"Es ist die tiefste Hölle": Palästinenser, IS und syrische Armee kämpfen im Ruinengetto Jarmuk.
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Damaskus. Jarmuk ist eine Krater- und Ruinenlandschaft. Die 16.000 Eingeschlossenen im Süden von Damaskus haben nichts zu essen, kein Wasser; die Menschen vegetieren vor sich hin, sie ernähren sich von Gras, Blättern und Abfall. Viele sind verhungert. Das, was auf Schleichwegen in das Lager kommt, reicht bei weitem nicht aus. Es gibt keinen Strom, keine Medikamente, keine medizinische Versorgung. Das Rote Kreuz, das helfen könnte, hat keinen Zutritt.
Was es zwischen den Ruinen gibt, ist Gefechtslärm. Palästinenser-Milizen und Einheiten der Terrororganisation Islamischer Staat liefern sich eine erbitterte Schlacht um die Kontrolle über den Bezirk. Die syrische Armee hat das Areal seit langem abgeriegelt und feuert mit Artillerie dorthin, wo sie IS-Stellungen vermutet. Die Luftwaffe wirft Fassbomben ab - Metallbehälter, gefüllt mit Sprengmitteln und Metallteilen, die eine verheerende Wirkung entfalten. Opfer sind wieder vor allem Zivilisten, darunter 3500 Kinder. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon spricht von einem "Todeslager", der Ort sei die "tiefste Hölle": Die Welt dürfe dem Massaker nicht tatenlos zusehen.
Einst ein guter Platz
Dabei war Jarmuk noch vor wenigen Jahren ein Stadtteil wie viele andere in Damaskus. 1957 als Flüchtlingslager für Palästinenser gegründet, entwickelte es sich zu einem guten Lebensraum für 150.000 Menschen mit mehrstöckigen Häusern, Cafés und Geschäften. Lediglich die engen Straßen machten klar, dass es sich hier nicht um einen Wohnbezirk im herkömmlichen Sinn handelt. In Jarmuk war es für Palästina-Vertriebene möglich, ein neues Leben aufzubauen. Die Vereinten Nationen errichteten Krankenhäuser, internationale Geldgeber sorgten für Kindergärten und Schulen. Während Flüchtlingslager im Libanon von jeher keine Zukunftsperspektiven boten, zogen bald selbst Nicht-Palästinenser nach Jarmuk.
Der Aufstand gegen Assad führte unweigerlich zur Katastrophe. Ende 2012 wurde Jarmuk von Kämpfen zwischen Rebellen, Regierungstruppen und Assad-treuen Milizen heimgesucht. Wenige Wochen später übernahmen Regimegegner in Jarmuk die Kontrolle, das Areal wurde in einem Akt der kollektiven Bestrafung von der Armee abgeriegelt. Dann gab es die ersten Hungertoten. Wer konnte, floh - einige Bewohner Jarmuks schafften es nach Beirut, wo man im Lager Schatila wenig erfreut auf die Neuankömmlinge reagierte,
Vergangene Woche überrannte der IS Jarmuk und brachte 90 Prozent des Gebiets unter seine Kontrolle. Die Terroristen gingen rücksichtslos gegen Bewohner vor, mehrere Männer wurden auf offener Straße enthauptet. Am Freitag konnten die Verteidiger des Lagers den Vormarsch stoppen. Palästinenser rückten wieder in das Zentrum vor, der IS kontrolliere jetzt nur noch ein Drittel von Jarmuk, so ein Palästinenser-Sprecher gegenüber der dpa. Eine unabhängige Bestätigung dafür gibt es nicht. Die syrische Armee steht vorläufig auf Seiten der Palästinenser und beschießt die IS-Kämpfer mit Artillerie. Zum Schutz der Menschen sind die Verteidiger offenbar bereit, jetzt mit der syrischen Regierung zusammenzuarbeiten und die Armee bei der Rückeroberung zu unterstützen. Hilfe aus dem Westjordanland gibt es nicht. Die PLO hat angekündigt, nicht in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen werden zu wollen.
Angesichts der verworrenen Lage ist es schwierig, die jüngsten Ereignisse zu deuten. Sicher ist, dass sich in den Jahren der Belagerung und Perspektivlosigkeit viele junge Palästinenser in Jarmuk dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Möglich, dass sie dem von Süden vorstoßenen IS bei der Eroberung geholfen haben, wie der "Spiegel" berichtet. Ob auch Assad den Vormarsch des IS unterstützt hat, weil er hofft, mit den Islamisten das Palästinenser-Problem zu beseitigen, ist offen.
Armee ausgeblutet
Sicher ist, dass die Streitkräfte des syrischen Regimes nach mehr als vier Jahren Krieg ausgezehrt sind. Ohne Hilfe Russlands, des Iran und der Hisbollah wäre der Diktator längst am Ende. Es ist davon auszugehen, dass der Iran in den syrischen Stäben eine mehr als gewichtige Rolle spielt. Sollte sich der IS in Damaskus festsetzen, hätte Assad ein weiteres, gewichtiges Problem.