Die Grünen gelten als Fahrrad-Partei. In Wien sitzen sie seit einem Jahrzehnt in der Regierung. Rad-Eldorado ist die Stadt trotzdem keines. Warum eigentlich?
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Die Grünen wurden auf das Fahrrad verkürzt. Im Beisl. Auf der Parkbank. Im Boulevard. Außer Radwege würde der Ökopartei wenig einfallen, so der vorherrschende Tenor über Jahre. "Eh lieb, aber nur ein Randthema", hieß es an den Stammtischen des Landes. Ihre ambitionierte Verkehrspolitik wurde der Partei zum Fluch. Sie verstellte den Blick auf all ihre anderen Themen. Wirtschafts-, Gesellschafts-, Gleichstellungs-, Arbeits-, Migrationspolitik. Alles ging in der öffentlichen Wahrnehmung verloren. Hängen geblieben sind nur die Bilder der Parteichefs auf dem Fahrrad.
Das ist lange her. Die Grünen haben sich etabliert, werden nun sogar vom Boulevard ernst genommen. Gesundheitsminister Rudi Anschober gilt als kompetenter Krisenmanager. Das langjährige Gesicht der Grünen Alexander Van der Bellen als seriöses Staatsoberhaupt. Vizebürgermeisterin Birgit Hebein als engagiertes Gegengewicht zum roten Stadtchef Michael Ludwig.
Die Grünen regieren in den Ländern, koalieren mit der ÖVP im Bund. Die Grünen haben sich gewandelt. Aus einer Gruppe idealistischer Naturschützer ist eine gediegene Partei in Regierungsverantwortung geworden. Auf dem Weg dorthin ist allerdings das Fahrrad verloren gegangen. Das ist in Wien nur allzu sichtlich. Seit zehn Jahren sitzen die Grünen in der Stadtregierung. Seit zehn Jahren haben sie im Verkehrsressort das Sagen. Zehn Jahre Zeit, um das Primat des Autos zu brechen, frischen Wind in die Großstadt zu bringen, Rad-Highways in alle Himmelsrichtungen zu bauen. Doch Wien ist kein Eldorado für Radfahrer geworden. Die innovativen Ideen der vormals als Rad-Extremisten verschrienen Partei fehlen. Viele Autos, wenig Radfahrer. Das Bild hat sich auch in zehn Jahren kaum geändert.
Der sogenannte Modal Split zeigt die Verteilung des Personenverkehrs auf die verschiedenen Verkehrsmittel. In Wien wird er jährlich erhoben. Der Anteil der Radfahrer dümpelt seit Jahren bei mageren sieben Prozent herum. In Graz liegt er bei 14, in Klagenfurt bei 17, in der Stadt Salzburg sogar bei 20 Prozent. In Wien gibt es auch deshalb wenig Radfahrer, weil der öffentliche Verkehr hervorragend funktioniert und hoch frequentiert wird - nicht zuletzt aufgrund der günstigen Jahreskarte, die die Grünen durchsetzten. Fast 40 Prozent der Wege werden mit Bus, Bim oder Bahn zurückgelegt. Ein Wert, um den Wien international beneidet wird. Doch das Rad hat Aufholbedarf. Das sieht auch die Stadtregierung so. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil der Radfahrer auf zehn Prozent zu heben. Für Ulrich Leth ein schwieriges Unterfangen. Der Verkehrsexperte der TU Wien kritisiert vor allem die dürftige Fahrrad-Infrastruktur in Wien. "Das Wiener Radnetz ist unvollständig", sagt er. "Ein Fleckerlteppich, aber keine flächendeckende Infrastruktur." Auch die stadteigene Mobilitätsagentur ortet Aufholbedarf. "In einigen Stadtteilen fehlen Radwege, die es Eltern mit Kindern oder Ungeübten überhaupt erst ermöglichen, das Fahrrad zu benutzen", heißt es auf Anfrage der "Wiener Zeitung".
Hört man sich unter den Radfahrern selbst um, wird ein ähnliches Bild gezeichnet. Niemand lobt die Radwege. Die Infrastruktur wird durch die Bank als unzureichend beschrieben. Claudia ist mit Fahrradanhänger unterwegs. Mit dem bringt sie ihre dreijährige Tochter tägliche in den Kindergarten. Auch zum Spielplatz oder in den Prater fahren sie mit dem Rad. "Stellenweise ist es schon gefährlich. Mittlerweile weiß ich, wohin ich mit dem Rad fahren kann und wohin nicht. Es gibt nicht überall Radwege. Dann nehmen wir lieber den Bus", sagt sie. Jakob stimmt ein. Der Student fährt ein nagelneues Single-Speed-Rennrad. So werden Räder mit nur einem Gang bezeichnet. Sie sind in den vergangenen Jahren zum Trend unter Rad-Hedonisten geworden. "In Wien stoße ich immer wieder auf ein abruptes Ende eines Radweges. Man kann dann nur auf die Straße ausweichen. Das Radnetz ist lückenhaft", sagt er.
