Gregor Gysi über interne Machtkämpfe, direkte Demokratie und Österreichs Sozialisten.
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"Wiener Zeitung": Sie glauben an eine Linkswende in Europa. Ist das nicht Wunschdenken, angesichts von Umfragen, die der FPÖ 30 Prozent vorhersagen, dem Machtmonopol der Rechtspopulisten in Ungarn, dem aufkeimenden Chauvinismus unter Jugendlichen am Balkan und echten Nazis in Griechenland?Gregor Gysi: Es stimmt beides. Auf der einen Seite bekommen die Nationalisten eine neue Chance, weil eine Anti-Haltung zu Europa entsteht, weil für die meisten Menschen Europa heute bedeutet: Demokratieabbau, Sozialabbau, mehr Zentralismus, mehr Bürokratie, unüberschaubare Prozesse - das ist genau falsch. Die Linke will mehr Europa, aber ein Europa der Bevölkerung, nicht ein Europa der Banken, wie wir das gegenwärtig haben.
Sind die Piraten ein potenzieller Koalitionspartner für die Linken?
Die Piraten sagen, die Mitglieder können per E-Mail abstimmen, und wenn sie mehrheitlich für A sind, dann wird eben A vertreten; wenn sie mehrheitlich für B sind, dann wird B vertreten.
Der Vorsitzende der Piraten in Deutschland arbeitet im Bundesverteidigungsministerium und erklärt, er fand den Jugoslawienkrieg richtig, er findet den Afghanistankrieg richtig etc. Aber wenn die Mehrheit entscheidet, wir sollen dagegen sein, dann bin ich dagegen. So etwas könnte ich nicht, wenn ich zum Beispiel gegen den Krieg bin, und die Mehrheit wäre dafür, könnte ich nicht plötzlich sagen, ich sei dafür.
Abgesehen von der Affinität zum Internet haben die Piraten auch die direkte Demokratie auf ihre Fahnen geheftet, wie es in Österreich auch zum Teil die FPÖ getan hat. Was halten sie davon?
Wir brauchen mehr direkte Demokratie, dafür streiten wir schon seit ewigen Zeiten. Es gibt ja in Deutschland keinen Volksentscheid auf Bundesebene, nur auf Kommunal- oder Landesebene. Das muss sich ändern. In Berlin haben wir das auch eingeführt, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Meine Erkenntnis ist folgende: Immer wenn du Menschen Verantwortung gibst, verhalten sie sich auch verantwortlich.
Ihre eigene Partei steht an diesem Wochenende vor einer Zerreißprobe. Es geht darum, eine neue Führung zu wählen.
Die Linke verträgt alles, nur keine Niederlagen und keinen Erfolg - und 2009 hatten wir so einen Erfolg. Dahinter steckt natürlich ein Vereinigungsprozess, der viel komplizierter ist. Wir haben keinen Beitritt gemacht. Wir haben nicht gesagt: Die Ostdeutschen sind mehr, also müssen die Westdeutschen so werden, wie die Ostdeutschen schon sind, oder auch umgekehrt. Das kam für uns nie in Frage. Wir haben eine wirkliche Vereinigung gemacht, und die ist kompliziert. Es gibt unterschiedliche Sichten auf die SPD, auf die Frage der Akzeptanz, auf die Frage des Politikstils, der Politikkultur - das ist komplizierter, als ich es mir damals vorgestellt habe. Jetzt ist es eine richtige Auseinandersetzung, bis zu richtigen Hass-Verhältnissen. Aber: Es gibt ja nur zwei Wege. Entweder man sagt, das hat alles keinen Sinn und macht sich wirklich kaputt, oder wir finden auf dem Parteitag am Wochenende zusammen. Alle Seiten müssen wissen: Wenn sie über die andere Seite siegen sollten, werden sie letztlich verlieren.
Wenn das der Fall sein sollte, stehen sie noch zur Verfügung?
Dazu verrate ich jetzt gar nichts. Ich werde am Wochenende sprechen, ich werde allerdings nicht mit Namen operieren, sondern ich werde ihnen die Richtung sagen, dann werden wir sehen, was der Parteitag macht.
In Österreich gibt es ja links von der Sozialdemokratie nur sehr kleine Gruppen, die sich zum Teil mehr hassen, als den politischen Gegner und somit der Rechten das Protestpotenzial überlassen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Das können wohl Österreicherinnen und Österreicher besser beantworten als ich. In der alten Bundesrepublik hatten wir 2009 8,7 Prozent der Stimmen, in den neuen Bundesländern 28,5 Prozent, insgesamt 11,9 Prozent. Das war außerordentlich, das hat es seit 1949 nicht gegeben, und es hing damit zusammen, dass es eine tiefe Enttäuschung über die SPD gab. Ich denke, wenn sich die Linke links von der Sozialdemokratie in Österreich vernünftiger organisierte, hätte sie auch eine Chance. Wenn ich - was ich nicht mache - jetzt noch Österreicher würde, würde ich meine ganze Kraft darin investieren und die SPÖ etwas ärgern, was ja auch ganz gut ist (lacht). Wissen sie auch warum? Weil die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich steht in der Regel von rechts unter Druck. Immer wenn sie Mehrheiten wollen, müssen sie sich überlegen, wie man sich öffnet, um von den Konservativen Stimmen zu holen. Seitdem es uns gibt, steht die SPD auch von links unter Druck und muss sich überlegen, wie sie auch Stimmen von uns bekommt.