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Prälat Ignaz Seipel, der "Lebensborn" und die österreichische Geschichtsvergessenheit.
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Anfang August jährte sich der Todestag Prälat Ignaz Seipels zum 90. Mal. In diesem Zusammenhang ist ein aufmerksamer Blick auf das Sanatorium Feichtenbach bei Pernitz im Wienerwald zweckmäßig, in dem 1932 Österreichs früherer Bundeskanzler an den Folgen seiner Attentatsverletzungen, aber auch seines schweren Diabetes verstarb.
Als er im Juli 1932 ins damals weltbekannte Sanatorium eingeliefert wurde (man scheute zu Recht nicht den Vergleich mit Davos in der Schweiz), war er bereits vom Tode gezeichnet. Gepflegt von geistlichen Schwestern, sah er seinem letzten Kampf entgegen, aber nicht ohne noch wenige Tage vor seinem Ableben seinem Weggefährten und großen Konkurrenten Johannes Schober "Genesungswünsche von Krankenbett zu Krankenbett" zu senden. Seipel hatte sich im politischen Kampf vollends verbraucht, und er sah seine politische Ausnahmeleistung - sein Kraftakt der "Genfer Sanierung 1922" jährt sich heuer zum 100. Mal - zu Beginn der 1930er Jahre gescheitert. Auch der frühere Polizeipräsident und Kanzler Schober verstarb Ende August 1932, zwei Wochen nach Seipel.
Beide waren gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Otto Bauer die dominierenden Persönlichkeiten der Ersten Republik. Unversöhnlich zueinander und gefangen in ihrem ideologischen Lagerdenken, dennoch im Schicksal ihrer Heimat miteinander verbunden. Im Sanatorium Wienerwald (1904 gegründet von den beiden jüdischen Lungenfachärzten Hugo Kraus und Arthur Baer) verdichtete sich auch in den folgenden Jahren österreichische Geschichte. Wechselvoll wie der historische Verlauf des Landes, gestaltete sich das Schicksal dieses einstigen Prachtbaus. Noch vor Seipels Tod zählten etwa keine Geringeren wie Franz Kafka oder Kardinal Theodor Innitzer zu den Patienten des Hauses.
Vom Sanatorium zum SS-Heim
Noch bis 1938 herrschte der ausgezeichnete medizinische Charakter des Hauses vor, ehe nach dem "Anschluss" an NS-Deutschland das Wesen und die Bestimmung des Sanatoriums sich gänzlich änderten. Die beiden Gründer Kraus und Baer wurden zum Selbstmord gezwungen beziehungsweise starben nach Jahren der Verfolgung unter tragischen Umständen. Der "NS-Lebensborn" bemächtigte sich der einstigen medizinischen Vorzeigeanstalt. Von nun an sollte das Haus mit der Bezeichnung "Lebensbornheim Ostmark" (später als "Heim Wienerwald") als Geburtsheim der "Lebensborn"-Organisation der Schutzstaffel (SS) dienen. Insgesamt gab es von diesen Heimen, die als Geburtsklinik eines ausgewiesenen Führungs- und Rassenachwuchses geplant waren, nur zwei auf dem Gebiet des heutigen Österreichs. Schätzungen zufolge wurden an die 2.000 Kinder im "Heim Wienerwald" geboren. "Als "Mütterheim des Deutschen Volkes" war es auch bei Reichsführer SS Heinrich Himmler überaus beliebt, sodass er auch seine besondere Unterstützung und Wertschätzung diesem Heim zukommen ließ.
Nach Kriegsende 1945 wurde das einstige Sanatorium zunächst als Wiener Jugendhilfswerk für unterernährte Kinder genutzt. Danach folgte ein Restitutionsverfahren, ehe die damaligen Eigentümer das Areal an den Österreichischen Gewerkschaftsbund verkauften, der es als Heim nutzte. Dann folgten eine Jugendherberge, ein ÖGB-Urlauberheim, und Ende der 1990er beherbergte das Areal ein Erholungs- und Rehabilitationszentrum für Patienten der Wiener Gebietskrankenkasse. Seit Anfang der 2000er ist das frühere Sanatorium dem Verfall preisgegeben. Derzeitiger Eigentümer des ehemaligen Sanatoriums Wienerwald ist eine deutsche Holding Gesellschaft, rechtlich vertreten durch eine Wiener Rechtsanwaltskanzlei. Gelegentlich versuchen lokale oder parteiliche Einzelinitiativen, dem historischen Gelände eine neue Bestimmung zu geben. Alleine, das einstige österreichische Paradesanatorium verfällt seit mehr als zwei Jahrzehnten augenscheinlich.
Absolute Verwahrlosung
Seit 2020 wird die Geschichte des NS-Entbindungsheims übrigens von Forschern des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) aufgearbeitet. Die ersten Forschungsergebnisse dazu liegen bereits vor. Dies allerdings hat gegenwärtig keinen Einfluss auf die aktuelle Gestaltung des Areals beziehungsweise seiner möglichen Ausrichtung. Im Gegenteil: Das Gelände bietet aktuell das Bild absoluter Verwahrlosung. Es ist eher ein Müllplatz voller Graffitis und baubehördlicher Absperrungen.
Damit reiht sich der Schandfleck bei Pernitz im Wienerwald nahtlos an eine Reihe anderer historischer Bauwerke wie Bahnhöfe, Amtsgebäude oder Restaurationsbetriebe ein, die das historische Erbe dieses Landes überhaupt erst optisch zum Ausdruck bringen (sollten). Diskussionen werden entweder überhaupt nicht geführt oder Lösungen solange verschleppt, bis ohnehin nur noch der Abriss bleibt. Der beste Freund - oder Feind? - des Denkmalschutzes ist die Verwahrlosung. Eine Ruine kann man schließlich nur noch abreißen und erspart sich belastende Diskussionen.
Das einstige Sanatorium ist genauso der geschichtlichen Amnesie verfallen wie Kanzler Seipel und der "NS-Lebensborn". Alles dies ist gleichermaßen zu bedauern und gleichzeitig zutiefst typisch für das gegenwärtige geschichtsvergessene Österreich.