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Berlin - Kaum eine Delegiertenkonferenz in der Geschichte der deutschen Grünen wurde mit so viel Spannung erwartet wie der Wahlparteitag am kommenden Freitag und Samstag in Münster. Am Ende zäher Verhandlungen zwischen rot-grüner Regierung und Stromkonzernen sollen die rund 750 Delegierten dem Kompromiss für den Atomausstieg zustimmen. Er ist zumindest in zwei Punkten über die bisherige Schmerzgrenze der Partei hinausgegangen: 32 statt höchstens 30 Jahre Laufzeit für die Meiler und keine Zusicherung, noch in dieser Legislaturperiode einen Reaktor abzuschalten.
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Zweiter Streitpunkt ist das Thema Verkehrspolitik und damit das Bekenntnis von Fraktionschef Rezzo Schlauch, das Auto sei klar das Verkehrsmittel Nummer eins. Die Grünen müssten ihren "emotionalen Anti-Reflex" überwinden. Dann steht das Thema Bundeswehr auf der Tagesordnung. Hier hat der stärkere Koalitionspartner SPD unmissverständlich klar gemacht, er halte an der Wehrpflicht fest und werde sich mit dieser Haltung auch durchsetzen. Denn der Schwanz wedle nun einmal nicht mit dem Hund. Und schließlich wurde die vorgezogene Wahl der Parteispitze auf die Tagesordnung gesetzt, mit zunächst drei Kandidaten für zwei Chefposten.
Selbst die Grünen räumen in ihrer Parteizeitschrift ein, selten habe ein derart hoher Erwartungsdruck auf einem Parteitag gelastet. Ein Blick auf die Tagesordnung erkläre die politische Brisanz und das öffentliche Interesse gleichermaßen. Optimistisch heißt es: "Allemal genügend Gelegenheiten also, um knapp zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl ein Signal des politischen Aufbruchs zu geben."
Beim Thema Atomausstieg droht aber ein ganz anderer Aufbruch, wie Parteichefin Antje Radcke unumwunden zugibt: Die Abspaltung der radikalen Kernenergiegegner von den Kompromissbefürwortern. Radcke jedenfalls will sich auf den Kompromiss nicht einlassen. Wenn der Parteitag die Einigung mit den "Stromern" billige, will sie nicht mehr für das Vorsitzendenamt kandidieren.
Auf dem letzten Parteitag Mitte März in Karlsruhe hatten sich die Grünen festgelegt, nach einem Atomkompromiss "die Bewertung aus grüner Sicht auf einer erneuten Bundesversammlung" vorzunehmen und zu entscheiden. Die Parteispitze außer Radcke wirbt für die Annahme des Verhandlungsergnisses. Die Bundestagsfraktion empfahl mehrheitlich ebenfalls die Billigung des "sehr schwierigen Kompromisses" mit dem für die Grünen positiven Ergebnis: "Der Ausstieg kommt." Schließlich würden die Laufzeiten der Reaktoren begrenzt, die Wiederaufarbeitung der Atombrennstäbe beendet und die Zahl der Nukleartransporte sehr stark verringert.
Nach Rechenschaft der Parteivorsitzenden und dem Bericht aus Nordrhein-Westfalen hätte vor dem Streitpunkt Atomkraft das Thema Verkehrspolitik auf dem Parteitag für einigende Diskussionen sorgen können. Schlauch sagte, statt nur auf eine Verminderung des Autoverkehrs zu setzen, müssten die Grünen das Bedürfnis nach individueller Mobilität akzeptieren und auch im Autoverkehr auf neue Technologien setzen. Bei den Parteilinken wurde daraufhin die Frage gestellt, welche Positionen die Grünen noch aufgeben wollten, um schließlich überhaupt nicht mehr gewählt zu werden.
Bei der Wahl der neuen Führungsspitze kandidieren neben Radcke die beiden Fraktionschefs aus Berlin und Baden-Württemberg, Renate Künast und Fritz Kuhn. Eine der Vorsitzenden muss laut Grünen-Satzung eine Frau sein. Dem von fünf auf sechs Mitglieder vergrößerten Bundesvorstand, der Parteispitze, gehören außerdem der politische Geschäftsführer, der Schatzmeister und zwei weitere Mitglieder an.
Auch muss in Münster der neue, von 32 auf 16 Mitglieder verkleinerte Parteirat gewählt werden. Ihm gehören neben den beiden Parteichefs und dem Geschäftsführer nur Mitglieder an, die auf dem Parteitag gewählt werden. Weder Fraktionschefs noch Minister sind automatisch Mitglieder. Außenminister Joschka Fischer, hieß es, habe bisher noch nicht signalisiert, dass er sich zur Wahl stellen wolle.