Die Grünen lehnten in den Koalitionsverhandlungen eine Degression ab, wie sie die Vorgängerregierung wollte. Eine Studie des Sozialressorts zeigt, dass viele Bezieher durch die türkis-blaue Reform aus dem System gefallen wären.
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Die Ankündigung zur Reform des Arbeitslosengeldes aus dem türkis-grünen Arbeitsprogramm ist einer der Punkte, der mehr offen lässt, als er verrät. Es ist äußerst vage von einer "Weiterentwicklung des Arbeitslosengeldes" die Rede, "mit Anreizen, damit arbeitslose Menschen wieder schneller ins Erwerbsleben zurückkehren können". Das klingt wesentlich zurückhaltender als die Pläne von Türkis-Blau.
Damals hatten sich ÖVP und FPÖ vom Beginn an darauf verständigt, das Arbeitslosengeld möglichst degressiv zu gestalten. Das heißt, dass der Bezug mit fortschreitender Dauer der Erwerbslosigkeit immer geringer wird. Wie lange Arbeitslosengeld fließt, sollte sich auch an der Länge der Beitragszahlung orientieren - auf maximal zwei Jahre sollte der Bezug bei entsprechender Versicherungszeit ausgedehnt werden können (derzeitige Bezugsdauer: 20 bis 52 Wochen). Die Notstandshilfe wollten ÖVP und FPÖ in das Arbeitslosengeld integrieren und abschaffen. Diesem Vorhaben kam die Ibiza-Affäre in die Quere. Unter Türkis-Grün scheint von solchen Plänen keine Rede mehr zu sein.
Die ÖVP lässt sich nicht in die Karten blicken
Schon in den Verhandlungen sei die Abschaffung der Notstandshilfe nicht mehr so stark diskutiert worden, ist von grüner Seite zu hören. Die Grünen waren auch strikt dagegen. Davon steht auch nichts im Regierungsprogramm. Auch Sozialminister Rudolf Anschober kündigte in der "Presse" an, dass es Ziel sei, die Notstandshilfe zu erhalten. "Weil das eine wichtige Säule der sozialen Absicherung ist." Über Optimierungen könne man sprechen.
Bleibt noch die Reform des Arbeitslosengeldes an sich. Da gibt es offensichtlich noch Diskussionsbedarf. Eine Entscheidung ist hier noch nicht gefallen, wie sich angesichts der vagen Formulierung im Programm erahnen lässt. Die Grünen vertraten in den Koalitionsverhandlungen jedenfalls den Standpunkt, beim Arbeitslosengeld die Nettoersatzrate des Erwerbseinkommens von 55 Prozent in den ersten Monaten zu erhöhen, ehe sie wieder auf 55 Prozent absinkt. Die Grünen berufen sich auf internationale Einschätzungen, wonach die Vermittlungsrate innerhalb der Zeit der Erhöhung ansteigt, wenn das Arbeitslosengeld anfangs höher ist.
Für mehr Geld in den ersten Monaten setzte sich auch die türkis-blaue Vorgängerregierung ein, konkret für eine Nettoersatzrate von 65 Prozent bei entsprechenden Versicherungszeiten.
Der Unterschied zum türkis-blauen Vorschlag ist aber, dass der Bezug nach den Plänen der Grünen auch bei längerer Auszahlung nicht unter 55 Prozent fallen soll. Eine Degression lehnt der Juniorpartner ab. Anschober sagte in den "Oberösterreichischen Nachrichten", dass es beim Arbeitslosengeld "zu keiner Verschlechterung für die Betroffenen" kommen soll.
Für die Reform des Arbeitslosengelds und der Notstandshilfe federführend zuständig ist allerdings Arbeits- und Familienministerin Christine Aschbacher von der ÖVP. Dort erfährt man zum neuen Arbeitslosengeld noch nichts. ÖVP-Sozialsprecher August Wöginger ließ über seine Sprecherin ausrichten, dass das gilt, was im Regierungsprogramm steht. Das ist allerdings nichts Konkretes. Es ist aber nicht anzunehmen, dass sich die ÖVP von ihrem Mantra - "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein" - völlig verabschiedet hat.
Türkis-blaue Lehren beim Arbeitslosengeld
Was es allerdings gibt, sind Einschätzungen zu den verschärfenden Reformvorhaben, die ÖVP und Freiheitliche in ihrer Koalition umsetzen wollten. Drei unterschiedlich harte Varianten ließ die damalige Sozialministerin Beate Hartinger-Klein auf Basis der durchschnittlich 354.037 Arbeitslosengeld- oder Notstandshilfebezieher aus dem Jahr 2016 vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) durchrechnen. Seit Oktober vergangenen Jahres liegen die Ergebnisse vor, die beinahe unbemerkt auf der Webseite des Sozialressorts veröffentlicht wurden.
Die türkis-blaue Regelung war nie final ausformuliert. Aber die Ergebnisse der Studie sind eindeutig. "In allen Varianten gibt es Bezieher, die nichts mehr aus der Versicherungsleistung bekommen würden", sagt einer der Studienautoren, Helmut Mahringer. Wobei jene Variante, bei der der Arbeitslosengeldanspruch und die Bezugsdauer stärker an die Versicherungszeiten gekoppelt und das Arbeitlosengeld deutlich degressiver ausgestaltet war, die größten Auswirkungen gehabt hätte.
Etwa 11.000 Personen oder drei Prozent der Bezieher würden keine Leistung aus dem Arbeitslosengeld mehr bekommen (bei den "großzügigeren" Varianten jeweils 4000), zirka 110.000 oder 31 Prozent der Bezieher hätten ihre Leistung "ausgeschöpft" (bei den "großzügigeren" Varianten jeweils 78.000 Personen). Das sei für die Politik "klärend" gewesen, da sie gesehen hätte, "welche Gruppen von Arbeitslosen von Änderungen positiv oder negativ betroffen gewesen wären und wie hoch das Einsparungspotenzial beziehungsweise die Mehrausgaben" wären, sagt Mahringer.
Die Einsparungen sind selbst im "härtesten" Szenario mit 150 Millionen Euro gering. Unter anderem, weil die Kosten für Mindestsicherung (BMS)/Sozialhilfe um fast eine Milliarde Euro ansteigen würden. "Geringe oder gänzlich auslaufende Arbeitslosenversicherungsleistungen führen in der Regel dazu, dass die Inanspruchnahme von BMS- bzw. Sozialhilfe-Leistungen zunimmt", heißt es in der Studie.
Die "großzügigeren" Szenarien, kommen sogar auf Mehrausgaben von 30 bis 300 Millionen Euro. In diesen Varianten wurden etwa die maximalen Bezugsdauern für alle Bezugsgruppen gegenüber dem ersten Szenario verlängert, ein unbefristeter Bezug für ältere Arbeitskräfte wurde erleichtert oder der Ergänzungsbetrag erhöht. Dadurch steigen auch die Ausgaben für Arbeitslosenversicherungsleistungen.