Gastkommentar: Im Weißbuch des Kommissionspräsidenten zur Zukunft der EU fehlt ein wichtiges Thema.
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Pünktlich zur Vorbereitung auf den 60. Geburtstag der Europäischen Union am 25. März 2017, aber auch motiviert durch den angekündigten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, legte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jüngst ein "Weißbuch zur Zukunft Europas (nicht: ‚der EU‘!, Anm.) - Reflexionen und Szenarien für die EU-27 bis 2025" vor. Das Papier soll als Diskussionsgrundlage für die kommenden Gipfeltreffen der künftig 27 EU-Mitglieder dienen und die möglichen Optionen für einen Weg vorwärts aufzeigen. Damit legt Juncker die Entscheidung, wie es denn weitergehen soll, in die Hände der 27 Regierungschefs und beschränkt die Rolle der EU-Kommission auf den Vorschlag einiger recht vager Optionen.
Relativ kurz befasst er sich eingangs mit den Triebkräften für Europas Zukunft:
dem weiter fallenden Anteil der EU an der Weltbevölkerung (von 25 Prozent im Jahr 1900 auf nur noch 6 Prozent 2015);
dem ebenfalls fallenden Anteil der EU am Welt-BIP (von 26 Prozent im Jahr 2004 auf 22 Prozent 2015);
dem wichtigen, aber fallenden Anteil des Euro an den Weltwährungen (2015 machte er noch 33 Prozent des IWF-Währungskorbs aus, 2017 sind es nur noch 30 Prozent);
der zunehmenden Militarisierung der Welt, die bei allen wichtigen Ländern zu einer Verdoppelung der Verteidigungsausgaben zwischen 2012 und 2045 führen dürfte;
den gravierenden Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft (hier verweist Juncker vor allem auf die zwar sinkende, aber hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, in der EU, die das Vertrauen in die Lösungsfähigkeit gesellschaftlicher Probleme durch die Marktwirtschaft erschüttert hätte);
der Alterung der Gesellschaft (2030 wird das Medianalter in der EU mit 45 Jahren das höchste der Weltregionen sein);
der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft;
den gravierenden Umwelt- und Klimawandelproblemen, die auch für die EU-Länder eine große Herausforderung darstellen;
und natürlich den Sicherheitsproblemen durch Nachbarkriege und Terrorismus sowie dadurch ausgelöste Migrationswellen.
All diese Herausforderungen stießen auf vermindertes Vertrauen der Bevölkerungen in die Lösungsfähigkeit von nationalen und EU-Behörden - und spielten nationalistischen Kräften in die Hände, warnt Juncker. Er plädiert dafür, die Debatte weg vom binären "mehr oder weniger Europa" zu lenken, und schlägt als Anregung fünf mögliche Szenarien vor, die allerdings nicht strikt voneinander zu trennen seien, sondern in der endgültigen Lösung unterschiedlichste Kombinationen vereinen könnten. Ausgangsannahme ist jedoch (wichtig!), dass die 27 verbleibenden EU-Länder zusammenbleiben werden und gemeinsam die Zukunft meistern wollen.
Szenario 1: Weiter so wie bisher
Das heißt nicht "Nichtstun", sondern die in der Pipeline befindlichen Verfahren weiterzutreiben, also zum Beispiel den europäischen Binnenmarkt weiter zu vervollständigen, Investitionen in die Infrastruktur umzusetzen und damit Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen. Es geht hier primär um schrittweise Fortschritte bei der Vervollständigung des Euro, gemeinsames außenpolitisches Auftreten, Terrorismusbekämpfung und gemeinsames Auftreten auf internationaler Ebene zur Gestaltung der globalen Agenda in Richtung Nachhaltigkeit, Finanzstabilität und Klimawandel.
Szenario 2: Fokussierung auf den Binnenmarkt
Wenn zum Beispiel in den Bereichen Migration, Sicherheit oder Verteidigung keine gemeinsame Linie erreichbar ist, wäre die Konzentration auf die Vertiefung des Binnenmarktes eine Möglichkeit. Das würde auch bedeuten, dass neue Initiativen oder Antworten auf neue Herausforderungen durch bilaterale Abkommen angegangen würden. Die Konzentration auf den Binnenmarkt würde zu einer signifikanten Deregulierung vieler Bereiche führen, dabei entstünde jedoch die Gefahr eines Wettlaufs zum niedrigsten Regulierungsniveau, und Länder würden auch die Freiheit des Personen- und Dienstleistungsverkehrs einschränken. Dies würde aber die Ungleichgewichte in der Eurozone verstärken und den Euro (noch) fragiler machen. Die EU als Machtfaktor in der globalen Diskussion würde verschwinden, da einheitliche Haltungen der Mitgliedstaaten nicht mehr erreichbar wären.
Szenario 3: Für jene, die mehr tun wollen
Die EU würde akzeptieren, dass jene Länder, die in der Integration weitergehen wollen, dies in bestimmten Bereichen tun können. Wie bei der Schengen-Vereinbarungen oder dem Euro könnten Gruppen von Ländern ("Koalitionen der Willigen") vorpreschen. Zum Beispiel im Bereich der Besteuerung (wo derzeit durch das Einstimmigkeitserfordernis Stillstand herrscht), bei Sozialstandards oder im Bereich der Sicherheitsorgane. Das Problem bei diesem Szenario wäre, dass in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Beteiligung herrscht, dass die Transparenz und Rechenschaftspflichten unübersichtlich würden. Der Vorteil wäre, dass der Druck einzelner Länder, die nicht mitmachen wollen, aus der EU auszutreten, geringer würde.
