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Grüne DNA oder doch Zeitgeist?

Von Andreas Novy

Gastkommentare

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Replik auf den Kommentar von Isolde Charim, 21. Oktober:

Isolde Charims Befund über einen neuen Subjekt-Typus ist anregend, wiewohl sie die Analyse der Grünen mit einem besorgniserregenden Zeitgeistphänomen vermischt. Charim beschreibt mit der grünen DNA etwas, das bei Grünen weit verbreitet ist: eine Ethik, die sich anderen, der Um- und Mitwelt gegenüber verantwortlich fühlt. Dies wäre an sich durchaus positiv, jedoch kippt es - so Charim - allzu oft in unpolitische Moral. Dies findet sich unter anderem bei einem verengten Verständnis von Basisdemokratie und der individuellen Haltung einzelner Grüner.

Unpolitische Moral war auch ein wichtiger Ansporn im Rennen um die Bundespräsidentschaft, in dem sich bei weitem nicht nur die Grünen auf der Seite der Guten verordneten. Damals gab es noch viel Lob von unterschiedlichen Seiten, dass die Grünen mit beispiellosem Einsatz an Geld und Energie einen letztlich zweitrangigen Wahlsieg ermöglichten. Der 4. Dezember 2016 - ein moralischer Sieg, zumindest in den Augen der Sieger. Heute ist all dies vergessen; außer dass die Grünen auf einem Schuldenberg sitzen. Kurzum: Unpolitische Moral ist mehr Zeitgeist als grüne DNA.

In Anlehnung an Ingolfur Blühdorn beschreibt Charim den Aufstieg selbstbewusster Bürger, die sich nicht länger von oben bevormunden lassen. So wurzeln die Grünen in sozialen Bewegungen und diversen Bürgerinitiativen der 1970er und 1980er Jahre. Sie standen für Emanzipation von obrigkeitsstaatlichem Denken. Doch war es genau dieser von Charim beschriebene Subjekt-Typus des selbstbewussten Citoyen, der die Grünen 2017 aus dem Parlament wählte und stattdessen am Wählermarkt einem neuen Produkt, einer von der "Krone" unterstützten Ich-AG, den Vorzug gab.

Freiheit für alle gibt es nur mit Regeln

Die Freiheit, autonom und selbstbewusst zu handeln, ist schon lange nicht auf Grüne beschränkt. In Wien sympathisieren neuerdings auch Bürgerinitiativen mit der FPÖ, um eigene Interessen wirksam zu vertreten: Nimby - Not in my Backyard. In neueren Forschungen zeigt der von Charim zitierte Blühdorn, dass sich dieser selbstbestimmte Bürger nicht nur bei uns vermehrt auch von Moral emanzipiert - und unverblümt egoistisch agiert.

Charims Befund liefert also Versatzstücke, um den Scherbenhaufen zu verstehen, vor dem die Grünen stehen. Doch übersieht sie das eigentliche Problem: Das alte, Grünen sehr wichtige Ideal individueller Selbstbestimmung wird vermehrt dazu verwendet, eine Politik, die ein gutes Leben für möglichst viele Menschen anstrebt, durch systematisches Insistieren auf die eigene, möglichst unbeschränkte Freiheiten zu untergraben. Das eigentliche grüne Dilemma ist also ein ganz anderes: Mehr als alle anderen ist Grünen bewusst, dass es eine Spannung gibt zwischen dem Wunsch, selbstbestimmt das eigene Leben zu gestalten, und der Notwendigkeit, mit Regeln und Ordnung sicherzustellen, dass Freiheit für alle möglich ist. Die Kunst, dieses Spannungsverhältnis konstruktiv zu bearbeiten, beherrschen weder Grünen noch die Gesellschaft. Nirgends ist dies so offensichtlich wie in der Mobilitätspolitik.

Der Vormarsch liberalen Denkens, zu dem die Grünen beigetragen haben, wendet sich heute gegen sie: Meine Freiheit ist wichtiger als unser Gemeinwesen. Wann immer ernsthafte Politik gegen Klimawandel oder Neoliberalismus angegangen wird, wehren sich Menschen vor Ort gegen die Zumutungen demokratischer Politik und von oben verordneter Regeln. Wer politisch gestalten will, gilt als Verbotspartei.

Individualisierung und Rechtsruck

Die Legitimität fast jeder einzelnen verkehrsberuhigenden Maßnahme kann so in Frage gestellt werden. Kindern und alten Menschen mehr Platz im öffentlichen Raum zu ermöglichen, wird als Beschränkung der freien Verkehrsmittelwahl kritisiert. Obwohl das Parkpickerl die wirksamste lokale klimapolitische Maßnahme war, wird es als obrigkeitsstaatlicher Eingriff abgelehnt. Wiewohl Wien dringend einen höheren Radfahrer-Anteil benötigt, um den öffentlichen Verkehr zu entlasten, ist der Aufbau einer Radfahrer ermutigenden Infrastruktur schwierig, sobald sie mit Einschränkungen der Auto-Mobilität einhergeht. So wird grüne Mobilitätspolitik heute vielfach von genau jenem Subjekt-Typus bekämpft, den Charim fälschlich als grün bezeichnet: den selbstbestimmten Bürger, seltener die selbstbestimmte Bürgerin.

Die Denunzierung demokratischen und kollektiven Handelns als Freiheitsbeschränkung macht aber bei Regierungshandeln nicht halt. War nicht auch Charim Teil einer bunten Bewegung, die 2000 gegen Schwarz-Blau zu demonstrieren begann? Wo sind heute die Kollektive jenseits von Parteien, die ihre Sorgen artikulieren, Widerstand und Alternativen organisieren? Ist nicht die Schwäche der Grünen Teil des viel größeren Problems, dass Demokratie und kollektives Handeln in der Defensive sind und das Ideal der individuellen Freiheit unbeschränkt den Wertekanon dominiert?

Weit über die Grünen hinaus herrscht Ratlosigkeit im Umgang mit der zunehmenden Individualisierung, der Politikverdrossenheit und dem daraus resultierenden Rechtsruck. Eine Neuerfindung der Grünen wird mit einer Neudefinition kollektiven Handelns und demokratischen Regierens einhergehen müssen. Wenn dies gelingt, wäre es ein großer Gewinn für eine Erneuerung der Demokratie und den sich formierenden Widerstand gegen Schwarz-Blau.

Zum Autor

Andreas Novy

ist Professor am Department für Sozioökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien und Obmann der Grünen
Bildungswerkstatt. privat