Berührungen bauen Stress ab: Warum es nicht leicht fällt, den Sicherheitsabstand zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie einzuhalten.
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Vielleicht werden wir weiterhin öfter Hände waschen oder künftig routinierter mit neuen Seuchen umgehen. Der Sicherheitsabstand wird aber wohl nicht von der Corona-Krise bleiben. Er wurde verordnet, damit wir das Coronavirus nicht über Tröpfchen verbreiten, die uns beim Sprechen auskommen. Doch schon in den ersten Tagen der Maßnahmen-Lockerungen schienen es die Menschen damit nicht mehr so genau zu nehmen. Das ist freilich unvernünftig, solange es kein Medikament gegen das Virus gibt. Doch wir können nicht anders. Menschliche Nähe ist eine Frage des Überlebens. Berührungen sind im Sinne der Evolution.
Schon der Mutterbauch berührt den Fötus. Ab der siebenten Schwangerschaftswoche nimmt er physische Einwirkungen auf seinen Körper wahr. In der zehnten Woche beginnt er, sich selbst zu berühren. Ab Woche 17 schicken die Hautzellen Impulse an den Inselkortex im Gehirn, der Hormone freisetzt - etwa das Bindungshormon Oxytocin. Es senkt die Atemfrequenz und den Blutdruck und entspannt die Muskeln des Babys im Mutterleib. Der Tastsinn ist der erste Sinn des Menschen.
Zu Tasten eröffnet das Wissen um den eigenen Körper und ermöglicht die Anpassung an die Welt, erklärt Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors am Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig, in seinem Buch "Homo hapticus". Egal, ob wir sitzen, gehen, laufen oder stehen, einen kräftig zerfurchten Baumstamm oder einen zarten Grashalm im Wind berühren: Mehr als 700 Millionen Tast-Rezeptoren registrieren jeden Stimulus auf der Haut und schicken jede Sekunde Milliarden von elektrischen Impulsen über die Nervenbahnen an das Gehirn. Somit ist uns klar, dass unsere Beine am Boden stehen, wo die Arme und Hände sind und an welcher Stelle wir kratzen müssen, wenn es juckt.
Kuschelhormon Oxytocin entspannt wie kein anderes
Doch Grashalme können auch in die Fingerkuppen schneiden und Herdplatten können sie verbrennen. Damit wir uns nicht verletzen, muss der Tastsinn mit dem Zentrum für Schmerzempfinden in der Großhirnrinde zusammenarbeiten. Menschen mit Störungen im Zentrum zur Verarbeitung der haptischen Wahrnehmung können keinen Schmerz empfinden. Wenn sie geschlagen werden, spüren sie nicht, wohin der Schlag fällt. Wenn sie stürzen, merken sie nicht, dass sie sich eine Sehne gerissen haben. Sie können nur schwer überleben.
Der Mensch ist auf den Tastsinn angewiesen. Eine besondere Rolle spielt das Berührtwerden durch andere Menschen. Der Sonderstatus ist dem Kuschelhormon zu verdanken. "Oxytocin ist der mächtigste Gegenspieler der Stresshormone im Körper. Es entspannt und beruhigt", erklärt Johann Beran, Arbeits-, Notfall- und klinischer Psychologe in Wien. "Es wird bei Fremdberührungen oder etwa Verliebtsein ausgeschüttet. Ich kann es mir aber nicht herdenken, kann seine Freisetzung nicht ansteuern." Das Hormon bringt die Gebärmutter dazu, sich zusammenzuziehen. Damit löst es die Wehen aus. Es stimuliert es die Brustdrüsen zur Abgabe von Milch. Gleichzeitig beeinflusst es das Verhalten zwischen Mutter, Vater und Kind sowie zwischen Geschlechtspartnern. Zwischen Menschen stärkt es Beziehung und Bindung.
Allerdings muss die Freisetzung von Oxytocin laufend erneuert werden. "Wer über längere Zeit nicht berührt wird, fühlt sich gestresst, weil keine Balance im Körper entsteht", erklärt Beran, und fügt hinzu: "Berühren und Sex sind hier nicht unbedingt dasselbe. Sie können einander bedingen oder ergänzen, doch auch Berühren ohne Sex funktioniert für die Oxytocin-Produktion."
