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Günther Weidlinger, Österreichs erfolgreichster Langstreckenläufer, verrät einige seiner Trainingsgeheimnisse, erklärt, warum er manchmal bis zum Umfallen läuft - und gibt Tipps für den Wien-Marathon.
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"Wiener Zeitung": Herr Weidlinger, an diesem Sonntag findet der Wien-Marathon statt. Haben Sie als Österreichs bester Langstreckenläufer noch einen letzten heißen Tipp für all jene, die mitlaufen?

Günther Weidlinger: Vor allem: Sich eine konkrete und realistische Zeitvorgabe setzen und dann um eine Spur langsamer anlaufen als der geplante Kilometerschnitt! Gerade bei großen Städtemarathons ist die Gefahr sehr groß, dass man sich am Anfang mitreißen lässt und ein Tempo läuft, das man auf Dauer nicht halten kann. Das rächt sich in der zweiten Hälfte des Rennens ganz grausam. Bei optimaler Renneinteilung ist die zweite Hälfte hingegen etwas schneller als die erste oder zumindest gleich schnell. Fast alle guten Marathon-Zeiten werden so gelaufen. In Wien ist das natürlich schwierig, weil die Strecke gegen Ende zu am Ring ansteigt. Aber auch in Wien gilt: Was zählt, ist die Zeit nach 42 Kilometern - und nicht jene nach den ersten fünf Kilometern.
Sie laufen seit Ihrem neunten Lebensjahr bei Wettkämpfen. Wieso ausgerechnet Laufen? Die meisten Buben wollen Fußballer werden.
Ich habe eh in der Schülerliga gespielt. Da hat der Trainer aber immer gesagt: Schau, dass du den Ball erwischst, spiel ihn aber sofort wieder ab! Der hat schon Recht gehabt: Mit der Kugel am Fuß konnte ich wirklich nichts anfangen. Dafür hat mir das Laufen immer schon getaugt. 1993 habe ich dann begonnen, es leistungsmäßig zu betreiben, und seit 1997 bin ich Heeressportler und damit Profi.
Immer nur laufen - ist Ihnen das nie langweilig geworden?
Nein, gar nicht. Natürlich gibt es Tage, an denen ich nicht so gerne trainiere. Genauso wie Sie wahrscheinlich nicht jeden Tag gerne ins Büro gehen. Aber Laufen ist das, was ich am liebsten tue. Und auch das, was ich am besten kann.
Sie halten von 1500 Meter bis zur Marathondistanz alle österreichischen Rekorde. Bleiben da überhaupt noch Ziele übrig?
Ein Ziel ist nach wie vor, den Marathon unter 2:10 Stunden zu laufen. Und 2014 bei der EM in Zürich will ich ganz vorne mit dabei sein, wenn möglich unter den ersten sechs. Nach meiner Verletzung bei Olympia in London wäre ich auch bei Olympischen Spielen gerne noch einmal dabei. Das wäre dann in Rio 2016.
2016 werden Sie 38 sein. Ende dieses Jahres müssen Sie beim Bundesheer abrüsten, weil man nicht länger als 15 Jahre Heeressportler sein kann. Haben Sie gar keine Angst vor dem Leben nach dem Sport?
Nein. Ich habe Wirtschaftswissenschaften studiert und mache jetzt noch Sportmanagement dazu. Da sehe ich schon Möglichkeiten für mich. Dass ich nicht sofort Unsummen verdienen werde, weiß ich natürlich auch. Aber im Sport gewinnst du auch nicht von einem Tag auf den anderen. Außerdem ist mir Geld nicht so wichtig.
Weil Sie als Läufer gelernt haben, sparsam zu sein? Als Leichtathlet wird man in Österreich ja kaum reich.
Ich beschwere mich nicht. Ich habe das Glück, dass ich von meinem Sport viele Jahre leben, sogar ganz gut leben konnte - und noch immer kann. Jeden Monat die Tausender auf die Seite legen, damit ich nach der Läuferkarriere nichts mehr tun muss, das spielt es in der Leichtathletik allerdings tatsächlich nicht.
Sie werden von Ihrem Vater trainiert. Das ist in Einzeldisziplinen zwar nicht so ungewöhnlich, eine spezielle Situation bleibt es aber trotzdem.
Klar. Es ist auch nicht immer einfach. Auf der anderen Seite hat es sehr viele Vorteile. Mein Vater kennt mich einfach am besten. Er braucht mich nur anzuschauen und weiß, wie es mir geht. Er kann nicht nur meinen Puls, sondern sogar die Laktatwerte beim bloßen Hinschauen ziemlich genau schätzen.
