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Der Salzburger Kulturhistoriker Günther G. Bauer korrigiert liebgewordene Legenden der Mozart-Biographik, befasst sich mit der Geschichte des Spielens und blickt auf seine Zeit als Schauspieler und Regisseur zurück.
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"Wiener Zeitung": Herr Bauer, in Ihrem neuesten Buch beschreiben Sie den Salzburg-Besuch des Ehepaars Mozart im Jahr 1783. Da wollte der Komponist mit einiger Verspätung seinem Vater seine junge Frau Constanze präsentieren.

Günther G. Bauer: So war es geplant. Aber das ist schief gegangen. Leopold Mozart hat seine Schwiegertochter extrem abgelehnt, er hat geschrieben, sie sei eine "Hure" und dergleichen, und Constanze hatte begreiflicherweise keine Lust, diesem bösen alten Schwiegervater um den Hals zu fallen. Auch Mozarts Schwester Maria Anna, genannt "Nannerl", hat sich ungeheuer arrogant gegen ihre Schwägerin benommen. Da gibt es ein sehr interessantes Dokument, nämlich das Tagebuch der Maria Anna Mozart aus dieser Zeit. Das fängt ganz sympathisch an, aber nach fünf Tagen bricht es ab. Danach fehlen drei Wochen, die Blätter sind herausgerissen, und kein Mensch weiß, was sie in dieser Zeit aufgeschrieben hat. Danach lässt sie ihren Bruder und seine Frau sterben, wie man sagt: Sie kommen in dem Tagebuch fast gar nicht mehr vor.
Wie lange haben sich Mozart und Constanze denn in Salzburg aufgehalten?
Drei Monate, ganz genau gesagt 93 Tage.
Aber warum sind sie so lange geblieben, wenn die Umstände derart unerfreulich waren?
Das ist eine gute Frage. Eigentlich wollten die beiden nur vier Wochen in Salzburg bleiben. Sie hatten ja ein kleines Baby in Wien zurückgelassen, und Constanze wäre im Grunde lieber früher als später wieder abgereist. Da aber organisiert der alte Leopold eine Aufführung der c-Moll-Messe seines Sohnes. Das ist das wichtigste Werk, das mit diesem Besuch in Verbindung steht. Ursprünglich soll die Messe im Dom stattfinden, aber dort dürfen Frauen nicht singen. Mozart will aber unbedingt, dass seine Frau die Sopranpartie singt. Deshalb weichen sie auf die St. Peters-Kirche aus, doch der Termin wird mehrmals verschoben. Einen Tag nach der Aufführung der Messe, am 27. Oktober 1783, steigen sie dann sofort in die Kutsche nach Linz, wo Mozart noch seine Linzer Symphonie aufführt, bevor beide wieder Anfang Dezember nach Wien zurückkehren.
Und warum haben Sie dieser Episode ein ganzes Buch gewidmet?
Bei dieser Geschichte habe ich mich in etwas gestürzt, wo sich vorher noch niemand drübergetraut hat. Es gibt zu diesem Aufenthalt keine wirklich guten Dokumente, und ich habe mir den Luxus geleistet, zwei Jahre lang von Archiv zu Archiv zu ziehen und ein Steinchen nach dem anderen zu finden. Ich habe viel neues Material erschlossen, nach dem vor mir noch niemand gesucht hat. Dabei habe ich unter anderem ein sehr interessantes Bild entdeckt, das bisher unbekannt war. Es war im Kloster Michaelbeuern unter einem Christusdruck des 19. Jahrhunderts verborgen, und ist daher farblich sehr gut erhalten. Es ist signiert und datiert und stellt die Familie Mozart dar: Wolfgang Amadeus Mozart und Constanze sind nach den Porträts von Joseph Lange abgebildet, und der kleine Sohn Carl ist nach einem Doppelporträt von Hans Hansen kopiert. Diese Bilder hingen in der Salzburger Wohnung der sechzigjährigen Konstanze, und sie hat auch unser Bild in Auftrag gegeben.

Sind aus der Summe solcher Entdeckungen auch neue Erkenntnisse entstanden?
