Der deutsche Künstler Gunter Demnig berichtet über die von ihm entwickelten "Stolpersteine", die im Boden vor den letzten Wohnorten von Naziopfern verlegt werden. Und er erzählt, wie es zu diesem "dezentralen Denkmal" kam.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung":" Hier wohnte Markus Max Wallach Jg. 1877 deportiert 1941 Lodz ermordet 6.6.1942." So lautet eine typische Inschrift in der Messingoberfläche eines Stolpersteins. Sie verlegen die Steine vor dem letzten selbst gewählten Wohnort eines Menschen, der zum Opfer der Nazis geworden war. Eine Lebensspanne in ein paar Stichworten?
Gunter Demnig: Für mich war es von Anfang an so, dass diese Steine für Menschen sind, die meist kein Grab haben. Sie haben sich in Auschwitz in Rauch aufgelöst, die Asche ging in den Fluss. Der Stolperstein ist kein Grabstein, sondern ein Erinnerungsstein.
Warum haben Sie diese Erinnerungssteine "Stolpersteine" genannt?
Stolpern, stutzen, stehen bleiben, nachdenken - so kann es jemandem gehen, dem im Trottoir so ein Stein auffällt. Das wünsche ich mir. Die schönste Definition stammt von einem Hauptschüler. Er sagte: "Man fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen".
Vor 20 Jahren waren Sie als Bildhauer und Aktionskünstler mit verschiedensten Projekten aktiv, oft im öffentlichen Raum und oft politisch motiviert. Heute sind Sie ein europaweit Reisender in Sachen Stolpersteine.Schon 2002 wurde es klar, dass die Stolpersteine ein Full-Time-Job werden. Anfangs habe ich die Planung, die Steine, also alles allein gemacht. Heute sind außer mir noch fünf Leute mit dem Projekt beschäftigt. Aber immer noch verlege ich fast alle selbst. Ich reise 40 bis 50.000 Kilometer im Jahr. Mittlerweile liegen über 37.000 Steine in zehn Ländern Europas.
Vermissen Sie die Abwechslung Ihrer früheren unterschiedlichen Projekte nicht?
Die Stolpersteine sind ein Lebenswerk geworden. Manchmal werde ich gefragt, ob sie mir zur Routine geworden sind. Das Einsetzen der Steine geht im Schlaf, aber alles ringsum ist ständig neu! Gestern war ich in Sigmaringen. Da ist eine 94-jährige Frau aus Florida angereist, um dabei zu sein, wenn die Steine für ihre Familie verlegt werden. Gegen ärztlichen Rat, gegen den Wunsch ihrer Familie ist sie hergekommen. Sie stammte aus einer angesehenen Familie, musste kurz vor dem Abitur weg. Sie ist nie wieder am Ort ihrer Jugend gewesen. Immer wieder erlebe ich diese Momente. - Routine? Von wegen.
Es fällt auf, dass oft Steine für eine ganze Familie da liegen. Warum?
Ich erinnere mich an eine Verlegung in Rotenburg/Wümme. Die Kinder wurden in einem Kindertransport gerettet, die Eltern kamen in Auschwitz um, die beiden Hausangestellten waren in einem anderen Lager. Ohne groß nachzudenken, habe ich Steine für alle sechs gemacht. Dann kam zur Verlegung die eine aus Kolum-bien, die andere aus England, quietschlebendig, sie hatten sich seit 60 Jahren nicht gesehen und haben sich so gefreut, dass sie mit den Eltern wieder zusammen sind. Wenn ich nur Steine für die Eltern gemacht hätte, hätte das nicht gepasst - das Familienschicksal musste komplett dokumentiert werden. Das versuche ich auch in anderen Städten durchzuhalten.
Ebenfalls Teil Ihres Konzepts ist es, dass Sie Steine für Überlebende verlegen.
Anfangs habe ich nicht so sehr darüber nachgedacht, habe genommen, was auf mich zukam. Dann gab es das Schicksal einer jüdischen Haushälterin: Die Herrschaften konnten fliehen, sie ist nach Theresienstadt gekommen, von dort nach Auschwitz - das war ja normalerweise das Ende. Sie kam aber weiter nach Minsk, hat dort überlebt, und ist nach dem Krieg nach Köln zurückgekehrt. Sie sollte keinen Stein kriegen, weil sie überlebt hat. Da habe ich gesagt: Ihr tickt ja nicht richtig! Wenn die keinen Stein kriegt, wie wollt ihr dann den Opferbegriff fassen? Oder die vielen jüdischen Kinder, die in Kindertransporten gerettet wurden, während die Eltern starben. Wie viele von ihnen haben sich hinterher Vorwürfe gemacht: Wir haben die Eltern im Stich gelassen, die sind für uns ins Gas gegangen! Manche sind daran zerbrochen. Warum soll so jemand keinen Stein bekommen?
