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Gruß an die Generation der Kofferträger

Von Engelbert Washietl

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Auch vor einer Wiener Landtagswahl verschieben sich weder Berge noch U-Bahnstationen ganz von allein.


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Auf das Thema muss, obwohl die "Wiener Zeitung" gerade in der Sache Hauptbahnhof ebenso rührig wie hartnäckig berichtet hat, erneut eingegangen werden: Die politischen Planer des modernsten und größten Verkehrsprojekts der Bundeshauptstadt machen sich zurzeit des glatten Wählerbetrugs schuldig. Die U1 wird nämlich von den Bahnsteigen nicht "leicht erreichbar" sein, obwohl die von der Stadt herausgegebene Werbezeitung "wien.at" solches behauptet. Der Hauptbahnhof rückt auch nicht, wie Inserate in Tageszeitungen verkünden "an die U-Bahn-Linie U1".

Es ist also nicht alles so großartig, wie Verkehrsstadtrat Rudolf Schicker und führende Architekten in der an sich gut gemachten Info-Show am Fuße des kreativen "Bahnorama-Holzturms" verkünden. Die Bahnsteige, auf denen täglich tausende Passagiere an- und abfahren werden, bleiben selbst dann 335 Meter von der U1 der Station Südtiroler Platz entfernt, wenn diese Station in "Hauptbahnhof Wien" umgetauft wird.

"Hauptbahnhof Wien" heißt künftig: Koffer schleppen, wenn auch, wie Schickers forsche Sprüche lauten, "über klare Wegeführung" und begleitet von "heller und freundlicher Gestaltung", die den Reisenden die Orientierung leicht machen werde. Touristen und Pendler sollen sich, falls ihnen der Weg mit schwerem Gepäck oder Kleinkindern oder Kinderwagen oder im Rollstuhl doch zu lang dauern sollte, immer an die Schicker-Formel erinnern: "In Paris ist der Gare du Nord rund 450 Meter von der Metro entfernt." Na sowas.

Das kommt davon, dass die Pariser ihren Nordbahnhof schon 1864 eröffneten und die erste U-Bahn im Jahr 1900 losfahren ließen. Die 335 Meter, die wir in Wien jetzt durch jahrzehntelanges gründliches Planen herausholen, werden so gesehen ein Vergnügen sein. Wer das Glück haben wird, im hintersten Waggon in Wien angekommen zu sein, kann die helle Gestaltung des Weges sogar 500 Meter lang genießen.

Die einzige Ehrlichkeit, die sich in der Beruhigungspropaganda bezüglich der missratenen Verkehrsanbindung des Zentralbahnhofs findet, ist das Wörtchen "sogar". Es ist eher irrtümlich hineingeraten und war zumindest bis gestern nachzulesen auf www.wien.gv.at: "Im Vergleich: In anderen Metropolen wie Paris oder Brüssel betragen die Entfernungen zur S- oder U-Bahn sogar etwas mehr." Das "sogar" verrät, dass sich auch die 335 Meter in Wien ziemlich ziehen werden. Erst recht, wenn man bedenkt, dass diese Distanz ja in einem Bahnhof der Zukunft toleriert wird, den es noch nicht gibt und der frühesten 2015 voll in Betrieb sein wird. Er wird auf jeden Fall ein Jahrhundertwerk sein, das hoffentlich vielen Generationen von Menschen freie Fahrt in die Welt gewähren wird. Sobald sie halt einmal von der U-Bahnstation bis zum Zug gekommen sein werden.

In Wien wurde ja schon viel Geld sinnlos ausgegeben, außerdem wird die Stadt demnächst erneut durch Wolkenkratzer "verschönert", egal ob sie passen, bloß weil andere Weltstädte auch Wolkenkratzer haben. Offenbar gehört dazu auch ein Bahnhof der Zukunft, von dessen Bahnsteigen niemand über Rolltreppe oder Aufzug den U-Bahn-Anschluss erreicht.

Hätte man in Berlin auch so gedacht wie in Wien, so läge dort die U-Bahn abseits von einem der modernsten Bahnhöfe Europas. Solches wäre aber 2006 schlicht undenkbar gewesen - in Berlin.

Der Autor ist Sprecher der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse und Salzburger Nachrichten.