Ja, ich konnte auf diese Weise zum ersten Mal den Aufenthalt des Ehepaars Mozart in Salzburg detailliert rekonstruieren. Dabei habe ich mir mit einem Trick geholfen: Ich habe mir einen Kalender des Jahres 1783 geben lassen und die Seiten fotokopiert. Daraus habe ich dann ein komplettes Mozarttagebuch entwickelt: Tag für Tag habe ich nachgeschaut, was wir wissen und was nicht. Aus einem Paralleltagebuch habe ich zum Beispiel die Angaben zum Wetter übernommen. Wenn das Wetter schlecht war, ging Mozart mit seiner Frau nicht aus dem Haus. Stattdessen hat er komponiert. In manchen Fällen wissen wir, was er komponiert hat, in anderen Fällen nicht - und so habe ich mich von einem Faktum zum nächsten vorwärts gearbeitet. Was ich allerdings nicht gefunden habe, sind genauere Dokumente zur verzögerten Aufführung der c-Moll-Messe. Die gesamte Mozartforschung sucht danach, und ich dachte, vielleicht hat ein bunter Vogel wie ich Glück, aber ich habe auch nichts gefunden.
Trotzdem haben Sie eine Lücke in der Mozartbiographie geschlossen. Gibt es noch mehrere solcher Lücken?
Ja.
Das ist erstaunlich. Man würde doch annehmen, gerade dieses Komponistenleben sei bis ins Letzte erforscht.
Nein, das ist eben nicht der Fall. Wir stehen auch bei Mozarts Wiener Zeit noch immer vor ungeheuren Rätseln. Natürlich haben wir die Entstehungsdaten der Kompositionen, aber es sind zum Beispiel sehr viele Briefe, die es gegeben haben muss, verloren gegangen. Es ist zum Beispiel kaum denkbar, dass Constanze ihrer Mutter oder ihren Schwestern nicht aus Salzburg öfter geschrieben hat. Aber das ist alles verloren. Es gibt eine ganze Reihe von Monaten in Mozarts Leben, über die wir absolut nichts wissen. Er verschwindet aus dem Blick, als ob es ihn nicht mehr gäbe.
Nun haben wir ja eine Fülle von Biographien, die unterschiedliche Mozartbilder entwerfen. Wie gehen die mit diesen Wissenslücken um?

Die meisten Biographien sind vielfach falsch. Auch die allgemein genutzte Briefausgabe von Wilhelm A. Bauer, Otto Erich Deutsch und Joseph Heinz Eibl enthält viele Fehler: Da wurde schlecht übersetzt, nicht wirklich gut gelesen und vieles missverstanden. Zudem sind seit dieser Ausgabe, die ja schon fast hundert Jahre alt ist, interessante Funde gemacht worden, von denen die Herausgeber damals noch nichts ahnen konnten. Das müsste im Grunde alles neu ediert werden.
Bei all dem geht es ja zunächst nur um Details. Aber manchmal verändern Detailfunde doch die tradierten Vorstellungen. Sie haben 2009 das Buch "Geld, Ruhm und Ehre" veröffentlicht, das dazu beigetragen hat, dass das romantische Klischeebild vom verarmten, unverstandenen Genie ins Wanken kam.
Ja, Mozart war immer reich.
Sind noch mehr solche grundlegenden Korrekturen zu erwarten?
Hoffentlich.
In welche Richtung könnten die gehen?
Das beliebte Thema "Mozart und die Frauen" müsste einmal ganz neu bedacht werden. Vor allem aber muss man zur Kenntnis nehmen, dass höchstwahrscheinlich sehr viele Werke Mozarts verloren gegangen sind. Das wollen die Forscher nicht wahrhaben: Weil sie nichts mehr finden, nehmen sie an, dass es nicht mehr gegeben hat. Aber wir kommen doch immer mehr zu dem Schluss, dass Mozart noch eine Menge weiterer Werke komponiert haben muss, darunter auch durchaus bedeutende. Wir kennen die Skizzen, und in der Regel hat Mozart Werke, die er skizziert hat, auch zu Ende komponiert. Also, kurz gesagt, können wir annehmen, dass sich das Mozartbild in Zukunft noch gewaltig verändern wird.
Es hat sich ja auch in der Vergangenheit schon mehrmals geändert. Wenn man alte Mozart-Aufnahmen, etwa von Bruno Walter oder Wilhelm Furtwängler, mit jenen von Nikolaus Harnoncourt oder Marc Minkowski vergleicht, kann man unmittelbar hören, dass sich die tragische Vorstellung von Mozarts Musik in den letzten Jahrzehnten aufgehellt hat.