"Das Wiener Radnetz muss dringend geschlossen werden", sagt auch Leth. Denn nur so könnte man Radfahrer locken. Studien zufolge würde nur ein Prozent der Bevölkerung unter jeder Bedingung auf das Rad steigen, sechs Prozent auch bei mangelhafter Infrastruktur.
Mit einem geschlossenen, sicheren Radverkehrsnetz könnten allerdings zwei Drittel der Bewohner abgeholt werden. In Wien schlummert also durchaus Potenzial. Um es zu wecken, braucht es Angebotsplanung. "Oft werden Radwege mit dem Argument blockiert, dass es sowieso kaum Radfahrer gibt", sagt Leth. Ein Denkfehler. "Die Radfahrer kommen mit den Radwegen. Man baut ja auch nicht erst die Brücke, wenn die Leute über den Fluss schwimmen."
Radweg ist nicht Radweg
Auf der Webseite der Stadt Wien sticht die Zahl 1431 ins Auge. So viele Kilometer ist das Wiener Radnetz lang. Eine beachtliche Zahl - auch im internationalen Vergleich. Und sie wächst von Jahr zu Jahr. Auch heuer wird wieder kräftig gebaut. "Allein in diesem Jahr setzen wir mehr als 30 Projekte um", sagt Hebein zur "Wiener Zeitung". Doch Radweg ist nicht gleich Radweg. Die Qualität macht den Unterschied.
So hat etwa Bremen viel mehr Kilometer Radwege als Kopenhagen, bei viel geringerer Fahrradquote. Die dänische Hauptstadt kann Traumzahlen vorweisen. 45 Prozent der Bewohner pendeln zur Arbeit, Schule, Uni mit dem Rad. Im Binnenverkehr sind es 63 Prozent. Täglich legen die Kopenhagener 1,27 Millionen Kilometer mit dem Fahrrad zurück. Die Stadt ist weltweit zum Vorbild geworden. Ihre Erfolgsformel ist einfach - baulich getrennte Radwege entlang der Hauptverkehrsrouten. Denn die Erfahrung hatte gezeigt: Werden Radfahrer in ruhige Nebenstraßen verbannt, werden sie weniger. Entlang der Hauptverkehrsadern sind Radrouten hingegen konkurrenzfähig und - durch die Trennung zur Autospur - sicher.
"Auch Wien braucht mehr baulich getrennte Radwege", sagt Leth. "Einzelne Projekte, wie am Getreidemarkt - wo ein neuer Radweg eine Autospur ersetzte -, sind hervorragend. Andere, wie in der Wattgasse, nicht." Über die Wattgasse rollen täglich 16.000 Kraftfahrzeuge. Sie ist eine wichtige Nord-Süd-Verbindung im 16. und 17. Bezirk. 2018 errichtete die Stadt einen Mehrzweckstreifen für Radfahrer - ein schmaler, durch eine Linie getrennter Streifen zwischen rollendem Verkehr und parkenden Autos. "Das ist natürlich keine gute Lösung", sagt Leth. "Mehrzweckstreifen sind unsicher und unattraktiv. Sie ziehen keine Radfahrer an."
Warum es in der Wattgasse nur ein Mehrzweckstreifen wurde, liegt laut Leth an der Wiener Stadtverfassung, am "Föderalismus" der Großstadt. Denn in Wien haben die Bezirke viel Einfluss auf die Gestaltung ihrer Straßen. Oft würden die Pläne der Stadtregierung von den Bezirken blockiert. Oder eben ein geplanter Radweg zum Mehrzweckstreifen degradiert. "Einen Radweg zu planen, der über drei Bezirksgrenzen geht, bedeutet, dass drei Bezirksvorsteher zustimmen müssen", erklärt Hebein den mühsamen Weg zum Konsens.
