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Grund-und Freiheitsrechte werden durch Charta "sichtbarer"

Von Heinrich Neisser

Europaarchiv

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Im Brüsseler Plenarsaal des Europäischen Parlaments war das Aufatmen unüberhörbar, als am 26. September dieses Jahres in der abschließenden Beratung über eine Grundrechtscharta der Europäischen Union eine große Mehrheit ihre Bereitschaft ausdrückte, den 54 Artikel umfassenden Entwurf als Ergebnis einer neunmonatigen Beratung zu akzeptieren.

Es war mehr als eine symbolische Geste, dass der persönliche Beauftragte des französischen Regierungschefs Braibant seinem britischen Kollegen Lord Goldsmith für dessen Zustimmung zum Dokument dankte. Waren es doch in der Tat die Briten, die eine konsequente Skepsis gegenüber dem Chartaentwurf erkennen und ihre Zustimmung bis zum Schluss der Beratungen offen ließen. Letztendlich waren es nur mehr die Vertreter Irlands, bei denen die kritischen Töne dominierten. Der Konsens des Grundrechtskonventes bestätigte den Erfolg einer Aktion, die in mehrfacher Weise ein Novum in der Entscheidungsvorbereitung der europäischen Institutionen war.

Der Auftrag von Köln

Das Ereignis begann im Juni 1999 in Köln. Dort hatte der unter der deutschen Präsidentschaft stattgefundene Europäische Rat - das übliche Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs - einen Auftrag besonderer Art erteilt: ein eigens eingesetztes Gremium sollte den Entwurf einer Grundrechtscharta der Europäischen Union mit dem Zweck ausarbeiten, dass dieses Dokument beim Gipfeltreffen in Nizza im Dezember 2000 in feierlicher Weise proklamiert wird.

Dieses Projekt hatte zweifellos Neuigkeitswert. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union trat ein Gremium zusammen, das in mehrfacher Weise legitimiert war: persönliche Vertreter der Regierungschefs der Mitgliedsstaaten waren ebenso berufen wie Repräsentanten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments.

Dieser Entscheidungsmodus ermöglichte die Repräsentanz aller vier im österreichischen Nationalrat vertretenen Parteien. Der persönliche Vertreter des Bundeskanzlers wurde der Österreichischen Volkspartei zugerechnet (Neisser), die beiden Vertreter des nationalen Parlaments kamen von der SPÖ und FPÖ (Einem und Ofner) und der Vertreter des Europäischen Parlaments kam von der grünen Seite (Voggenhuber). Damit war das relevante österreichische Parteienspektrum präsent.

Im Gesamten gesehen bot die Zusammensetzung eine interessante Mischung von Persönlichkeiten, die eine reichhaltige Erfahrung in europapolitischen Diskussionen einbrachten.

Frühere Mitglieder des Europaparlamentes, der nationalen Parlamente oder der Regierungen der Mitgliedsstaaten waren ebenso vertreten wie Wissenschaftler, die auch politische Funktionen innehaben. Der frühere belgische Ministerpräsident Dehaene war Vertreter des Regierungschefs seines Landes, der frühere Generalsekretär des Europarates Tarschys vertrat den schwedischen Ministerpräsidenten.

Die Grundrechtscharta - mehr als eine Kodifikation?

Der vom Konvent erarbeitete Entwurf einer Grundrechtscharta fand in einer bisher eher bescheidenen öffentlichen Diskussion überwiegend Zustimmung, kritische Stimmen fehlten jedoch nicht.

Skeptiker meinten, dass dem Konvent der Charta "alles Große" fehle. Eher undifferenziert mutet die Meinung an, dass die Charta ein "Wunschzettel" sei. Sie ist zugegebenermaßen kein weltbewegendes Dokument, sie ist aber vor allem das, was sich der Europäische Rat von Köln erwartete: nämlich eine Bündelung der bestehenden Grund- und Freiheitsrechte, durch die diese "sichtbarer" werden, das heißt, dass sie geeignet sind, die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu erwecken.

Diese Charta ist nicht zur Politmarketing, sondern der Versuch einer vertrauensbildenden Maßnahme zwischen anonymen Politagenturen in Brüssel und dem Bürger einer Gemeinschaft, über deren Sinn und Zweck er nur unvollkommen Bescheid weiß.

Schutz vor Eingriffen

Ein Blick in sechs Abschnitte dieser Charta gibt dem Souverän der 15 Mitgliedsstaaten jene Information über seine Grundrechte und Grundfreiheiten, die ihn vor Eingriffen der Einrichtungen der Europäischen Union schützen sollen. In einigen Punkten hat der Konvent die "Enge" überwunden, die ihm durch das Kölner Mandat gesetzt wurde und durch die er einen "Mehrwert" erarbeitet hat.