Was sind die zentralen Gedanken hinter den Stolpersteinen?
Ein Mensch ist vergessen, wenn sein Name vergessen ist. Mit einem Stolperstein soll an das individuelle Schicksal erinnert werden - und zwar an dem Ort, wo das Grauen begann.
Wie nimmt so eine Stolperstein-Verlegung ihren Anfang? Wer kommt auf Sie zu?
Das ist ganz unterschiedlich. Einzelne, Familien, Naturfreunde, Geschichtsvereine, deutsch-israelische Gesellschaften, inzwischen immer mehr Schulen. In Uslar hat ein Geschichtsleistungskurs von sich aus einen Antrag beim Stadtrat gestellt - der fiel aus allen Wolken. Dürfen Schüler das? Später konnte sich das der Direktor an die Brust heften.
Wenn in einer Stadt der erste Stein verlegt ist, ist dann dort das Eis gebrochen?
Nein, es gibt Städte, da muss jeder Stein neu beantragt werden.
Und gibt es Städte, in welchen es noch komplizierter ist?
Wien wollte, dass wir mit den Hausbesitzern verhandeln, was natürlich gar nicht geht. Auch in Wien gehört das Trottoir der Stadt. Eine Frau ist dann selbst initiativ geworden, hat mit der Bezirksvorsteherin vereinbart, dass Stolpersteine auf zentralen Plätzen verlegt werden. Da habe ich nicht mitgemacht. Es heißt nun "Straße der Erinnerung", aber das ist ein ganz anderes Konzept.
Außerdem sind es gefräste Steine, was für mich überhaupt nicht geht. Fabrikarbeit ist viel zu nah an der Vernichtungsmaschinerie. Die Steine müssen mit der Hand gemacht werden. Aber wir lassen das jetzt so. Alle anderen in Österreich wollen meine Steine, außer in Wien.
Ist Österreich ein brisanter Raum für Ihr Projekt?
Da gibt es schon mal Vorschläge wie: Können wir den Stein nicht neben ein Kriegerdenkmal legen? Opfer zu Opfer! Waren denn alle Österreicher Opfer?
Und dann gibt es noch ausgerechnet München, wo kein einziger Stolperstein liegt.
Ja, München verschließt sich bis heute komplett. Wir hatten dort 2003 zwei Steine verlegt, die ein Mann namens Peter Jordan für seine Eltern bestellt hatte. Die hat die Stadt dann wieder rausgeholt und auf den jüdischen Friedhof gelegt. Peter Jordan hat an den Oberbürgermeister Christian Ude geschrieben: Sie haben meine Eltern ein zweites Mal deportiert.
Christian Ude hat sich immer wieder auf Charlotte Knobloch berufen, damals Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, später Vorsitzende des Zentralrats der Juden. Beide wollten "keine Form des Gedenkens, die im Alltag mit Füßen getreten wird", und haben sogar eine Parallele zum Rumtrampeln der Nazis gezogen.
Für mich ist das ein vorgeschobenes Argument. Unter den Juden steht Charlotte Knobloch mit ihrer Meinung ziemlich allein da. Salomon Korn war absolut für die Stolpersteine. Auch in Yad Vashem begrüßt man mein Projekt auf der ganzen Linie. Dass München, die einstige Stadt der Nazi-Bewegung, sich so verschließt, ist schon schwach - so wie auch das Argument, man habe genug getan und wer trauern wolle, solle nach Dachau gehen. Aber Christian Ude hat sogar interveniert, um zu verhindern, dass ich das Bundesverdienstkreuz für die Stolpersteine kriege.
Die Stolpersteine haben eine provokative Kraft, die in Menschen etwas hoch holt.