Diese Aufhellung, von der Sie sprechen, geht aber einher mit einer Vermenschlichung. Mozart wurde in den letzten Jahrzehnten von seinem Denkmal heruntergeholt und wurde uns wieder als Mensch einsichtig. Daran arbeite auch ich. In diesem Zusammenhang ist natürlich sehr wichtig, über Mozarts Ehefrau Constanze Genaueres zu wissen. Es würde mich sehr reizen, eine sachliche, mit vielen neuen Dokumenten belegte Biographie dieser Frau zu schreiben.
Das Bild der Constanze Mozart ist ja in der Literatur besonders uneinheitlich.
Ja, es gibt eine Anti-Constanze-Fraktion, eine Pro-Fraktion und eine neutrale. Zur neutralen zähle ich mich, aber ich gebe zu, dass ich eine leichte Neigung zum Pro habe.
Wie sind Sie eigentlich zur Mozartforschung gekommen? Sie waren doch ursprünglich Schauspieler und Regisseur . . .
Ja, das war merkwürdig. Ich komme vom Theater und hatte mit Mozart nichts zu tun. Aber ich wurde Rektor des Salzburger Mozarteums, weil manche Musikerkollegen gedacht haben, wir nehmen einen Schauspieler, der nimmt uns keine Konzerte weg und stört uns auch sonst nicht. Weil ich meine Sache offenbar ganz gut gemacht habe, wurde ich noch ein zweites Mal Rektor. Ich war vorher am Burgtheater eine der "rechten Hände" von Ernst Haeussermann, und dort habe ich gelernt, ein großes Haus zu managen. Außerdem hatte ich nach 21 Jahren in Wien gute Verbindungen hierher, das war für Salzburg vorteilhaft. Schon bei meiner Inaugurationsrede habe ich ein Institut für Spielforschung gefordert, das ich dann auch gegründet und geleitet habe. Zunächst habe ich mich nur mit der Kulturgeschichte des Spiels im Allgemeinen beschäftigt.
Was wird denn in diesem Institut erforscht?
Die Kulturgeschichte des Spielens ist ein großes Thema. Wir haben in Salzburg eine Bibliothek von rund 6000 Bänden zu den Themenkreisen Philosophie, Psychologie und Ethnologie des Spiels. Im Unterschied zu anderen Bibliotheken besitzen wir auch die Spiele selbst. Das heißt, man kann sich in aller Breite über alle Aspekte des Themas informieren.
Das Institut ist also nicht auf Mozart konzentriert.
Nein, überhaupt nicht. Es sammelt Material zum Begriff "Spiel" - im Deutschen gibt es leider nur diese eine Bezeichnung. Die Engländer haben fünf verschiedene Worte für "Spiel". Am bekanntesten ist bei uns der Unterschied zwischen "game" und "play". Und die Chinesen gebrauchen sogar zwölf unterschiedliche Wörter. Im Chinesischen gibt es zum Beispiel für das Wort "Kinderspiel", das wir nur mithilfe einer Zusammensetzung ausdrücken können, ein eigenes Wort und ein eigenes Zeichen. Andererseits gehört das "Geige spielen" nicht überall in diesen Zusammenhang. Im Italienischen "spielt" man ein Instrument nicht, man "tönt" es - "suonare". Also, mit solchen Fragen befassen wir uns. Das Institut, das heute von meinem Nachfolger Rainer Buland geleitet wird, geht gut und hat einen Weltruf.
Das Spiel ist ja ein universelles Phänomen.
Es ist auch ein friedensstiftendes Element. Ich weise gerne darauf hin, dass selbst in Kriegszeiten Schachmeisterschaften und andere sportliche Ereignisse durchgeführt wurden. Das sind zwar auch Kämpfe, aber während die Kämpfe im Schützengraben blutige Realität sind, machen die sportlichen Wettkämpfe Spaß und es stirbt niemand dabei.
Mozart war auch ein großer Spieler.
