Ökologe Franz Essl zum Stellenwert einer breiten Diskussion über zukunftsweisende Erkenntnisse.
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Der Ökologe und Biodiversitätsforscher Franz Essl ist "Wissenschafter des Jahres 2022". Am Montag nahm er die Auszeichnung des Klubs der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten für seine anschauliche Verbreitung von wissenschaftlich fundierten Fakten entgegen. "Kaum jemand in unserem Land versteht es so gut wie Franz Essl, das brisante Thema Arten- und Umweltschutz einer breiten Bevölkerung nahezubringen. Der Ökologe bedient sich einer klaren, leicht verständlichen Sprache, ohne Inhalte zu sehr zu simplifizieren", hieß es vonseiten des Klubs, der die Auszeichnung zum 29. Mal verlieh.
Während mit der Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl (2020) und dem Komplexitätsforscher Peter Klimek (2021) Persönlichkeiten aus der Riege jener Forscher erfolgreich waren, die sich zuletzt stark um das Management der Covid-19-Pandemie verdient gemacht haben, wird heuer mit Essl ein Natur-Wissenschafter gewürdigt, der sich auch als Mahner in Umweltfragen einen Namen gemacht hat.
Geboren am 14. Jänner 1973 in Linz, war Essl schon früh klar, dass seine berufliche Zukunft im Bereich Umweltforschung und Umweltschutz liegt. Er lehrt und forscht am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien und gilt als international führender Experte für eingewanderte Arten. Im Leitungsteam des österreichischen Biodiversitätsrats setzt er sich breitenwirksam für Maßnahmen gegen den Artenverlust ein. Essl hat eine Ringvorlesung mit Fridays for Future organisiert, geht mit Forschungsergebnissen flott an die Öffentlichkeit und macht klar, wie sich die Welt durch die Handlungen des Menschen verändert.
Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist der Ökologe Dauergast in den renommiertesten Fachjournalen, seit 2018 findet er sich alljährlich in der Liste der "Highly Cited Researchers" des "Institute for Scientific Information" (ISI) der Firma Clarivate. Der Forscher, der in den 1990er Jahren beim kürzlich verstorbenen "Wissenschafter des Jahres 2012", dem Ökologen Georg Grabherr, an der Universität Wien studiert hat, publiziert regelmäßig zu den Themen "eingeschleppte Arten" (Neobiota), zur schwindenden Artenvielfalt oder zum Einfluss des Klimawandels auf die Biodiversität.
Essl vermisst ein "nationales Forschungsprogramm", das sich den Themen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Klimaschutz, Artenverlust oder den gesellschaftlichen Anpassungsnotwendigkeiten breit widmet. Jeder Euro, der in solche Forschung investiert wird, rentiere sich vielfach, sagt der Vater zweier Kinder, der auch passionierter Skitourengeher, Kajakfahrer, Kletterer und Hobbygärtner ist. In seiner Preisrede forderte er einen finanziell unterlegten "grünen Marshall-Plan" zum Wiederaufbau der Artenvielfalt in Österreich.
"Wiener Zeitung": Die Rote Liste der bedrohten Arten ist 2022 wieder länger geworden. Sind die Ziele der Artenschutz-Konferenz in Montreal vom Dezember ambitioniert genug?
Franz Essl: Das Glas ist mehr als halb voll. Zu den Meilensteinen von Montreal zählen das Ziel, dass die Staatengemeinschaft bis 2030 mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz stellen will, und die Einsicht, dass es Finanzierungsinstrumente geben muss. Ärmere Länder sollen bis 2025 rund 20 Milliarden Dollar jährlich dafür bekommen. Dazu haben sich alle Staaten bekannt. Die Zusagen halten allerdings nur, wenn alle sie umsetzen, es also einen Implementierungsplan gibt.
Welche Sanktionsmechanismen legt das Artenschutz-Abkommen fest?
Die Staaten verpflichten sich, durch die Erhebung von Daten zur Entwicklung der Artenvielfalt die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen zu dokumentieren. Aber es fehlen Regelungen, die säumige Länder zur Einhaltung der Ziele ermuntern, um nicht zu sagen: verpflichten. Das ist ein Problem, das wir von Verfehlungen bei den Klimazielen nur zu gut kennen. Ohne Sanktionen ist die Gefahr einer laxen Umsetzung groß.
Wie steht es um die Artenvielfalt in Österreich?