Es gibt Reaktionen wie: Was soll das denn jetzt nach 60 Jahren? Ja, sage ich dann, vor 30 Jahren, da hätten Sie es sich gewünscht? Andere sagen: Mach doch mal was für die Deutschen! Schauen Sie, habe ich da gesagt, dieser Mann, der in Auschwitz ermordet wurde, hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Wenn die Rechten kommen und sagen: Mach doch mal was für die Soldaten und für die Bombenopfer, dann sage ich: Ja, machen Sie das doch! Gründen Sie einen Verein! Wir machen hier so lange weiter.
37.000 Steine europaweit, das ist fast schon eine Landkarte des Gedenkens. Eine Vermessung der Dimension des Naziterrors - und es hört nicht auf.
Es ist das größte dezentrale Denkmal der Welt.
Mahnmal oder Denkmal?
Ein Denkmal, glaube ich. Das ist ja der Sinn: Man soll stolpern und dann anfangen, nachzudenken.
Haben Sie dieses Denkmal noch selbst in der Hand?
Die letzte Korrektur eines Stolpersteins geht immer über meinen Schreibtisch und ich schaue, ob der Wortlaut für mich stimmt. Einmal wollte ein Angehöriger von einem Euthanasieopfer, dass wir bei "eingewiesen, Heilanstalt" das "Heil" weglassen, es erinnere ihn an "Heil Hitler". Ja, wollen Sie nicht mehr "Heilkräuter" sagen? Nicht mehr zum "Heilpraktiker" gehen? Die Perversion wird ja erst klar, wenn es heißt: "Heilanstalt" und "ermordet"! Ich habe den Stein nicht gemacht. So hart bin ich dann schon.
Es muss für die betreffende Familie und für Sie stimmen?
Ja, natürlich. Gegen den Willen von jemandem will ich es sicher nicht. Aber auch wenn jemand das genaue Geburtsdatum auf dem Stein haben will, machen wir das nicht mehr. Da haben sich anfangs so viele Fehler eingeschlichen. Die Dokumente sind ja alle handschriftlich. Aber der Jahrgang ist wichtig. Dann kann ein junger Mensch sehen: Der wurde ja nur so alt, wie ich jetzt bin! Oder: das ist derselbe Jahrgang wie mein Großvater. Anfangs hatte ich noch Respekt vor Historikern. Aber mit Verharmlosungen wie "verschollen in Auschwitz" konnte ich gar nichts anfangen. In Auschwitz ist keiner verschollen. Oder "Freitod vor der Deportation". Das war ja wohl eher eine "Flucht in den Tod". Da musste ich auch dazulernen und mich durchsetzen.
Wann hat für Sie dieses Umgetrieben-Werden von NS-Geschichte begonnen?
Mein Geschichtsunterricht in Berlin war mit der Weimarer Repu-blik zu Ende. Zu Hause habe ich mir als Jugendlicher den Dachboden ausgebaut, da fand ich in einer Kiste von meinem Vater ein Foto von ihm in der Legion Condor: er in Badehose auf seiner Kanone. Ich fragte ihn danach, konnte aber nie etwas aus ihm herauskriegen. Rudi Dutschke und die 68er bedeuteten dann neue Perspektiven. Ich hatte in Kreuzberg ein Atelier in einem Laden, da hatte ich die amerikanische Flagge im Schaufenster, mit Totenköpfen statt Sternen. Ich wurde dann zwar festgenommen, aber es ging nicht weiter. Der Botschafter hatte anderes zu tun.
Zog sich dieser gesellschaftspolitische Geist durch Ihre ganze Arbeit?
Den 68er würde ich nie wegdenken können. Da ist schon was übrig geblieben. Ohne das Bewusstwerden damals wäre ich so nicht weitergegangen. Und die 68er haben natürlich etwas mit dem großen Schweigen und Verdrängen nach dem Krieg zu tun! Wir sind ja FÜR etwas auf die Straße gegangen. Aber natürlich habe ich mir später irgendwann auch die Frage gestellt, was denn aus mir geworden wäre, wenn ich in der Haut meines Vaters gesteckt hätte!? Genauso wie ich mich irgendwann fragen musste - wenn wir nicht aus der DDR hätten fliehen müssen, 1955 mit der S-Bahn noch rüber, sondern wenn wir da geblieben wären: Hätte ich, sportlich, der Klassenbeste, nicht vielleicht dort Karriere gemacht? Ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen.
Haben Ihre Eltern Ihren weiteren Weg noch mitbekommen?