Genau. Deshalb habe ich eines Tages gedacht, eine Universität mit dem Namen Mozarteum sollte die allseits bekannte Spielleidenschaft des Komponisten genauer erforschen. Dass Mozart gern Tarock gespielt hat, steht in jeder Biographie. Im Institut für Spielforschung finden Sie nun zwanzig Bände über die Geschichte des Tarock - welche Arten es gibt, wie sie gespielt werden und so weiter. Auf der Basis dieser Kenntnisse kann man auch Mozarts Liebe zu diesem Kartenspiel in aller kulturgeschichtlichen Breite verstehen. In diesem Sinn habe ich dann weiter geforscht: Was hat er noch gespielt, mit wem hat er gespielt und was hat das alles gekostet? Im Mozartjahr 1991 habe ich erste Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht, 2003 erschien mein Buch "Mozart. Glück, Spiel und Leidenschaft". Mit diesem Thema hat sich vorher niemand genauer beschäftigt. Keiner hat gefragt, wie die "Bölzel", mit denen Mozart so gern geschossen hat, wirklich ausgeschaut haben, und um welche Einsätze da gespielt wurde. Ich habe auch erstmals das "Schützenbuch", das in den Briefen von Mozarts Schwester Nannerl überliefert ist, ausgewertet. Dann bin ich weitergegangen zu der Frage des Geldes, die wir schon angesprochen haben. Diese Vergnügungen haben ja alle etwas gekostet, und da stellte sich die Frage, wo Mozart das viele Geld herhatte und wie er damit umging. So entstand das Buch "Geld, Ruhm und Ehre" - dabei haben mir allerdings 23 Kolleginnen und Kollegen geholfen, sonst hätte ich die aufwändigen Recherchen nicht bewältigen können.

Kann man sagen, dass Sie ein Leben im Schatten Mozarts führen?
Nein, eigentlich nicht. Ich bin 84 Jahre alt und steige demnächst vielleicht auf einen Viertausender. Die Gesundheit, die Bewegung - das sind Aspekte des Lebens, die mich faszinieren. Beim Bergsteigen stellen sich in meinem Alter ja auch Mutfragen: Kannst du das wirklich noch, oder ist das schon purer Leichtsinn? Damit muss ich mich auseinandersetzen, und ich tue das mit großer Neugier.
Die Schauspielkunst vermissen Sie nicht?
Nein.
Wann sind Sie das letzte Mal auf einer Bühne gestanden?
Vor zehn Jahren habe ich das letzte Mal bei einem Film mitgewirkt. Demnächst wird ein Kulturfilm über die Salzburger Barockzwerge gedreht, und da erzähle ich vor der Kamera, was ich darüber weiß. Aber auf der Bühne stehe ich schon lange nicht mehr, und es fehlt mir auch nicht.
Dabei sagt man doch: einmal Schauspieler - immer Schauspieler.
Ich bin meinem Beruf ja treu geblieben. Ich halte in vielen Städten und Ländern Vorträge über meine Forschungen, das ist heutzutage meine Bühne. Ich kenne kein Lampenfieber und habe keine Probleme, frei zu sprechen. Das ist wohl auch auf die Theatererfahrung zurückzuführen.
Welches Mozart-Thema stößt denn beim Publikum auf das größte Interesse?
Nach wie vor wollen die Menschen vor allem wissen, ob er vergiftet wurde oder nicht. Da sehen wir wieder die Macht der alten romantischen Legende: Mozart gilt noch immer als armer, verkannter Künstler, der schließlich sogar von seinem bösen Konkurrenten, also von Antonio Salieri, umgebracht wurde. Gegen solche Unwahrheiten kämpfe ich an, und ich hoffe, dass sie allmählich verschwinden.
Zur Person
Günther G. Bauer, geboren 1928 in Bregenz, arbeitete als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern in Berlin, Frankfurt/M., Göttingen, Graz, Salzburg und vor allem am Wiener Burgtheater. Zwischen 1983 und 1991 war er Professor und Rektor der Universität Mozarteum in Salzburg, wo er das Institut für Spielforschung und Spielpädagogik gründete und zwischen 1991 und 2008 auch leitete.
Günter G. Bauer ist Ehrenmitglied der Universität Mozarteum, der Internationalen Stiftung Mozar-teum und Träger zahlreicher Auszeichnungen und Orden. Er ist Mitherausgeber der zehn Bände "Homo ludens - der spielende Mensch" und Verfasser zahlreicher Publikationen zum Thema Spiel. Seit dem Mozartjahr 1991 beschäftigt er sich intensiv mit den Lebensumständen Wolfgang Amadeus Mozarts: 2003 erschien sein Buch "Mozart - Glück, Spiel und Leidenschaft", 2009 folgte "Geld, Ruhm und Ehre" (beide im K. H. Bock Verlag, Bad Honnef), 2011 "Was Sie schon immer über Mozart wissen wolten" (Residenz Verlag, St. Pölten), und 2012 ist seine Studie "Mozart und Constanze 1783 zu Besuch in Salzburg" im Verlag der Freunde der Salzburger Geschichte erschienen.