Die Situation ist unbefriedigend. In vielen Fällen wissen wir nicht, wie rasch das Artensterben vorangeht, weil Daten fehlen. In anderen Fällen ist es gut dokumentiert. Etwa sind in Österreich 40 Prozent der Brutvögel in den vergangenen 20 Jahren verschwunden. Das wissen wir aus jährlichen Zählungen von Vogelkundlern. Der Verlust ist vermutlich auch deswegen so groß, weil mit dem Rückgang der Insektenpopulationen die Nahrungsgrundlage der Vögel schrumpft.
Was unternehmen wir dagegen?
Naturschutzmaßnahmen sind hierzulande in vielerlei Hinsicht unzureichend. Zwar haben wir Nationalparks, Wildnisgebiete und Schutzgebiete, doch solange die großen Trends in eine andere Richtung zeigen, wird sich wenig ändern. Die Landwirtschaft wird großflächiger und intensiver, Pestizide kommen zahlreich zum Einsatz und die Bodenversiegelung schreitet voran. In Österreich werden täglich elf Hektar verbaut. Das sind mehr als zehn Fußballfelder. Zudem gehört unser Straßennetz zu den dichtesten Europas.
Noch in den 1970er Jahren galten Straßen als Fortschritt, da gab es allerdings auch weniger Verkehr.
Heute bedeuten neue Straßen nicht mehr Fortschritt, sondern mehr Zersiedlung und Umweltzerstörung. Es ist ein Manko, bei der Raumplanung keine anderen Prioritäten zu setzen. Selbst unsere zahlreichen Schutzgebiete sind wie Inseln in einem Ozean intensiver Verbauung und Landnutzung. Sie können nicht die gesamte Artenvielfalt in Österreich bewahren. Dazu sind sie zu klein und zudem nicht immer gut gemanagt. Es gibt genügend Beispiele von kleinen Schutzgebieten, die an ausgedehnte, intensiv genutzte Agrarflächen angrenzen. Viele Arten haben zu wenig Raum, um zu überleben.
Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie gut sind wir beim Artenschutz?
Wenn zehn das Beste ist, würde ich sagen: Österreich liegt im Ländervergleich bei fünf, weil die Situation in anderen Ländern noch grundlegend schlechter ist. Gemessen daran, was wir tun müssten, liegen wir aber eher bei drei.
Wie artenreich ist Österreich?
Tropische Länder sind weitaus artenreicher als Länder mit rauerem Klima. Eiszeitliche Klimaschwankungen führten in unseren Breiten dazu, dass viele Arten ausstarben. Dennoch besitzt Österreich eine deutlich überdurchschnittliche Artenvielfalt, da wir Anteil an unterschiedlichen Klimazonen haben. Manche Arten des Südens schaffen es vom Mittelmeergebiet bis Kärnten. Das Klima in der Wiener Umgebung ist pannonisch geprägt, hier gibt es Vorposten von Steppen-Arten aus dem Osten. Mit dem flächenmäßig größten Anteil an den Alpen leben hier auch zahlreiche Gebirgsarten. Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die Biodiversität höher. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung.
Unsere Verantwortung in Zahlen?
Bekannt sind rund 45.000 Tierarten in Österreich, der Großteil sind Wirbellose. Wirbeltiere haben wir weniger, etwa zählen wir um die 100 Säugetiere. Hinzu kommen 3.300 Pflanzarten, die die Nahrungsbasis für andere Organismen und die energetische Grundlage im Ökosystem darstellen, sowie ein paar 1.000 Pilzarten, etwa 1.000 Moose und zahlreiche Flechten. Freilich gibt es immer wieder Neuentdeckungen und Arten, die besser oder schlechter untersucht sind oder nur selten vorkommen, aber mehr als 90 Prozent der hier lebenden Arten sind bekannt.
Welche heimischen Arten sind besonders gefährdet?
Am stärksten gefährdet sind Arten, die in Mooren, Blumenwiesen und Äckern leben, da diese Lebensräume heute viel intensiver genutzt werden als noch vor einigen Jahrzehnten. Viele Orchideen, Schmetterlinge und Heuschrecken sind sehr stark gefährdet, denn sie sind auf solche Lebensräume angewiesen.
Wie viele eingewanderte Arten hat uns der Klimawandel gebracht?
Jährlich werden dutzende neue, eingewanderte Arten in Österreich entdeckt. Bei den Samenpflanzen zählen wir derzeit 1600 dieser Neobiota. Allerdings sind nicht alle weit verbreitet, manche wurden nur einmal gefunden. Bei Tieren gehe ich von 1.000 eingewanderten Arten aus, die meisten sind auch hier Wirbellose.
