Der israelische Linguist Guy Deutscher warnt davor, die Macht der Kultur zu unterschätzen: Er ist der Ansicht, dass Sprechgewohnheiten geistige Gewohnheiten hervorrufen.
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"Wiener Zeitung": Herr Deutscher, in Comics findet man oft lautmalerische Wortschöpfungen. Ein schönes Beispiel dafür ist Donald Duck: Da gibt es eine Szene, in der Donald selig auf der Couch schlummert und seltsame Laute von sich gibt: "Sass! Zack! Schnorch! Schnarch! Gazong!" Seine Neffen Tick, Trick und Track kommentieren das mit den treffenden Worten "Reines Hochdeutsch ist das nicht." Verrät uns der Klang tatsächlich etwas über eine Sprache?
Guy Deutscher: Der Klang einer Sprache sagt meiner Meinung nach nicht viel über die Kultur eines Landes aus. Wenn überhaupt, verlaufen die Assoziationen, die es zwischen dem Klang einer Sprache und den Charaktereigenschaften eines Volkes gibt, genau in die umgekehrte Richtung. Wir projizieren unsere bereits vorhandenen Gefühle und Vorurteile über bestimmte Leute auf den Klang ihrer Sprache.
Wenn Ausländer den Klang der deutschen Sprache oft zunächst als unangenehm empfinden, hängt das also vor allem mit dem Image der Deutschen zusammen?
Bei vielen Menschen- natürlich in Israel, wo ich aufgewachsen bin, aber auch in England - kann der Klang des Deutschen noch immer Entsetzen auslösen, was sicherlich nicht überraschend ist. Das Imageproblem der deutschen Sprache hat aber schon früher begonnen. Von Kurt Tucholsky gibt es das wunderbare Stück "Le Lied" aus den 1920er Jahren. Darin beschreibt er, wie er eines Abends einem Franzosen zuhört, der angeblich Lieder auf Deutsch vorträgt. Und das Einzige, was Tucholsky wahrnimmt, ist "Ahahaaschaupppttt" oder "schrrrrachchchchttttt". Erschrocken fragt er sich, ob seine Muttersprache für Ausländer tatsächlich so klingt.
Und hatte Tucholsky Recht?
Rein wissenschaftlich und objektiv betrachtet hat Tucholsky mit seinem "schrrrrachchchchttttt" das Problem ziemlich genau erkannt. Die deutsche Sprache enthält einige Laute, wie etwa "ch" und Kombinationen wie das "scht", die in den Nachbarsprachen nicht gebräuchlich sind und deshalb als unangenehm wahrgenommen werden. Überdies häuft das Deutsche gerne jede Menge Konsonanten an. Nehmen Sie ein Wort wie "Auskunftspflicht" - das sind sieben Konsonanten am Stück! Gerade für untrainierte Ohren kann das hart klingen.
Von Mark Twain gibt es die berühmte Streitschrift "Die schreckliche deutsche Sprache". Darin hat er sich fürchterlich über die Artikel im Deutschen aufgeregt. Über diese Eigenheit würde ich gerne mit Ihnen sprechen.
Zunächst einmal ist das keinesfalls eine Eigenheit des Deutschen, wenn überhaupt ist es eine Eigenheit des Englischen, kein Genus-System zu haben. Unter den europäischen Sprachen ist die englische Sprache in dieser Hinsicht sicherlich eine Ausnahme. Unberechenbare Genus-Verteilungen sind zudem nicht auf Europa beschränkt.
Welchen Unterschied macht es denn, ob eine männliche oder weibliche Sonne scheint?
Frühere Theorien haben behauptet, dass die Sonne im Deutschen weiblich ist, aber im Unterschied dazu etwa im Italienischen männlich, weil die germanischen Stämme die schwächere nordeuropäische Sonne als mild und nährend empfanden, während die starke, kräftige Sonnenstrahlung in Südeuropa eher als männlich wahrgenommen wurde. Doch diese Logik greift meiner Ansicht nach zu kurz. Im Arabischen und Hebräischen ist die Sonne ähnlich wie im Deutschen weiblich, doch die Sonne im Nahen Osten lässt sich wohl kaum als mild und nahrhaft beschreiben . . . Es hat also überhaupt keinen Sinn, nach objektiven Gründen für diese Wahl zu suchen.
