Selbst wenn man den Unterschied zwischen denGrundrechten und Grundfreiheiten in der Europäischen Union kennt, ist deren genaues Zusammenspiel noch unklar. Grundrechten und Grundfreiheiten in der Europäischen Union kennt, ist deren genaues Zusammenspiel noch unklar.
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Die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaften versahen diese mit keinem Grundrechtskatalog, da sie davon ausgingen, dass deren Rechtsakte ohnehin der Grundrechtskontrolle durch die nationalen Verfassungsgerichte unterliegen würden. Sie konnten sich auch nicht vorstellen, dass die Errichtung eines "Gemeinsamen Marktes" jemals Grundrechte beeinträchtigen könnte. Durch den Gerichtshof der Gemeinschaften (EuGH) wurden sie aber eines Besseren belehrt.
Dieser sprach nämlich Teilen des Gemeinschaftsrechts Anwendungsvorrang und unmittelbare Wirkung zu. Damit konnten Rechtsakte der Gemeinschaften nicht mehr an den nationalen Grundrechtskatalogen gemessen werden, sodass der EuGH aus rechtstaatlichen Gründen eigene Grundrechte der Gemeinschaften entwickeln musste. Der erste Versuch einer Kodifizierung dieser Grundrechte in einer EU-Grundrechte-Charta scheiterte gemeinsam mit dem Verfassungsvertrag, dessen Teil II die Charta hätte bilden sollen. In den Vertrag von Lissabon wurde die Grundrechte-Charta nicht aufgenommen, sondern nur mehr für "rechtlich gleichrangig" erklärt.
Die fünf Grundfreiheiten
Unter Grundfreiheiten sind die Gebote freier zwischenstaatlicher Mobilität in einem Markt ohne Binnengrenzen für die vier Produktionsfaktoren Waren, Personen (Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit), Dienstleistungen und Kapital zu verstehen. Diese Regelung war bereits im EWG-Vertrag (1957) in der Konzeption des "Gemeinsamen Marktes" vorgesehen und wurde durch das Konzept des "Binnenmarktes" (1986) weiter ausgestaltet. Durch die neuere Judikatur des EuGH zur Unionsbürgerschaft kommt noch eine fünfte Grundfreiheit, nämlich die Freizügigkeit der Unionsbürger, hinzu. Die Grundfreiheiten richten sich grundsätzlich an die Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten und verbieten dieser, sie zu beschränken, außer es liegen Rechtfertigungsgründe vor. Seit der Rechtssache Bosman (1995) verbietet der EuGH auch Beschränkungen der Grundfreiheiten, die qualifiziert durch Privatrechtssubjekte (Fußballverein) mit staatlicher Duldung erfolgen.
Das Zusammenspiel
Grundrechte und Grundfreiheiten wirken in vielfältiger Weise aufeinander ein. Zunächst qualifiziert der EuGH Grundfreiheiten wie Grundrechte, da sie ja gleichsam reflexartig auch das Individuum begünstigen.
Des Weiteren verstärken die Grundrechte die Schutzwirkung der Grundfreiheiten, und zwar im Sinne eines verschärften Rechtfertigungszwanges für Beschränkungen derselben. Eingriffe der Mitgliedstaaten in die Grundfreiheiten lassen sich nur dann rechtfertigen, wenn sie mit den Grundrechten in Einklang stehen.
Zum anderen liefern Grundrechte auch Rechtfertigungsstandards für Beschränkungen der Grundfreiheiten wie etwa erstmals in der Rechtssache Schmidberger (2003). Damals gab der EuGH anlässlich der Brenner-Blockade (1998) der Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Demonstranten Vorrang vor der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs.
Grundrechte können aber auch Schranken der Grundfreiheiten konkretisieren - wie zum Beispiel der Schutz der Menschenwürde im Falle virtueller Tötungsspiele (Omega-Spielhallen Fall) (2004).
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