Bis vor wenigen Jahren war mein Vater mit dem Fahrrad bei jedem Training dabei; aber es gab natürlich auch Tage, an denen wir einander angebrüllt haben vor Wut. Jetzt, wo ich nicht mehr daheim wohne, trainiere ich zwar weiter nach seinen Vorgaben, aber meist alleine.
Wie kam es dazu, dass Ihr Vater Sie trainiert? Er ist von der Ausbildung her ja kein Trainer.
Angefangen hat es damit, dass ich mit dem Training im Verein, in dem ich zu Beginn gewesen bin, nicht zufrieden war. Und da hat mein Vater gesagt: Wenn du das Laufen wirklich ernsthaft betreiben willst, dann versuche ich, mir das Wissen anzueignen und dich selbst zu trainieren. Er hat dann sehr viel gelesen, ist zu Vorträgen gegangen, hat sich auch mit sehr guten Athleten und Trainern unterhalten. Er hat es offenbar richtig gemacht. Mein Erfolg gibt ihm Recht.
Außer einem guten Trainingskonzept muss es aber doch noch etwas geben, das Sie stärker macht als andere.
Ich kann mich schon sehr gut quälen. Wenn es sein muss, renne ich, bis ich umfalle, auch im Training. Vor zwei Jahren bin ich beim Marathon in Düsseldorf bei Kilometer 24 kollabiert, da wollte mich mein Vater aus dem Rennen nehmen. Ich bin dann aber zu mir gekommen, habe die Leute um mich weggestoßen und gesagt: Ich muss weiterlaufen! Kurz danach bin ich wieder zusammengebrochen. Aber dazwischen bin ich einen Kilometer in 3:02 Minuten gelaufen - absolutes Renntempo. Auch beim Training ist es schon vorgekommen, dass ich hingefallen bin und kurz weg war. Das ist einerseits gut, dass ich so an die Grenzen gehen kann, andererseits hat meine Frau schon manchmal Angst um mich.
Sie selbst haben keine Angst?
Wovor? Ich weiß ja, dass ich aufstehen und weiterrennen kann. Das gehört zu meinem Leben. Und es ist schon ein gewisser Kick, aus dem Körper wirklich alles rauszuholen, was geht. Ich habe das schon als Kind gehabt. Zum Beispiel beim Skifahren: Bloß nicht stehen bleiben in der Mitte, sondern runter zum Lift und gleich wieder rauf. Weil sonst wird es fad. Oder beim Kicken, ich hab’s zwar nicht können, aber gerannt bin ich für drei.
Die Schmerzen gegen Ende eines Marathons schalten Sie einfach weg?
Wegschalten kann man das nicht. Aber wenn es bei, sagen wir, Kilometer 32 anfängt, weh zu tun, dann kann man sich sagen: noch drei Kilometer bis 35! Und bei 37 gibt es eine Labestation, wo ich mir Wasser über den Kopf schütten kann! Und bei Kilometer 40 steht meine Familie! Das heißt, man läuft nicht den ganzen Marathon auf einmal, sondern in Etappen. Das muss man freilich erst lernen.
Sie kennen von 1500 Meter aufwärts alle gängigen Laufdistanzen. Was ist für Sie der größte Unterschied zwischen kürzeren Wettkämpfen und einem Marathon?
Die Art der Ermüdung. Und natürlich ist das Training ganz anders. Bis zehn Kilometer wird sehr viel im anaeroben Bereich trainiert. Im Marathontraining dann gar nicht mehr. Ich bin sehr froh, dass ich beides mitmachen durfte, weil es doch ganz unterschiedlich ist. Nach einem 1500- Meter-Lauf hatte ich Laktatwerte von 18 bis 20 mmol gehabt. Da hast du dann das Gefühl, als ob du die Füße von einem Elefanten hättest. Sobald die erste Erschöpfung weg ist, willst du dich daher wieder bewegen, damit das Laktat abgebaut wird und dieses Gefühl nachlässt. Nach einem Marathon bist du hingegen froh, wenn du dich hinsetzen darfst, ein Cola oder eine Schokolade bekommst und nichts mehr tun musst. Da kommt die Müdigkeit aus jeder Faser des Körpers. Die kurzen und die ganz langen Distanzen, die haben schon beide etwas ganz Eigenes.
"Ultralauf" hat Sie aber nie gereizt?
Nein. Ich werde das oft gefragt. Aber 50- oder 100-Kilometer-Läufe, das reizt mich gar nicht und ich kann mir nicht vorstellen, dass es mich je reizen wird. Marathon ist etwas anderes, das wollte ich immer schon machen. Das ist schließlich auch ein Mythos. Das hat einen ganz anderen Stellenwert für mich als Ultralauf.