Sie führen in Ihrem Buch "Im Spiegel der Sprache" ein Beispiel aus dem Alltag an, also aus jenem Bereich, wo uns Sprache in der Regel gar nicht bewusst ist. "Das Messer mag ein Es sein, aber auf der anderen Seite des Tellers liegt der Löffel in seiner strahlenden Männlichkeit, und neben ihm, mit borstigem Sex-Appeal, die Gabel." Wie erotisch kann Besteck sein?
Nun ja, sicherlich findet sich kein einziger Mensch mit Muttersprache Deutsch, der sich der Illusion hingibt, eine Gabel besitze tatsächlich ein biologisches Geschlecht. Dennoch sprechen wir hier nicht von Logik, sondern vielmehr von Assoziationen. Aus verschiedenen Experimenten wissen wir, dass die Assoziationen mit Männlichem und Weiblichem hier ganz klar vorhanden sind. So wurde zum Beispiel ein Experiment mit Sprechern des Französischen und Spanischen durchgeführt, in dem es um Gabeln ging. Auf Französisch ist "la fourchette" weiblich, auf Spanisch aber ist "el tenedor" männlich. Als diese Testpersonen aufgefordert wurden, sich vorzustellen, wie eine Gabel in einem Zeichentrickfilm sprechen würde, tendierten die Sprecher des Französischen dazu, eine Frauenstimme für "sie" zu wählen, die Sprecher des Spanischen dagegen eine Männerstimme für "ihn".
Und was sagt das über die Art und Weise aus, wie wir denken?
Ich erlebe es nicht selten, dass ich mich mit jemandem auf Englisch unterhalte, der dann erwähnt, dass "a friend" etwas gesagt oder getan hat. Aber sowohl in meiner Muttersprache Hebräisch als auch auf Deutsch kann man "a friend" nicht geschlechtsneutral verwenden. Wir müssen uns entscheiden, ob es sich um einen Freund oder eine Freundin handelt. Wann immer ich also das Wort "friend" auf Englisch höre, entscheide ich sofort und relativ unbewusst, ob es um einen "er" oder eine "sie" geht. Das kann gut gehen oder auch nicht, denn wenn plötzlich von einem "er" die Rede ist, ich aber von einer "sie" ausgegangen bin, bin ich verwirrt. Das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Sprache uns dazu zwingt, Dinge genauer zu spezifizieren, und wie sich dies auf unsere Denkgewohnheiten auswirkt.
Auch Orientierung hat mit Sprache zu tun. Wir beschreiben alles in einem Links--rechts-vorne-hinten-System. Sie berichten von einem Stamm von Aborigines in Australien, für den der Himmel eine zentrale Rolle spielt.
Die Guugu Yimithirr verwenden in ihrer Sprache nur geographische Koordinaten (Norden, Süden, Westen, Osten) und niemals egozentrische Richtungswörter wie links, rechts, vor, hinter. Sie würden also zum Beispiel sagen: "Sie haben eine Fliege auf Ihrer westlichen Wange", oder "Vorsicht, da ist eine Ameise direkt nördlich von Ihrem Fuß". Um solch eine Sprache zu beherrschen, muss man sich der Orientierung im Raum in jeder Sekunde des Lebens bewusst sein.
Ist das eine Art inneres GPS?
Ich würde sagen, es ist sogar noch zuverlässiger als GPS, weil es auch in Räumen und sogar in Kellern funktioniert . . .
Wie gelingt das diesen Menschen?
Wir wissen es nicht genau, aber ein zentrales Element ist offenbar ihr extrem gutes Gedächtnis für das geographische Koordinatensystem, das bei Richtungswechseln und dergleichen hervorragend funktioniert. Es ist ein Beispiel dafür, wie das Training durch eine Sprache - das diese Menschen dazu zwingt, sich 24 Stunden am Tag geographisch zu orientieren - unser Denken beeinflussen kann, in diesem Fall unseren Orientierungssinn, genauso wie die Art und Weise, uns etwas bildlich vorzustellen und den Raum um uns herum präsent zu haben.
Inwieweit wäre dieses System für einen Europäer erlernbar?
