonntagsreden her.
Die sind jetzt vorbei, also steigen die Anforderungen an die Politik, die widerstreitenden Ansprüche zu moderieren und die resultierenden Konflikte, so weit es geht, abzuschwächen.
Die neuen Bestimmungen sind unübersehbar das Resultat von Gefühlen: Viele sehen ihre kulturelle Identität bedroht, wollen sich dieser neu versichern. Nicht, indem sie wieder verstärkt die Werte ihrer Wurzeln leben, sondern indem die fremden Symbole eingeschränkt werden. Und die Politik meint, diesem Gefühl mit einem Ja zum Kreuz und einem Nein zur Burka entgegenkommen zu müssen. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sich jetzt diskriminiert fühlen. Die absehbaren Proteste von Muslimen und Laizisten gegen die Ungleichbehandlung religiöser Symbole haben die Prinzipien des Rechtsstaats auf ihrer Seite; ob das reicht, dass ihnen die Buchstaben der Gesetze recht geben, bleibt abzuwarten. (Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2011 geurteilt, dass ein Kreuz im Klassenzimmer nicht im Widerspruch zum Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates steht.)
Normalerweise ist es für eine liberale Gesellschaft kein Problem, kulturelle Konflikte dieser Art zu moderieren und auch großzügig im Sinne der Minderheit aufzulösen. Allerdings erleben wir gerade keine normalen Zeiten. Derzeit fühlt sich nicht nur die Minderheit nicht wirklich willkommen; die Mehrheit (jedenfalls eine starke Minderheit) fürchtet, irgendwann ihre Heimat nicht mehr wiederzuerkennen.
Großzügigkeit muss auf bessere Zeiten warten.