Aussterben ist das Wesen der Evolution. Was ist daran derzeit problematischer: Dass so viele Arten verschwinden oder dass sie so schnell verschwinden?
Arten kommen und gehen. Der rasante Rückgang derzeit ist aber wie ein Warnsignal, weil er nicht innerhalb von Jahrmillionen, sondern binnen Jahrzehnten passiert. Er zeigt, dass Ökosysteme übernützt und zerstört werden, ob durch Überfischung, Landwirtschaft oder Tourismus. Damit untergraben wir die Fundamente der Gesellschaft. Allein, um für alle dauerhaft Nahrungsmittel zu erzeugen – der Klimawandel wird das zusätzlich erschweren –, brauchen wir intakte Ökosysteme und Böden. Zum Schutz des Grundwassers dürfen wir die Böden nicht mit Pestiziden belasten. Wir brauchen viele verschiedene Bestäuber. Dieses Portfolio an Voraussetzungen geht ohne Artenschutz verloren. Niemand kann sich sehenden Auges wünschen, diese Risiken in Kauf zu nehmen.
Sie haben einmal gesagt, der Mensch haben die Evolution abgeschafft. Wie ist das zu verstehen?
Heute entscheidet nicht die Konkurrenzlage in der Natur darüber, welche Art überlebt, sondern ob diese Arten einem Lebensraum haben, der vom Menschen zerstört wird. Der Mensch ist zur prägendsten Kraft der Biodiversität geworden. Selbst vor 100 Jahren gab es noch viele Regionen, die vom Menschen unberührt waren. Weite Teile der Regenwälder und Tropen waren wenig erkundet, große Teile der Meere nicht befischt. Das hat sich in einer kurzen Zeitspanne radikal verändert.
Schafft der Mensch sich selbst ab?
Klima- und Umweltpolitik dient letztlich immer dem Menschen, letztlich geht es um uns. Wenn wir dem Raubbau an der Umwelt, dem Biodiversitätsverlust, der Ansammlung von Abfallstoffen und Emissionen und dem Klimawandel nicht entgegensteuern, haben unsere Gesellschaftssysteme, die von diesen Faktoren abhängen, ein hohes Risiko eines gravierenden Zusammenbruchs. Das muss allerdings noch nicht heißen, dass der Homo sapiens ausstirbt.
Wie haben Sie zu Ihrem Forschungsgebiet gefunden?
Rückblickend gab es Abzweigungen in meiner Laufbahn, die jetzt im Nachhinein Sinn ergeben, doch im Einzelnen hatte ich nichts von langer Hand geplant. Ich bin in Oberösterreich auf dem Land in der Nähe von Steyr aufgewachsen. Auf dem Bauernhof meiner Eltern hatte ich schon als Kind einen engen Naturbezug. Wenn man sich für Pflanzen und Tiere interessiert, ist der Naturschutz nicht weit – Arten verschwinden ja auch in der näheren Umgebung. Als mir klar wurde, dass diese Veränderungen weltweit ablaufen, verschob sich mein Forschungsschwerpunkt hin zu einer globalen Perspektive.
Woran forschen Sie jetzt?
Ich möchte besser verstehen, wie wir Menschen die Artenvielfalt der Erde verändern. Mich interessieren insbesondere die Verschleppung von Pflanzenarten und der Zusammenhang zwischen invasiven Arten, der Landnutzung und dem Klimawandel. Zu diesen hoch spannenden Phänomenen gibt es immer bessere Daten, dank derer sie sich immer besser erforschen lassen.
Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten verleiht die Auszeichnung nicht nur für exzellente Wissenschaft, sondern auch für das kommunikative Engagement von Forschern. Warum setzten Sie sich intensiv dafür ein, dass die Welt weiß, woran Sie forschen?
In einer demokratischen Gesellschaft halte ich es für unabdingbar, wissenschaftliche Erkenntnisse zu wichtigen Fragen verständlich und anschaulich in die Gesellschaft zu tragen. Mit der Öffentlichkeit zu diskutieren ist auch ein wichtiger Beitrag, um die Wissenschaftsskepsis abzubauen. Unsere Gesellschaft ist mit Zukunftsfragen konfrontiert, die gesellschaftlich breit diskutiert werden müssen. Die Bedeutung, die Journalisten und Medien dabei zukommt, kann gar nicht überschätzt werden, und daher ist auch ein Mehr an hochwertigen Wissenschaftsjournalismus extrem wichtig.