Gefreut hat sich vor allem meine Mutter, als ich Assistent an der Hochschule wurde. Die Stolpersteine haben beide nicht mehr erlebt. Jetzt wären sie stolz wie nur was.
Die Stolpersteine sind ja vor allem eine Netzwerkgeschichte. An den meisten Orten gibt es Initiativen, welche die Opfergeschichten recherchieren und die Verlegungen organisieren.
Wenn ich irgendwo Orden annehmen muss, das Bundesverdienstkreuz, kürzlich den Bernhard-Heller-Orden in New York, sage ich immer: Kinder, ich stehe hier ziemlich alleine, aber etliche andere stehen hier mit mir. Was anfangs ein konzeptuelles Kunstwerk war, bekam eine unabsehbare Geschichte, die von den Angehörigen, den Schülern, auch den Widerständen, die es gab, sozusagen weitergeschrieben wurde.
Können Sie und Michael Friedländer, der die Steine in der Berliner Werkstatt fertigt, davon leben?
Wir leben zu fünft davon. Friedländer, die Frau, die die Inschriften macht, zwei Personen für die Terminplanung im In- und Ausland. Zehn Jahre konnten wir den Preis bei 95 Euro halten. Aber Messing ist um hundert Prozent teurer geworden. Jetzt sind wir bei 120 Euro.
Es gibt also ein "Unternehmen Stolpersteine".
Deshalb wollte das Finanzamt Köln mich als Gewerbetreibenden einstufen und mir den Künstlerstatus wegnehmen. Das waren anderthalb Jahre Kampf. Wenn meine Steuerberaterin nicht an die Öffentlichkeit gegangen wäre, bis zur TV-Sendung "monitor", hätten wir das nicht geschafft.
Wie konnte es so weit kommen?
Na ja, das Finanzamt nannte die Stolpersteine "Hinweisschilder aus einem unedlen Metall". Da fasst man sich doch an den Kopf! Die Stolpersteine sind eine soziale Skulptur. Was mit Jugendlichen abläuft, mit den Initiativen, mit den Angehörigen, das gehört alles dazu! Einmal habe ich zwei Steine für zwei Brüder in einem kleinen Ort gemacht. Eine Woche später bekamen wir einen Anruf: Was da drauf steht, ist falsch. Durch die Steine hatten die Dorfbewohner angefangen, miteinander zu reden. Wir mussten die Steine neu machen.
Die Bewegungen, die Sie auslösen, sind Teil des Stolperstein-Kunstwerks. Dazu gehört auch der Gedanke, dass nicht die Familien die Steine bezahlen, sondern freiwillige Sponsoren.
Ja, natürlich. Die Familien haben damals die Fahrt nach Auschwitz selbst bezahlt. Die brauchen nicht mehr zu bezahlen.
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz (Literatur- kritik, Reise-reportagen, Schriftstellergespräche).
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Gunter Demnig, 1947 geboren, wuchs bis 1955 in der DDR (Nauen und Ost-Berlin) auf, von wo aus die Familie nach West-Berlin übersiedelte. Er studierte Kunstpädagogik in Berlin und Kassel bis zum Staatsexamen, sodann Freie Kunst an der Universität Kassel. Demnig arbeitete dort zunächst in der Denkmalsanierung, trat bald als freier Bildhauer und Aktionskünstler mit Projekten auf, die häufig mit Erinnerung und Spurensuchen zu tun hatte: "Duftmarken", "Blutspur Kassel-London", "Ariadne-Faden Kassel-Venedig".
1990 fand seine erste Aktion zur Erinnerung an deportierte Sinti und Roma statt, ab 1993 entwickelte er das "Stolpersteine"-Projekt. Der erste Stolperstein wurde 1997 in Berlin-Kreuzberg noch illegal verlegt. Demnig wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem "Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland am Bande", dem Preis "Botschafter für Demokratie und Toleranz" sowie 2012 mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg und dem Bernard Heller-Preis des "Hebrew Union College" New York.
Bei den Stolperstein-Verlegungen ist auffallend, wie vollständig Demnig "die Bühne" dem Gedenken an die Toten oder auch den angereisten Angehörigen überlässt. Während er die Steine verlegt, wird oft in einem Ritual der Lebenswege der betreffenden Menschen gedacht - und Gunter Demnig zieht sich zuhörend in den Hintergrund zurück.