Auto versus Fahrrad
Es ist ein altbekannter Streit der ihn oft verunmöglicht - Auto versus Fahrrad. Nicht selten, dass Radwege nicht umgesetzt werden, um ein paar Parkplätze zu retten. Vergangenen Herbst wurde auf der Linken Wienzeile ein Radweg gebaut. Er schloss die letzte Lücke im Wientalradweg und verbesserte die Situation für Radfahrer neben dem Naschmarkt empfindlich. Doch als das grüne Verkehrsressort die Pläne präsentierte, stieß es auf Widerstand. Der Aufschrei war immens. Sofort standen ÖVP und FPÖ auf dem Plan. Sogar der Koalitionspartner - die SPÖ - zeigte sich skeptisch. Der Grund der Empörung war der Verlust von 77 Parkplätzen. Der Boulevard schrieb gegen das Vorhaben an. Ein Verkehrskollaps wurde prophezeit. Hier werde eine grüne Klientel auf Kosten der Autofahrer bedient. Heute rollen hier Familien auf ihrem Weg in den Wienerwald vorbei. Rad-Pendler können den Naschmarkt endlich sicher umkurven. Das Verkehrschaos blieb aus.
Die Aufregung um geplante Radwege versteht Tomé Hauser nicht. Er ist Pressesprecher von "Platz für Wien". Die Initiative setzt sich für eine gerechte Verteilung des öffentlichen Raums in der Stadt ein. "70 Prozent der Wiener Verkehrsfläche sind dem motorisierten Verkehr vorbehalten, ein Prozent dem Radverkehr", sagt er. "Dieses Missverhältnis muss geändert werden."
Nur etwa 140 Kilometer des 560 Kilometer langen Wiener Hauptstraßennetzes würden über sichere, baulich getrennte Radwege verfügen. Es gebe nur acht Fahrradstraßen und lediglich eine fahrradfreundliche Straße, vorwiegend am Stadtrand. Nur 46 Prozent der Einbahnen seien für den Radverkehr geöffnet. Auch die Abstellplätze würden hinten und vorne nicht reichen.
Um die Situation zu ändern, hat die Initiative einen Forderungskatalog erstellt. Er liest sich wie eine Kampfansage, basiert jedoch auf Studien und wissenschaftlicher Expertise. 300 Kilometer zusätzliche sichere Radwege, 50 Kilometer Fahrradstraßen, 375 Kilometer offene Einbahnen für Radfahrer, 110 Kilometer Radschnellverbindungen, 72.000 Abstellplätze will "Platz für Wien" durchsetzen. Nur so könne der Anteil der Radfahrer merklich gesteigert werden. Nur so wäre der öffentliche Raum gerecht verteilt. Noch vor Wien Wahl im Herbst will die Initiative den Katalog den Parteien vorlegen. "Jede Partei soll sich deklarieren und Stellung zu den Forderungen beziehen", sagt Hauser.
Und so könnte das Thema Fahrrad doch noch Einzug in den Wahlkampf finden. Denn bisher wurde es tunlichst vermieden. Die Parteien nehmen das Wort Fahrrad kaum noch in den Mund. Kein Wunder. Mit dem Fahrrad gewinnt man keine Wahl. Wer Autofahrer verärgert, hat in Wien von vornherein verloren. Dabei hätten die Grünen zehn Jahre Zeit gehabt, den Wienerinnen und Wienern die fahrradfreundliche Stadt als erstrebenswerte Alternative schmackhaft zu machen. Surrende Räder auf feinkörnigem Asphalt statt laute Verbrennungsmotoren in der Innenstadt. Frische Luft statt CO2-Emmissionen. Stramme Wadeln statt krumme Rücken und Verkehrstote. Ein nicht so schwer zu verkaufendes Bild, könnte man meinen. Sogar wirtschaftlich hat Radfahren Vorteile. Die Stadtregierung in Kopenhagen hat errechnet, dass jeder Kilometer, der mit dem Rad zurückgelegt wird, der Gesellschaft einen Nettogewinn von 16 Cent bringt. Jeder Autokilometer kostet ihr hingegen 9 Cent.
Angst vor der Utopie
Doch in Wien herrscht weiterhin Angst vor der Utopie. Viel ist vom rowdyhaften Verhalten der Radfahrer zu hören. Jede Radwegeröffnung ist von Negativschlagzeilen begleitet. Also spricht die SPÖ lieber von den Öffis. Die Grünen begnügen sich mit Baumpflanzungen, Begegnungszonen und "coolen Straßen". Lediglich zu sogenannten Pop-up-Radwegen ließen sie sich angesichts der steigenden Anzahl an Radfahrern während der Corona-Ausgangsbeschränkungen hinreißen. Von einer ganzheitlichen Verkehrswende fehlt jedoch jedes Indiz. Mit dem Fahrrad wird keine Politik gemacht. Nicht mehr.