Es gibt im Langstreckentraining zwei Zugänge: den eher deutsch geprägten, bei dem vor allem hohe Wochenumfänge gelaufen werden, diese aber nicht übermäßig schnell, und den angelsächsischen, bei welchem die Umfänge etwas geringer sind, das Tempo dafür aber schärfer. Wohin tendieren Sie?
Schon zum Tempo. Den klassischen langsamen, langen Lauf mache ich gar nicht mehr. Das heißt, ich laufe im Training schon auch Einheiten von 30 oder 35 Kilometer, die aber trotzdem nie viel langsamer als 3:50 Minuten pro Kilometer. Das extra langsame Tempo, das manche für die langen Läufe empfehlen, halte ich für eine Verschwendung von Ressourcen: der Trainingseffekt ist verhältnismäßig gering, dafür bist du umso länger unterwegs und belastest die Gelenke mehr. Aber ich weiß, dass es deutsche Marathonprofis gibt, die zwischendurch auch Einheiten in dem sehr langsamen Tempo von fünf Minuten pro Kilometer laufen. Für mich ist das definitiv nichts.
Der Zugang, dass Tempo im Training wichtig ist, gilt der nur für Profis oder auch für Hobbyläufer?

Absolut für beide. Ich sage Hobbysportlern immer wieder: Wenn ihr schneller werden wollt, müsst ihr zwischendurch auch Tempo trainieren. Immer nur im gleichen Trab die gleiche Runde drehen - davon ist noch keiner schneller geworden. Wer schneller werden will, muss auch Tempowechseltraining machen, Intervalle laufen. Sonst gewöhnt sich der Körper an die Belastung und bleibt auf dem erreichten Level stehen.
Man kann es aber auch übertreiben.
Klar. Vor allem, wenn man zu viele schnelle Einheiten hintereinander läuft und dazwischen keine oder zu wenig Erholung hat. Das passiert Hobbyläufern oft im Urlaub, wenn sie endlich genug Zeit zum Laufen haben. Wer da in den ersten Tagen überzieht, bekommt häufig ein massives Problem. Dann geht auf einmal gar nichts mehr. Und dann hilft nur noch: total das Tempo rausnehmen, erholen und ganz langsam wiederaufbauen.
In Ihrer Karriere gab es immer wieder spektakuläre Stürze und Ausfälle. Zuletzt haben Sie sich bei Olympia in London verletzt und mussten aufgeben. "Bruchpilot" ist noch einer der freundlicheren Ausdrücke, die sie im Zusammenhang damit zu hören bekommen haben. Wie weh tut solche Kritik?
Inzwischen gar nicht mehr. Wenn ich stürze oder ausfalle, schreibt die Presse halt, wo ich überall schon früher ausgefallen bin: 2001 Achillessehne gerissen, 2002 knapp 300 Meter vor dem Ziel gestürzt, 2003 bei der WM im Vorlauf gestürzt, 2007 bei der WM gestürzt. Und wenn ich gewinne, dann schreiben sie eben, was ich sonst noch alles gewonnen habe. 2003 habe ich allerdings schon eine Zeit lang überlegt, aufzuhören. Da waren es aber meine Freunde, die Familie, die gesagt haben: Schau, was du bisher alles erreicht hast! Warum solltest du jetzt aufgeben? Und dann habe ich wieder zwei tolle, erfolgreiche Saisonen gehabt. Man kann schon hinfallen, nur muss man dann halt auch wieder aufstehen.
Sie sagen, Freunde und Familie haben Sie bei Rückschlägen unterstützt. Wie gut kann man das Leben als Profisportler und eine Familie unter einen Hut bringen?
Ich glaube schon, dass mir das gelingt. Sicher auch deshalb, weil meine Frau von Anfang an gewusst hat, worauf sie sich mit mir einlässt, und eben nie klagt: Du gehst schon wieder laufen? Dabei warst du doch gerade erst zwei Wochen auf Trainingslager! Ohne Familie würde mir jedenfalls etwas ganz Wichtiges fehlen. Das habe ich aber auch erst mit der Zeit erkannt. Bis 2009 war ich Single und habe vor allem mein Sportlerleben genossen. Das allein war auf Dauer aber doch zu wenig.
Läufer sind sehr oft Statistik-Freaks. Deshalb müssen diese Fragen sein: Wie viele Kilometer laufen Sie pro Woche? Und wie viele Paar Laufschuhe verbrauchen Sie im Jahr?