Um dieses System perfekt zu erlernen und mühelos zu beherrschen, muss man sehr früh beginnen. Das Gehirn verfügt in jungen Jahren über eine enorme Plastizität, verliert sie dann aber Schritt für Schritt. Daher gelingt es nur Kindern, eine Sprache akzentfrei zu sprechen, während Erwachsene dazu nicht in der Lage sind. Kultur kann also tatsächlich eine sehr große Macht ausüben - viel mehr als die meisten Menschen vermuten würden -, ,denn wenn kulturelle Konventionen einmal in junge Gehirne eingeträufelt wurden, können sie Verhaltensmuster und Fähigkeiten hervorrufen, die uns geradezu übermenschlich erscheinen.
Unter Linguisten ist das Thema Farbe heftig umstritten, Sie sprechen in Ihrem Buch sogar vom Schlachtfeld der Farbe. Warum?
Obwohl Farbwahrnehmung ein relativ enges und vielleicht sogar esoterisches Gebiet zu sein scheint, sind hier immer wieder verschiedene Weltsichten aufeinander geprallt. Das Gebiet der Farbe gilt deshalb als so überaus wichtig, weil die Verfechter der Natur- wie auch der Kulturthese ihre jeweiligen Ansichten über Farbe für entscheidend halten in Bezug auf ihre Behauptungen über Sprache im Allgemeinen.
Für uns ist der Himmel blau. Gibt es eine andere Antwort darauf?
Wenn Sie zum Beispiel Griechin zu Zeiten Homers gewesen wären oder einem der verschiedenen Naturvölker angehören würden, die es auch heute noch gibt, würden Sie vermutlich eher sagen, dass der Himmel "schwarz" oder vielleicht "grün" ist. Das liegt nicht daran, dass mit den Augen dieser Menschen etwas nicht in Ordnung ist, sondern hängt damit zusammen, dass es in ihrer Sprache kein Wort für "Blau" gibt und daher betrachten sie blau entweder als Nuance von schwarz oder von grün.
Wenn ein Japaner, ein Russe und ein Deutscher vor einem farbenfrohen Chagall-Gemälde stehen, nehmen dann alle dasselbe wahr?
In einem begrenzten Ausmaß scheinen sie das zu tun. Ihre Kultur bestimmt aber, wie differenziert sie es wahrnehmen. Wissenschafter haben in den letzten Jahren Folgendes herausgefunden: Wenn unsere Sprache uns beibringt, gewisse Nuancen als unterschiedliche Farben zu betrachten, wird unser Gehirn dazu animiert, die visuellen Unterschiede zwischen den Nuancen leicht zu übertreiben.
Herr Deutscher, wie oft werden Sie eigentlich auf Ihren Namen angesprochen?
In den meisten Ländern ist es überhaupt kein Problem, weil die Leute sowieso nicht wissen, was dieser polnisch-jüdische Name bedeutet. Tatsächlich ist Deutschland der einzige Ort, wo es manchmal etwas lästig sein kann. Denn dort bin ich bereits ein paar Mal von deutschen Zöllnern misstrauisch beäugt worden. Sie schauen sich meinen Ausweis an und sind überzeugt, dass es eine Fälschung sein muss - aufgrund meines Namens. Also überprüfen sie meinen Pass immer wieder aufs Neue, und lassen mich erst nach längerer Zeit gehen.
Und in Österreich?
Ich kann mich nicht daran erinnern, hier Ähnliches erlebt zu haben. Die österreichischen Zöllner halten es wahrscheinlich nicht für verdächtig, wenn jemand Deutscher heißt, so wie Deutsche wohl weniger überrascht wären, wenn jemand Österreicher hieße, ohne es zu sein . . .
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach in München.
Zur Person
Guy Deutscher wurde 1969 in Tel Aviv geboren und studierte in Cambridge Linguistik und Mathematik. Deutscher forscht an der Fakultät für Linguistik an der Universität in Manchester. Sein Buch "Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht" ist 2010 im Verlag C. H. Beck in München erschienen. Vom Autor erhältlich ist außerdem "Du Jane, ich Goethe: Eine Geschichte der Sprache", ebenfalls Verlag C. H. Beck.