Der deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über Willensfreiheit und Schuldfähigkeit des Menschen.
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Lech/Wien. Der deutsche Rechtsphilosoph Reinhard Merkel referierte unlängst beim Philosophicum Lech über "Willensfreiheit - Schuld - Strafe: Grundlagen und Grenze". Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" fasste er diese Thematik kurz zusammen.
"Wiener Zeitung": Es gibt viele Diskussionen, wie frei der Mensch in seinen Entscheidungen wirklich ist. Welchen Einfluss hat das auf das Strafrecht?Reinhard Merkel: Diese Diskussionen haben schon einen gewissen Einfluss. Sie sprechen an, was in den letzten 15 Jahren auch öffentlich besonders wahrgenommen worden ist: die Abhängigkeit dessen, was wir Willen nennen - oder sagen wir es deutlicher: der Handlungsentschlüsse -, von der biophysiologischen Grundlage des Gehirns. Das Problem liegt auf der Hand: Wenn alle mentalen Zustände abhängig sind vom Gehirn, dann sind sie abhängig von einem physikalischen System. Und physikalische Systeme funktionieren nach Regeln, die wir nicht beeinflussen können.
Funktionieren alle Gehirne gleich?
Sie funktionieren nach den gleichen physikalischen Prinzipien, aber sie produzieren ganz unterschiedliche mentale Zustände. Das heißt aber nicht, dass irgendeines von ihnen den Naturgesetzen entkommen könnte. Man muss nur dazusagen: Wir verstehen noch ungeheuer wenig davon. Ich habe kürzlich beim Vortrag eines Neurowissenschafters in Berlin gehört, dass die Gesamtzahl der möglichen Zustände eines menschlichen Gehirns die Gesamtzahl aller Atome im ganzen Universum übertrifft. Und dann hat man eine Idee, was das heißt, und sieht, warum wir nicht verstehen, wie Bewusstsein möglich ist und deshalb auch nicht das Willensfreiheitsproblem. Für die Zuschreibung von Schuld und vor allem für das Verhängen von Strafe brauchen wir aber eine hinreichende Sicherheit. Der geläufige Begriff von Willensfreiheit, der ausreichen soll für Schuld, besagt, dass jemand statt der verbotenen bösen Handlung auch anders hätte handeln können. Ich bin da skeptisch: Wer handelt, kann im Moment seines Ansetzens dazu nicht anders handeln, sei diese Handlung nun gut oder böse.
Was bedeutet das für das Strafrecht? Kann einer argumentieren: Ich habe diesen Mord gar nicht gewollt, es ist über mich gekommen?
Nein, so einfach ist das nicht. Das "Wollen" ist selten zweifelhaft. Er mag die Tat ja lange vorbereitet haben, etwa als Attentäter, der nach monatelanger Planung einen Staatschef tötet. Er hat die Tat gewollt, er hat sie geplant. Aber er konnte eben nicht anders wollen.
Es gibt Milliarden Leute, die kein Attentat begehen. Warum konnte der eine nicht anders und die anderen konnten anders?
Jeder handelt, wie sein Gehirn ihn handeln lässt. Was Descartes einst gesagt hat - der Wille ist unabhängig vom Gehirn, der Geist könne das Gehirn beeinflussen und steuern -, dieser starke Dualismus, ist heute eine hoffnungslose Position. Der Geist entsteht aus dem Gehirn. Wäre der Geist unabhängig vom Gehirn, könnte er in der physikalischen Welt keine Wirkungen haben. Diese Situation macht das Willensfreiheitsproblem zu einem Ewigkeitsthema der Menschheit. Ich glaube nicht, dass die Neurowissenschafter uns das Problem lösen, sie sind gar nicht zuständig dafür. Das ist ein genuin philosophisches Problem. Und wir haben keine befriedigende Lösung.
Solange es keine befriedigende Lösung gibt, gibt es trotzdem ein Strafrecht, und wir müssen, wenn jemand eine Straftat setzt...