Es sind fünfzehn Trainings- und zwei Paar Wettkampfschuhe pro Jahr. Wobei ich immer drei, vier Paar gleichzeitig in Verwendung habe. Das sind dann unterschiedliche Modelle, um den Fuß nicht immer gleich zu belasten. Und der Trainingsumfang beträgt 160 bis 170 Kilometer pro Woche, wobei auch die weniger intensiven Erholungswochen schon mit eingerechnet sind. Die Spitzenwochen liegen bei 220 Kilometer.
Was isst man, um das zu verkraften und gleichzeitig so leicht zu bleiben? Sie wiegen bei 169 cm rund 54 Kilo.
Ich verbrenne durch das Training und auch, weil ich von Natur aus einen eher hohen Grundumsatz habe, sehr viel. Ich habe daher das Luxusproblem, dass ich aufpassen muss, dass ich nicht zu leicht werde, weil ich dann zu stark an Substanz verliere. Dabei esse ich ohnehin Unmengen. Meine Frau sagt immer, dass sie für mich immer die dreifache Portion einrechnet - und selbst das reicht nicht immer.
Grundsätzlich ist die Ernährung sehr kohlehydratlastig, also viele Nudeln, Reis, Kartoffeln, Knödel, auch viel Obst und Gemüse. Wichtig ist auch rotes Fleisch für die Eisenbildung im Blut, und Putenfleisch ist auch gut. Zweimal im Jahr gibt’s einen Schweinsbraten. Das Einzige, wobei ich mich etwas zurückhalten muss, sind Süßigkeiten, vor allem Schokolade. Da könnte ich nach dem Training locker jedes Mal eine ganze Tafel aufessen. Mache ich aber nicht.
Weil Sie dann doch zunehmen würden?
Nein, wahrscheinlich nicht. Aber zu viel Zucker ist schlecht für die Regeneration. Da bin ich dann am nächsten Tag nicht voll leistungsfähig. Deshalb muss ich mich ein bisschen zurückhalten.

Zum Schluss noch eine läuferische Glaubensfrage: Soll man über die Ferse laufen, wie die meisten Hobbyläufer es tun, oder über den Vorfuß und am besten ohne Dämpfung im Schuh, wie es die Befürworter des sogenannten "Natural Running" empfehlen.
Um es noch verwirrender zu machen: am besten über den Mittelfuß. Mit Mittelfuß und Ferse aufzusetzen ist bei langen, langsamen Läufen am besten. Bei kurzen, schnellen Läufen ist es hingegen gut, Vorfuß, also über den Ballen zu laufen.
Marathon wird übrigens grundsätzlich über den Mittelfuß gelaufen. Du kannst einfach nicht 42 Kilometer am Ballen laufen. Das geht auf Dauer schief. Das hat man auch bei Haile Gebrselassie gesehen, der das versuchte und es mit sehr großen Wadenproblemen bezahlt hat. Als ich auf die Marathondistanz gewechselt habe, hat er mir übrigens den Tipp gegeben, unbedingt von Vorfuß auf Mittelfuß umzustellen. Es kommt also auf die Distanz an. Und noch etwas zum Thema Natural Running: Ich halte nicht sehr viel davon, mit völlig ungedämpften Schuhen zu laufen. Ich glaube, dass man eine gewisse Dämpfung braucht, und tausche meine Schuhe gerade deshalb relativ häufig aus.
Piotr Dobrowolski, geboren 1965, war Außenpolitik-Chef bei "Format", Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Frontal" und ist nun als freier Journalist tätig.
Zur Person
Günther Weidlinger, geboren 1978 in Braunau/Inn, ist Österreichs erfolgreichster Mittel- und Langstreckenläufer. Von 1500 Meter bis zur Marathon-Distanz hält der 53-fache Staatsmeister alle österreichischen Rekorde. Den jüngsten Meistertitel hat Weidlinger vor wenigen Wochen im Halbmarathon gewonnen. Auch international kann Weidlinger zahlreiche Erfolge vorweisen, wie etwa den Sieg beim Great Manchester Run 2008 oder beim beim Great Australian Run 2009, wo er den damaligen Marathon-Olympiasieger Samuel Kamau Wanjiru schlug.
2012 war Weidlinger Österreichs einziger Vertreter beim Olympia-Marathon in London, wo er mit einer Verletzung ausschied. Zurzeit bereitet er sich auf die Qualifikation für die Europameisterschaft 2014 in Zürich und die WM 2013 in Moskau vor. Für Zürich hat er sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, möglichst unter die ersten sechs zu kommen. Mit einer persönlichen Marathonbestzeit von 2:10:47 gehört Weidlinger auch europaweit zur Spitze. Der Heeressportler ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Oberösterreich.