So ist beispielsweise der Schutz der personenbezogenen Daten, der auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Erwähnung findet, verankert: das Asylrecht steht jedermann zu, und jedermann hat auch das Recht, fair und gerecht in Verwaltungsverfahren der Organe der Europäischen Union behandelt zu werden.

Bestandsaufnahme zu wenig

Der Chartaentwurf enthält eine informative Bestandsaufnahme der europäischen Grundrechtssituation. Er umfasst viele Kompromisse, die wie etwa bei den sozialen Grundrechten auf Kosten der Klarheit der Formulierung gefunden wurden. Dennoch ist für eine Grundrechtseuphorie kein Anlass.

Die schon erwähnte Enge des Auftrages von Köln, lediglich eine Bestandsaufnahme durchzuführen und keine neuen Kompetenzen für die Europäische Union zu schaffen, hat den Beratungen von vornherein viel an Dynamik genommen. Eine Auseinandersetzung mit den Grundrechtsbedrohungen unserer Zeit fand praktisch nicht statt. Vor allem die zunehmende Gefahr einer Aushöhlung der Grundrechte im Bereich der Zusammenarbeit von Justiz und Polizei in Strafsachen (sogenannte dritte Säule) wurde in den Konventsberatungen kaum erörtert.

Andererseits erscheint einiges im Text der Charta bemerkenswert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Grundrechtsformulierungen wird in einer Präambel klar ausgesprochen, dass die Ausübung der Rechte "mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden" ist.

Ebenso ist positiv zu bemerken, dass die Würde des Menschen als eine Art Grundnorm aller Grundrechte verankert wird. Schließlich eröffnet auch die Verbindung von sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten als Teil eines Grundrechtskataloges neue Perspektiven. Dieses Kapitel gehörte zu den schwierigsten Aufgaben des Konventes. Vor allem die französische Seite wollte durch einen umfangreichen Katalog ihre Idee einer Sozialunion verstärken.

Auf der anderen Seite bestand eine Skepsis gegen allzu breite Formulierungen, die eher als Programmsätze anzusehen sind. Der Vorwurf der Grundrechtslyrik wurde erhoben. Dennoch enthält dieses Kapitel eine ausgewogene Behandlung der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte.

Erstmals wird in einer Grundrechtscharta das Prinzip der Berufsfreiheit auch für den Unternehmer festgeschrieben. Die Gewährleistung der "unternehmerischen Freiheit" ist Ausdruck einer neuen Sicht des Verhältnisses zwischen sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten.

Zukunftsperspektiven der Grundrechtsdebatte

Trotz mancher Unvollkommenheit kann die Grundrechtscharta ein Signal für weitere Entwicklungen sein. Es liegt in der Hand des Europäischen Rates, was er aus dem Produkt des Grundrechtskonvents macht. Die feierliche Proklamation in Nizza kann nur eine Station in einer Diskussion sein, die im Interesse der Bürger Europas weiterzuführen ist. Die Kernfragen dieser Auseinandersetzung betreffen die Verbindlichkeit der Charta und deren Eingliederung in den Text der Verträge. Vor allem die Rechtsverbindlichkeit der Charta bedarf einer differenzierten Erörterung.

Aus der derzeitigen Gemengelage von individuellen Rechtsansprüchen, Programmsätzen und Gestaltungsaufträgen an die rechtsetzenden Institutionen sind vor allem jene Grundrechte herauszufiltern, die den Bürger Europas zu einem gestaltenden Faktor des europäischen Einigungsprozesses machen. Das verlangt eine Aufwertung der Unionsbürgerrechte, die in ihrer Tragweite begrenzt und in ihrer Bedeutung teilweise unklar sind.

Abgesehen davon bleibt die Charta ein mehr oder weniger gefälliges Dokument, wenn es nicht gelingt, ihren Inhalt zu einem Bürgeranliegen zu machen. Um dies zu erreichen, braucht es nicht nur "Informationskampagnen", sondern vielmehr ein Sichtbarmachen der Grundrechte im Alltag der Brüsseler Machtträger. Dafür könnte die EU-Grundrechtscharta allerdings ein Wegweiser sein.

Dr. Heinrich Neisser ist Präsident der Politischen Akademie der ÖVP, Inhaber eines Jean Monnet-Lehrstuhls für europäische Integration an der Universität Innsbruck und österreichischer Regierungsbeauftragter im EU-Grundrechtskonvent.