Was passiert, wenn die Berührungen plötzlich per Dekret zurückgestellt werden müssen? "Es ist, als würde ein Sinn ausgeschaltet. Da für mich während der strengen Maßnahmen Fremdberührungen völlig wegfielen, fühlte ich mich abgekoppelt", erzählt Silvia B. aus Wien, die alleine lebt und den Lockdown allein durchstehen musste. "Ich erlebte eine extreme Distanz. Es war und ist immer noch eine angespannte, kopfgesteuerte Zeit, in der ich ununterbrochen aufpassen muss, weil ich Sorge habe, meine Eltern zu gefährden. Man berührt zumeist intuitiv und muss die Intuition nun zurücknehmen. Dabei würden mich selbst simple Alltagsberührungen in der Sekunde entspannen", sagt sie.
Nähe können nur andere Menschen vermitteln
Oxytocin ist der Impulsgeber, der das System in den Chill-Modus versetzt. Wer zu wenig davon bekommt, muss Stressgefühle länger und intensiver aushalten. Wenn sich daran über eine Dauer nichts ändert, kann dies zu Depression, Burnout und Muskelverspannungen bis hin zum Bandscheibenvorfall führen. Manche Menschen lindern die Lage mit Drogen oder Alkohol oder betreiben exzessiv Sport. Ein Gefühl von Nähe kann ihnen dies nicht vermitteln. Das können nur andere Menschen.
"Selbstumarmungen oder Streicheleinheiten mit einem Stofftier haben auf Dauer nicht den gleichen Effekt wie Fremdberührungen", sagt Beran. Das Gehirn lässt sich nämlich nicht austricksen. Es hemmt es die Informationsbahnen zur Inselrinde und die wohlige Hormonausschüttung tritt nicht ein. Selbstumarmungen lösen keine Gefühlswellen aus.
Schimpansen berühren einander, weil dies ihre Beziehungen verstärkt und sie beruhigt. Doch nicht nur für unsere Verwandten ist Nähe Überleben. Wenn ein Neugeborenes Hautkontakt zu seiner Mutter hat, kann es den Stress der Geburt leichter verarbeiten. Die körperliche Nähe der Mutter ist eine Versicherung, dass jemand sich kümmert. Wenn sie ausbleibt, wird dem Organismus vermittelt, dass die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen sinnlos ist.
Der US-Verhaltensforscher Harry Frederick Harlow erforschte ab 1957 das Sozialverhalten junger Rhesusaffen und damit die Grundlagen der Mutter-Kind-Bindung. Einige Tiere wurden isoliert, andere nur mit ihrer Mutter und wiederum andere mit Müttern und gleichaltrigen Spielgefährten aufgezogen. Äffchen, die ohne Spielkameraden groß wurden, wirkten später ängstlicher als solche, die mit Gleichaltrigen herangewachsen waren. Isoliert aufgezogene Tiere waren als Erwachsene derart verhaltensgestört, dass sie zur Aufzucht eigener Jungen nicht fähig waren. Zu dieser Zeit war es die gesellschaftliche Konvention insbesondere im angelsächsischen Raum, besonders gegenüber männlichem Nachwuchs Umarmungen und intensiven Körperkontakt zu vermeiden.
In seinem Buch "Touch" erklärte der US-Neurobiologe David Linden, dass Kinder, die nicht umarmt und gehalten werden, zahlreiche Störungen und Beeinträchtigungen erleiden. "Wenn Kinder in den ersten zwei bis drei Lebensjahren zu wenig berührt, gekuschelt und gestreichelt werden, entwickelt sich ein Desaster", so Linden. Das Wachstum sowie die motorische und kognitive Entwicklung seien beeinträchtigt. Die Kinder würden zudem später häufiger an Diabetes, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. All dies wisse man von rumänischen Kindern, die zur Zeit des Diktators Nicolae Ceausescu in den 1970er und 1980er Jahren fast ohne Bezugspersonen oder Berührungen in Waisenhäusern aufwuchsen.
Umarmungen gehören zur Kommunikation
"Berührung ist ein Grundbedürfnis", betont Alexandra Gelny, Shiatsu-Praktikerin und Sprecherin des Österreichischen Dachverbands für Shiatsu. Die Methode aus Japan will über die Berührung einen positiven Effekt auf die Gesundheit erzielen. "Die Tatsache, dass man sich durch achtsame Fremdberührung wohler fühlt, hat auch damit zu tun, dass es dabei nicht nur um den Körper geht, sondern um den gesamten Menschen", so Gelny.
Zwei Menschen treten in Kommunikation und spüren es, wann eine Berührung fällig ist. Dem Kuschelhormon ist es egal, wo der Körper gestreichelt wird. Philippe, der querschnittgelähmten Protagonist in Olivier Nakaches und Éric Toledanos Film "Ziemlich beste Freunde", schätzt die Berührung des linken Ohrs.