...seine Schuldfähigkeit bestimmen - richtig! Ich sage, wir können trotzdem unterscheiden. Es ist etwas anderes, ob ein hochgradig Geisteskranker eine Tat begeht oder jemand wie Sie und ich. Die Perspektive von Wissenschaft und Philosophie ist die Perspektive einer dritten Person. Wenn ich jetzt die Perspektive des Handelnden selber einnehme, ist das anders. Nehmen wir an, ich gehe zum Bäcker, weil ich Hunger habe, und habe gerade noch zwei Euro in der Tasche. Dafür kriege ich gerade ein Stück Kuchen. Und unterwegs sehe ich schon von Weitem einen Bettler, der vor sich ein Schild hat: Ich habe Hunger. Als ethisch halbwegs geschulter Mensch sage ich mir: Eigentlich müsste ich ihm etwas geben. Andererseits würde ich mir gerne den Kuchen kaufen. Wenn ich mir dann, 20 Meter von ihm entfernt, sage, ich weiß noch nicht, was ich tun werde, dann stimmt das. Es ist für mich als Handelnden völlig offen. Rückschauend kann ein Determinist sagen: Selbstverständlich war das determiniert. Das widerspricht sich nicht. Jede Perspektive hat ihr eigenes Recht. Die offene Perspektive des Handelnden ist das, was unsere erlebte Freiheit ausmacht.
Und unsere Schuldfähigkeit?
Immanuel Kant hat gesagt: Individuell kann man nicht anders handeln als unter der Idee der eigenen Freiheit. Deshalb darf man behandelt werden, als wäre man objektiv frei. Das stimmt aber nicht. In Deutschland hat einmal ein Epileptiker einen schweren Autounfall verursacht und vor Gericht gesagt: Ich habe das Opfer gesehen, bin auf die Bremse gestiegen, die Bremse hat versagt. Seine Frau sagte aus: Er hatte einen epileptischen Anfall. Der Richter wusste: Die Frau sagt die Wahrheit. Dem Mann aber war sein Zustand nicht bewusst. Er wurde zwar verurteilt wegen fahrlässiger Körperverletzung, aber nicht, weil er nicht gebremst hat, sondern weil er als Epileptiker losgefahren ist, das Risiko kennend. Aber auch sein Ins-Auto-Steigen war ja vermutlich determiniert.
Ich konstruiere einen Schuldbegriff, der trotzdem Verantwortlichkeit begründen soll. Es bleibt aber ein letzter dunkler Rest an Legitimationsdefizit. Wir decken diesen Rest seit eh und je damit, dass wir sagen: Wir müssen die gebrochenen Normen verteidigen. Und das können wir nur, wenn wir die Leute, falls sie hinreichend normal sind, bestrafen. Der bedeutende Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat gesagt: Ein guter Strafrichter kann nur jemand sein, der es mit einem schlechten Gewissen ist. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir Menschen bestrafen für etwas, wofür sie im Sinn einer Letztverantwortung vielleicht nichts können.
Wer darf entscheiden, was strafrechtlich verfolgt wird?
Formell nur demokratisch legitimierte Instanzen der Normgebung. Bei uns die Parlamente oder auf unteren Ebenen bestimmte Länderparlamente oder Stadträte. Der Normgeber muss immer durch die ganze Gemeinschaft demokratisch legitimiert sein.
Jetzt beginnt die schwierige Frage: Was darf er mit Strafe bedrohen? Niemand bezweifelt, dass Mord, Totschlag, Raub, Diebstahl, Vergewaltigung, Urkundenfälschung legitimerweise verboten und mit Strafe bedroht sind. Aber wo ziehen Sie die Grenze? Wir haben abstrakte Kriterien dafür, aber die liefern keine konkreten Ergebnisse für so umstrittene Bereiche wie Assistierter Suizid, Sterbehilfe, Kinderpornografie.
Moralnormen wollen gutes Handeln gewährleisten und dafür Maßstäbe bereitstellen. Das Recht will nicht gutes Handeln, sondern die größtmögliche gleiche individuelle Freiheit für alle sichern und schützen. Da ist es egal, aus welcher Gesinnung jemand handelt. Erst dann, wenn er die Norm bricht und übergreift in die geschützte Freiheit der anderen, darf er mit Strafe belegt werden.
Reinhard Merkel
geboren 1950, ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates.