Zum Hauptinhalt springen

Gut sortierte Weltgeschichte

Von Wolfgang Häusler

Reflexionen

Der "Kulturfahrplan" war ein nützliches Nachschlagewerk. Heute ist das Buch nicht mehr im Handel. Eine Erinnerung an das epochale Werk und an seinen Verfasser Werner Stein, der vor 100 Jahren geboren wurde.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In unsere Epoche der (angeblich) immer und überall verfügbaren Information ragen erratische Blöcke - Werke, die wie die klassischen Konversationslexika von Brockhaus und Meyer mit den Namen der großen Verleger des 19. Jahrhunderts identifiziert werden.

Auch Werner Steins Kulturfahrplan gehört zu jenen enzyklopädischen Auslaufmodellen, die man einst als Thesaurus wertschätzte. Digital natives haben all das längst hinter sich gelassen, und die Bibliothekare sind eifrig dabei, die alten Standardwerke in ihre Magazine, als in die "Archive des Schweigens" (Gerhard Roth), zu ,removieren‘.

Ein viel benutztes Büchlein war der "Kleine Kulturfahrplan. Die wichtigsten Daten der Kulturgeschichte". Er gerät zur rechten Zeit in meine Hand, erschienen im zerstörten Berlin, in meinem Geburtsjahr 1946. Band 1: 1749-1900, 133 Seiten dünn, auf gebräuntem Nachkriegspapier, die Bindung aus verrosteten Klammern zerfallend; Einbandzeichnung und Symbolkopfleisten von Gerhard Kreische wurden zum Markenzeichen dieser Chronologie des gleichzeitig Ungleichzeitigen.

In Goethes Nachfolge

Bedarf war da: Mein Exemplar zählt zum 12.-21. Tausend. Der zweite (!), den vorhergehenden Zeitraum 1492-1749 umfassende Band folgte 1947. Der Autor widmete sein Werk "in Dankbarkeit" seinem Vater Erwin Stein (1888- 1966) - der Vorname klingt offenkundig an Erwin von Steinbach, den von Goethe gefeierten Baumeister des Straßburger Münsters an, ein Bekenntnis ebenso wie die gewählte Zäsur 1749. Nur dem "dt. Dichter und Denker" Goethe wurde ebenso wie Schiller - und Napoleon! - die Anerkennung zuteil, mit Tag und Monat der Lebensdaten genannt zu werden.

Als "Gebrauchsanweisung" für den Kulturfahrplan, der mit jeder Auflage an Umfang und Inhalt anschwoll, wählte Stein 1968 das Goethe-Wort: "Wer nicht von dreitausend Jahren / sich weiß Rechenschaft zu geben, / bleibt im Dunklen unerfahren, / mag von Tag zu Tage leben."

In der zuletzt von ihm betreuten Ausgabe (1990) erinnerte sich der Berliner: "Als ich im Januar 1946 als ein aus der russischen Kriegsgefangenschaft wegen Arbeitsunfähigkeit entlassener, selbsternannter ,Chronist‘ bei Stromsperre und Kerzenlicht auf einer ausgedienten Schreibmaschine ,1749‘ als Geburtsjahr Goethes zu Papier brachte, ahnte ich nicht, welches Wechselbad von Befürchtungen und Hoffnungen mir bevorstand, wenn ich das Notierte bedachte." Schon 1987 hatte er erkannt: "Die elektronische Generation trennen Welten von ihren Vorfahren (der elektronische Computer wurde 1946, der Transistor 1948 erfunden). Erkennbar sind die letzten 40 Jahre als ein tiefer Einschnitt, wie es ihn seit der neolithischen Revolution nicht geben konnte."

Die Ausgabe in Steins Todesjahr 1993 umfasste 1980 Seiten, 52.000 Stichworte, über 100.000 Fundstellen. Lizenzausgaben führten den Titel "Fahrplan der Weltgeschichte". Die letzte Druckfassung erschien 2004: "Der neue Kulturfahrplan. Die wichtigsten Daten der Weltgeschichte" (2124 Seiten, 2197 Gramm schwer). Gegenwärtig teilt der Verlag mit, dass das Werk "momentan nicht lieferbar" sei; der angekündigte Nachdruck ist ausgeblieben. Heute ist der Stein nur als "elektronische Ressource" verfügbar (United Soft Media, München).

Forscher und Politiker

1946 wurde Dr. Stein Assistent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, seit 1949/50 an der Freien Universität; nach seiner Habilitation gründete er das Institut für Biophysik. Durch fünf Legislaturperioden (1955/75) gehörte er für die SPD dem Berliner Abgeordnetenhaus an. 1964 schlug ihn der fast auf den Tag gleich alte Regierende Bürgermeister Willy Brandt zum Senator für Wissenschaft und Kunst vor. In dieser Funktion prägte Stein das neue Berliner Hochschulgesetz mit der Mitbestimmung von Studenten und Assistenten. 1972 berichtete "Der Spiegel" über das Dilemma dieser Reform im Zeichen von 1968: "In Berlin, am Geburtsort der Studentenbewegung, weit häufiger und beharrlicher als seine Kultus-Kollegen im Westen von radikalen Studenten attackiert, die an echten Reformen nicht interessiert sind (Stein), und angefeindet von konservativen Professoren, die eine Reformpolitik nicht minder gefährden, suchte der umstrittene Senator" nach einem Kompromiss unter dem Motto "Der Elfenbeinturm darf nicht nur rot angestrichen werden." Nebenbei: Hans Magnus Enzensbergers Kursbuch (1965 ff.) war für die Orientierung der Neuen Linken maßgebend.

Erde und Menschheit

Es ging Stein um die Synthese von Geistes- und Naturwissenschaft - der "Kulturfahrplan" umfasste nun auch "Erdgeschichte", beginnend mit dem "Urknall" und "Menschheitsgeschichte": "Vom Faustkeil bis zur Mondlandung" (1974). Stein versuchte, aufgrund des "schlichten Zusammenstellens einzelner Daten", aus dem "abenteuerlichen Muster sich verschlingender und entwirrender Entwicklungslinien, die alle im Heute münden", das "Ergebnis einer Evolution (...) in dieser dynamischen Welt" zu verstehen, in der Hoffnung, dass "Albert Einsteins Alternative Eine Welt - oder keine Welt nicht negativ entschieden wird" (1981).

Sammeln und Speichern von historischem Wissen als Voraussetzung von Bildung hat lange Tradition. Der Vormärzliberale Dr. Georg Weber (1808-1888), Professor und Schuldirektor in Heidelberg, verfasste mit seinem "Lehrbuch der Weltgeschichte" (1846 ff.) ein Vademecum für "Zöglinge der Gelehrtenschulen" wie für die "Höhern Bürgerschulen", aus dem eine 15-bändige "Weltgeschichte für die gebildeten Stände" erwuchs, fortgeführt im faktenschweren "Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte", das Alfred Baldamus im wilhelminischen Deutschen Reich verfasste und das noch in der Weimarer Republik bearbeitet wurde, ohne allerdings dem demokratischen Wandel Rechnung zu tragen.

Der Berliner Dr. Karl Ploetz (1819-1881) wirkte als Professor für Französisch und Geschichte am Französischen Gymnasium. Der Ur-Ploetz erschien 1855 als zweisprachiges Heft in F. A. Herbigs Verlag (wie später der Stein, damals unter der Leitung von Walter Kahnert). Der Auszug aus der alten, mittleren und neueren Geschichte als Leitfaden und zu Repetitorien wurde seit 1863 zum unentbehrlichen Hilfsbuch, zumal der Sohn des Verfassers unter dem Namen Ploetz einen Verlag gründete.

Die schier unzähligen kleinen, mittleren und großen Ausgaben bis heute (1972/95 bei Herder, seit 1995 Vandenhoeck & Ruprecht) gehören zum Standardrüstzeug. Hans Dollingers illustrierter "Ploetz. Weltgeschichte auf einen Blick" (1988) konkurrierte deutlich mit dem Stein.

Die weitere Entwicklung verlief parallel zum "dtv-Atlas zur Weltgeschichte" und dem Putzger. Auf dem 47. Deutschen Historikertag in Dresden 1908 protzte der Ploetz mit gezählten 2128 Seiten und gewogenen, wahrlich nicht zu leicht befundenen 2805 Gramm. Der Verlag rühmte sich der Mitarbeit von "Großhistorikern" ebenso wie junger Wissenschafter - dies rückt Steins individuelle Leistung erst ins rechte Licht. Imanuel Geiss’ "Geschichte griffbereit" und des Wiener Buchhändlers Walter Kleindel (+1989) "Österreich. Zahlen, Daten, Fakten" seien als ebenbürtig genannt.

"Schlag nach!"

In der NS-Zeit, 1938/39, brachte das renommierte Bibliographische Institut in Leipzig ein Buch mit dem imperativischen Titel "Schlag nach!" heraus - dominiert vom Kapitel über "Das deutsche Volk" (übrigens heute unentbehrlich für Auskünfte über die Staats-, Partei- und Wehrmachtsgliederungen des Dritten Reichs). Die Zweitauflage lieferte einen programmatischen Kriegsnachtrag; die Zeittafel der germanisch-deutschen Geschichte, Schlachten des Weltkriegs und der Weltgeschichte beherrschen das Geschichtsbild, auch die Gedenktage sind nationalsozialistisch eingefärbt wie das ganze, braun gebundene Buch. Nur formal, nicht inhaltlich sollte Stein an die Tabellen zur politischen Geschichte anknüpfen.

Gewiss darf man über die altmodische Titelgebung "Kulturfahrplan" lächeln. Die Sache wird aber ernst, wenn man den rapiden Abbau schriftlicher Zuverlässigkeit beobachtet: Bemerken die Fahrgäste des öffentlichen Verkehrs noch, dass das Kursbuch der ÖBB, ohnehin dünn geworden, zum letzten Mal 2012 erschienen ist? In München, wo man die praktischen, bis Dezember 2013 gültigen Fahrplanblätter der DB "aus Umweltgründen" rigoros entfernt hat, muss man sich um jede Auskunft beim sogenannten Informationsschalter anstellen, um sich herablassend sagen zu lassen, man möge sich doch "die App downloaden".

Gleichermaßen beklage ich das Abkommen gedruckter Vorlesungsverzeichnisse und die Entfernung von älteren Bibliothekskatalogen und Nachschlagewerken aus dem Leserbereich als Kulturverlust. Nein, Surfen, Scrollen und Wischen, im Internet und am Tablet oder Smartphone, ersetzen nicht das "Blättern" im Buch, wozu Stein immer wieder ermuntert hat.

Die Würde des Buchs

Das Wort "Nachschlagewerk" ist als Eindeutschung von "Lexikon" allgemein geläufig. Angesichts der Bedrohung der Gutenberg-Galaxis (Marshall McLuhan, 1962) durch die Neuen Medien und Info- und Edutainment aller Art muss über den Ursprung dieses Wortes nachgedacht werden. Erst jüngst wurde mir "Aufschlagen" in der Stiftsbibliothek von Kremsmünster ad oculos demonstriert. Die resolute Führerin griff sich einen Schweinslederfolianten mit Schließen aus dem Regal und presste den Buchblock zum Öffnen mit einem kräftigen Faustschlag auf den Deckel zusammen. In der liturgischen Leseordnung der Evangelien, im feierlichen Hochamt mit Weihrauch und Leuchtern, hat sich im Aufschlagen des Buches noch ein Rest jener Ehrfurcht erhalten, die das Judentum in der Lesung der Thora, der Gegenwart des göttlichen Gesetzes und Bundes in der Gemeinde, durch die Zeiten trägt.

Auch die Rezitation des Koran, die Reinheit und Verehrung vorschreibt, zeugt von diesem Respekt vor dem Text als Offenbarung Allahs. Die Vorstellung des Buches des Gerichts am Jüngsten Tag ist Islam und Christentum gemeinsam: " . . . und ein Buch wird aufgeschlagen . . ." (Dies irae im Requiem, Thomas von Celano), schließlich die Vision des Buches mit den sieben Siegeln der Apokalypse: "und der Himmel wich zurück wie ein Buch, das man zusammenrollt" (6, 14).

Die wirkungsmächtige Realpräsenz des Buches leuchtet auf im Auftreten Jesu in der heimatlichen Synagoge von Nazareth. In Luthers ursprünglicher Übersetzung erscheint die Rolle als Urform des Buches: "Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaias gereicht. Vnd da er das Buch rumb warff, fand er den Ort, da geschrieben stehet: Der Geist des HERRN ist bey mir." Es folgt die Frohe Botschaft an die Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen, "das sie frey vnd ledig sein sollen" (Lukas 4, zitiert Jes. 61).

Das "Tolle lege! - Nimm und lies!", wie es Augustinus und Luther in geistiger Krise und reformatorischer Wende vernahmen (Römerbrief 13, 13-14 bzw. 1, 17), ebenso die als erste Offenbarung geltende 96. Sura - "Ikra - Lies im Namen deines Herrn!" - als Botschaft der "Schreibfeder", bestätigen die Unentbehrlichkeit des Buches, das diesen Anruf durch das gesprochene und geschriebene Wort nicht verstummen lässt.

Wolfgang Häusler, geboren 1946, war bis 2003 als ordentlicher Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien tätig.