Szenario 4: Weniger, aber effizienter
Die EU würde in ausgewählten Bereichen mehr (gemeinsam) tun und sich dafür aus anderen zurückziehen. Dies könnte eine der Schwachstellen der EU beseitigen, die bisher von Jahr zu Jahr mehr Bereiche regeln will und damit ihre Ressourcen überspannt - und den Widerwillen vieler EU-Bürger hervorruft. Das Problem liegt natürlich in der Auswahl der Prioritäten, die von allen mitgetragen werden müssten. Juncker schlägt beispielhaft Innovation, Handel, Sicherheit, Migration und Grenzmanagement vor. Der Vorteil wäre, dass eine solche Priorisierung die immer größere Lücke zwischen Versprechungen, Erwartungen und Implementierung schließen könnte. Eine klarere Abgrenzung, was auf EU-Ebene, was auf nationaler und was auf regionaler Ebene geregelt wird, wäre möglich. Faktum ist, dass die bisherigen Erfahrungen den Konsens über neue beziehungsweise andere Prioritäten nur sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen.
Szenario 5: Viel mehr gemeinsam machen
Im Gegensatz zu Szenario 4 würde dies für alle Bereiche gelten. Juncker setzt hier voraus, dass alle Schritte, die die Eurozone funktionsfähiger machen, auch als vorteilhaft für die Nicht-Euro-Länder akzeptiert werden. Dies würde eine starke inhaltliche Aufwertung der Eurozone bedeuten. Auf internationaler Ebene würde die EU in allen Gremien mit einem Sitz und einer Stimme auftreten (etwa im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbank, im UN-Sicherheitsrat) und damit ihr volles Gewicht zur Geltung bringen. EU-Entscheidungen würden in diesen Fällen rascher und effizienter erfolgen. Das Problem dabei wäre, dass viel Bürger das Gefühl hätten, die EU-Ebene hätte sich allzu viel Macht über ihre Leben arrogiert.
Notwendig wäre eine Neuausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik
Juncker wünscht sich bis zum Herbst, wenn er seine "State of the Union 2017"-Ansprache hält, eine breite Diskussion, um dann Annäherungen bei den Optionen als Linie verkünden zu können. In der Zwischenzeit wird die EU-Kommission Diskussionspapiere zur sozialen Dimension, zur Vertiefung der Währungsunion, zur Einhegung der Globalisierung, zur Zukunft der europäischen Verteidigung und zur Zukunft der EU-Finanzen (wichtig, wenn die britischen Beiträge wegfallen) vorlegen.
Es ist richtig und wichtig, dass der EU-Kommissionspräsident in diesen unsicheren und unruhigen Zeiten (geprägt von Kriegen, Terrorismus, Wirtschaftskrise, Brexit und US-Präsident Donald Trump) optimistische Töne anschlägt und darauf hinweist, dass die EU in den vergangenen 60 Jahren mit Krisen umgehen konnte. Nur wirken die gewählten Szenarien sehr plakativ (und wenig ausgearbeitet). Als Ausgangspunkt einer strukturierten Diskussion mögen sie geeignet sein, letztlich sind sie aber doch sehr der bestehenden EU verhaftet. Ihre Vagheit mag daraus resultieren, dass sie den Reflex, den die Visegrad-Staaten bereits gezeigt haben, indem sie das von Juncker implizit präferierte Szenario 3 bereits lautstark abgelehnt haben, verhindern und eine offene Diskussion ermöglichen sollen. Die Regierungschefs der vier größten EU-Länder haben sich auch schon voreilig für Szenario 3 ausgesprochen.
Am erstaunlichsten aber ist, dass im gesamten Paper kein Wort über eine notwendige Neuausrichtung der EU-Politik, vor allem der EU-Wirtschaftspolitik gesagt wird. Ein Großteil des Vertrauensverlustes in die EU und die nationalen Behörden geht doch auf die vollkommen verfehlte Krisenbekämpfung zurück. Die Wirtschaftskraft in der EU hat eben erst das Vorkrisenniveau (von 2007) wieder erreicht, während andere, pragmatischere und weniger auf Budgetdisziplin und Schuldenabbau fokussierte Staaten bereits 10 oder sogar 15 Prozent mehr produzieren - mit entsprechend niedrigeren Arbeitslosenzahlen. Das Beharren der EU-Länder und der Kommission auf Austerität in der Krise hat Investitionen in den Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftsbereich reduziert, die Einkommensverteilungen verschlechtert und das Armutsrisiko in allen EU-Ländern (auch in den reichen) massiv steigen lassen.
Solange nicht eine echte Evaluierung dieser Politik zur Einsicht führt, dass die Priorisierung eines einzigen (Zwischen-)Ziels, nämlich der Schrumpfung der nationalen öffentlichen Haushaltssalden Gesellschaft und Wirtschaft schädigt, ist ein Nachdenken über neue Verfahren sinnlos. Eine Richtungsdiskussion über die EU-Budgetmittel, über die Außen- und Sicherheitspolitik und über die fehlende Sozialunion bleibt ebenfalls aus. Es geht um die Inhalte der Politik, erst in zweiter Linie um die Prozesse. Und wenn schon diese von Juncker hauptsächlich angesprochen werden, fragt man sich, wo denn die stärkere Einbindung der Bevölkerungen in EU-Entscheidungen und deren Vorbereitungen bleibt.