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Gutgepflegte Realitätsverweigerung

Von Ernest G. Pichlbauer

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Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.

In der westlichen Welt werden die Gesundheitssysteme reformiert, weil alle glauben, es ist wichtig - nur Österreich ist anderer Meinung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ruhig ist es geworden um die Gesundheitsreform. Aber soviel scheint sicher: alle kriegen mehr Geld, die Länder behalten ihre Krankenhäuser und die Kassen werden allesamt erhalten bleiben.

1976 präsentierte die Weltgesundheitsorganisation WHO das sogenannte Primärversorgungsmodell. Darin wurde festgehalten, dass die Versorgung so dezentral wie möglich (!) sein soll. Wohnortnähe wurden als Merkmal guter Qualität erkannt. Dabei wurde jedoch nicht an die wohnortnahe Nierentransplantation gedacht, sondern daran, dass dezentral möglichst alle Gesundheitsdienstleister - von Ärzten über Pflegeberufe, Hebammen, Ernährungsberater und Sozialarbeiter - koordiniert daran arbeiten sollten, Prävention, Rehabilitation, Pflege und Kuration, also das gesamte Spektrum der Gesundheitsversorgung möglichst nahe an die Bevölkerung heranzutragen.

Fast überall begann man diese Idee umzusetzen. Hausarztmodelle wurden etabliert und Gesundheitszentren errichtet, in denen interprofessionell gearbeitet wird. Alleinstehende Gesundheitsdienstleister wurden entweder abgeschafft oder dezentral vernetzt und die Systeme so ausgerichtet, die Bevölkerung entweder gesund zu halten oder so schnell wie möglich wieder gesund zu machen. In einigen Ländern ist das besser, in anderen schlechter gelungen. Aber nirgendwo wird mehr an der Richtigkeit der Idee gezweifelt.

Wir machen es bis heute anders, weil wir der festen Überzeugung sind, dass alleinstehende Arztpraxen, die sich auf die kurative Medizin konzentrieren, ein besserer Weg sind (die Pflege wurde sicherheitshalber 1978 aus dem Gesundheitssystem ausgegliedert!).

Spätestens seit den 1980ern, als große Probleme mit multiresistenten Krankheitserregern auftraten, war klar, Spitäler sind ansteckend und machen krank. Um die Infektionsgefahr zu dämmen, begann man weniger traumatische Operationstechniken zu entwickeln (Knopflochchirurgie). Man begann die Aufenthaltsdauer zu reduzieren und setzte immer stärker auf ambulante oder tagesklinische Versorgung. In Holland hat man die Spitalshäufigkeit so weit reduziert, dass Patienten, wenn man sie schon aufnehmen muss, in Einzelzimmern liegen. Seit den 1990er Jahren kommt ein anderes Phänomen hinzu. Sehr alte Patienten werden durch einen Spitalsaufenthalt leicht aus der Bahn geworfen. Nach der Entlassung sind sie oft verwirrt und werden rasant zu Pflegefällen.

All das war Grund genug, dass europaweit die Spitalshäufigkeit in den letzen 15 Jahren trotz demographischer Veränderung entweder reduziert oder zumindest stabilisiert wurde.

Anders hierzulande. Bei uns wird behauptet, Spitalsversorgung sei Spitzenmedizin. Und quasi als Zeichen der weltbesten Versorgung haben wir Europas höchste und weiter steigende Spitalshäufigkeit.

2008 hat die WHO den neuen EU-Mitgliedsländern, die ihre Systeme neu aufstellen mussten, erklärt: Je zersplitterter die Finanzierung ist, desto teurer und schlechter wird ein Gesundheitssystem funktionieren.

Was macht das schon aus, dass unser System als Paradebeispiel für Zersplitterung gilt. An zwei Dingen ist nicht zu rütteln: an der Macht der Länder und der Hoheit der Selbstverwaltung.

Die Selbstsicherheit, mit der behauptet wird, was in der Welt passiert, gilt nicht für Österreich, ist frappant; keine Diskussion soll zweifeln lassen, dass wir die Besten sind - und dass die Anderen Reformen durchführen, beweist das doch nur!