Mitglied von Pussy-Riot hatte Lagerbedingungen öffentlich gemacht.
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Moskau. Nadeschda Tolokonnikovas Schilderungen über den Gefängnisalltag im Alltag im Frauen-Straflager IK-14, 500 Kilometer südlich von Moskau lassen Erinnerungen an Alexander Solschenizyns Archipel Gulag wach werden. Seit der Veröffentlichung des Standardwerkes über das stalinistische Justiz- und Lagerwesensind 40 Jahre vergangen - geändert hat sich seither wenig. Der Strafvollzug in Wladimir Putins Russland ist kaum weniger menschenverachtend.
Die Punk-Sänderin und unerschrockene Putin-Kritikerin war im vergangenen Sommer wegen eines Protestauftritts in eine Moskauer Kirche zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Anfang März 2013 endet ihre Haftstrafe.
In dem Offenen Brief, der aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde und von ihrem Ehemann nun veröffentlichte wurde, berichtet das Bandmitglied von Pussy Riot von Schikanen, Schlägen, willkürlichen Kollektivstrafen und täglich 16 bis 17 Stunden Zwangsarbeit. Ihre Brigade müsse 150 Polizeiuniformen pro Tag auf völlig veralterten Maschinen nähen, schreibt die 23-Jährige. Wenn einer die verlangte Quote nicht erfülle, werde meist die gesamte Brigade bestraft. Die müsse dann "zum Beispiel stundenlang im Hof stehen - ohne Erlaubnis, aufs WC zu gehen, ohne die Erlaubnis, ein Glas Wasser zu trinken" oder würden in die Nieren und ins Gesicht geschlagen, schildert sie. Ziel sei es einzig, die Insassen zu brechen. Vor einem Jahr sei eine Roma von Mithäftlingen mit dem stillen Einverständnis der Gefängnisleitung zu Tode geprügelt worden - "die offizielle Todesursache: Schlaganfall".
Einer Frau musste der Fuß amputiert werden, weil sie im Winter ohne angemessenes Schuhwerk mehrere Stunden lang draußen stehen musste.
Gehorsam aus Angst
Niemand wage es aufzubegehren. "Deine Hände sind zerstochen von Nadeln und voller Kratzer, Dein Blut ist überall auf dem Arbeitstisch - aber Du nähst weiter." Schlaf gebe es "im besten Fall vier Stunden täglich. Einen freien Tag haben wir in anderthalb Monaten nur einmal", so die Mutter einer kleinen Tochter. Das sei widerrechtlich, aber die Verurteilten würden aus Angst vor Repressalien "freiwillig" um Sonntagsarbeit ansuchen. Für einen Hungerlohn - im Juni habe sie 29 Rubel (57 Cent) für die 100 Nähstunden erhalten, schreibt die junge Mutter. Zu essen gebe es nur "hartes Brot, ranzige Hirse und verfaulte Kartoffeln".
Weil sich Tolokonnikowa bei der Gefängnisleitung über die Lagerbedingungen, vor allem aber über die Nichteinhaltung der gesetzlichen Arbeitsnormen, beschwert hatte, nahmen die Erniedrigungen gegen sie und ihre Mithäftlinge drastisch zu. Von Vizeleiter Kuprijanow erhielt Tolokonnikowa Ende August sogar Todesdrohungen. Seit Wochenbeginn ist die junge Russin deshalb im Hungerstreik. Zudem verweigert sie die "koloniale Sklavenarbeit" im Gefängnis. "Ich werde das so lange fortsetzen, bis die Regierung (...) aufhört, inhaftierte Frauen wie Vieh zu behandeln", heißt es in dem Brief.
Am Dienstag wurde die politische Gefangene als Reaktion auf den Briefin die Einzelzelle verlegt. Zu ihrem eigenen Schutz, behaupten die Vollzugsbeamten. Doch niemand glaubt ihnen.