Zum Hauptinhalt springen

"Haben nicht auf Zivilisten geschossen"

Von Gerhard Lechner

Politik
Dmytro Kuleba verteidigt das Recht der Ukraine auf einen eigenständigen Weg.
© Andreas Urban

Der ukrainische Sonderbotschafter Dmytro Kuleba darüber, wie Russen und Ukrainer trotz aller Tragik miteinander leben können.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Herr Kuleba, trotz der Eroberung Debalzewes durch die prorussischen Rebellen sieht es so aus, dass das Abkommen von Minsk nun doch halten könnte. Wird es das auch?Dmytro Kuleba: Ich hoffe, dass das Abkommen Erfolg hat. Aber sicher ist das keineswegs. Am Dienstag gab es ein Treffen im sogenannten "Normandie-Format", also eine Zusammenkunft der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine. Dabei hätte man sich auf ein gemeinsames Dokument zur Eindämmung des Konflikts einigen sollen. Das ist gescheitert, aus einem einfachen Grund: Russland hat es abgelehnt, die Offensive auf Debalzewe zu verurteilen. Wir hoffen natürlich, dass das Abkommen trotz allem halten wird. Aber das hängt vom Willen Russlands ab. Schließlich tun die Terroristen das, was Moskau ihnen befiehlt. Also ist für uns wichtig, dass Russland das Minsker Abkommen implementiert. Bis jetzt ist das nicht der Fall.

Dennoch haben nach Debalzewe viele Beobachter eine neue Eskalation erwartet. Das war dann aber nicht der Fall. Ist das ein Zeichen, dass es eine echte Chance für so etwas wie Frieden gibt?

Was wir derzeit beobachten, ist, dass Russland eine Strategie fährt, die man im Englischen "wave strategy" nennt, also eine Expansion in Wellen. Zunächst gehen die Terroristen in die Offensive. Das ist der Moment, in dem Russland alles ignoriert und sich nicht um Waffenstillstandsvereinbarungen kümmert. Das geht so lange, bis die Terroristen ihr Ziel erreicht haben. Dann tritt Russland plötzlich als Friedensstifter auf. Die Russen gruppieren währenddessen ihre Truppen um und bereiten sich auf eine neue Offensive vor, und alles geht von vorne los. So war es im Fall des Flughafens von Donezk und im Falle Debalzewes. Nun gibt sich Russland nach außen erneut friedlich, aber das Dorf Schyrokino in der Nähe von Mariupol wird weiter attackiert.

Was würde denn die Ukraine tun, wenn Mariupol von den Rebellen erobert werden würde?

Wenn Russland Mariupol attackiert, dann wäre das ein Desaster. Die Welt kann viel tolerieren, aber solch eine große Stadt mit so vielen Zivilisten anzugreifen, das wäre fatal. Deshalb versucht auch unsere Armee, das Kampfgebiet von Mariupol fernzuhalten. Den Rebellen geht es darum, halbwegs autark zu werden. Mit Debalzewe kontrollieren die Terroristen bereits die Transportwege in der Ostukraine. Nehmen sie auch noch die Stadt Schastja, hätten sie dazu noch die Kontrolle über die Elektrizität. Mit einer Einnahme Mariupols käme noch ein Hafen dazu. Damit wäre diese Region wirtschaftlich lebensfähig. Mariupol ist also sicherlich bedroht.

Im Mai hat Präsident Petro Poroschenko davon gesprochen, die "Anti-Terror-Operation" sei nur eine Frage von Tagen oder Wochen. Nun ist ein Dreivierteljahr vergangen - wäre es für die Ukraine nicht, wie Beobachter schreiben, wichtiger, sich auf innenpolitische Reformen zu konzentrieren als auf die Rückeroberung der Rebellengebiete? Schließlich ist bislang nicht viel geschehen.

Als Poroschenko gewählt wurde, hat er nicht geglaubt, dass Russland so weit gehen würde, die rote Linie zu überschreiten und eine Invasion in der Ukraine zu starten. Aber uns wurde gezeigt, dass das Unmögliche möglich ist. Russland hat unsere Truppen im Sommer ja auch von russischem Territorium aus beschossen. Wir konnten nicht zurückfeuern, weil das als Aggression gegolten hätte.

Gab es nicht auch Vergehen seitens der ukrainischen Armee? Es wurden ja auch Städte wie Donezk unter Feuer genommen.

Wir haben mehrere Beweise, dass es die Terroristen waren, die die Wohngebiete beschossen haben. Es gibt keinen einzigen Fall, wo unsere Truppen auf Zivilisten geschossen haben. Nur die Terroristen töten Zivilisten. Das macht den Unterschied aus zwischen einer normalen Armee und Kriminellen. Das Argument der bedrohten Russen im Donbass spielt allerdings eine große Rolle in der russischen Propaganda. Dort heißt es, wir müssen Ukrainer töten, weil die sonst Russen töten. Der ganze russische Krieg basiert auf dem falschen Argument, die Leute im Donbass müssten sich gegen die Aggression der "Banderovcy" (der Anhänger des nationalistischen ukrainischen Politikers Stepan Bandera, der in der Kriegszeit teilweise mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaborierte, Anm.) wehren, weil die sonst die Leute im Donbass töten. Ich war selbst auf dem Maidan. Niemand dort ist auf die Idee gekommen, die Waffen in die Hand zu nehmen und in den Donbass zu marschieren.

Auch der berüchtigte "Rechte Sektor" nicht?

Nein, nein. Der Rechte Sektor auf dem Maidan war eine Gruppe junger Leute, die Krieg spielten, aber nicht Krieg führten. Das haben sie erst später gemacht. Damals, in der Zeit nach der Revolution auf dem Maidan, waren alle damit beschäftigt, Ordnung nach Kiew zurückzubringen.

Es gibt aber auch Berichte, wonach sich unter den Scharfschützen auf dem Maidan rechte Gruppen befunden haben.

Ich war am 20. Februar, am Tag des Massakers, selbst auf dem Maidan, habe gesehen, wie vor mir Menschen tot zusammengebrochen sind. Das war der schrecklichste Tag in meinem Leben. Ich gehöre also zu jenen Leuten, die wirklich ein Interesse haben, aufzuklären, was auf dem Maidan geschehen ist. Was genau passiert ist, ist immer noch unklar. Wir wissen aber, dass die Regierung zwei Tage vorher Instruktionen an Scharfschützen gegeben hat, rund um den Maidan in Stellung zu gehen. Die Untersuchungen laufen aber und wir werden die Schuldigen finden.

Manche Beobachter zeichnen heute ein düsteres Bild der Lage. Die Regionen würden sich verselbständigen, heißt es, Oligarchen wie Ihor Kolomojski hielten sich Privatarmeen. Einige sehen die Ukraine auf dem Weg zum "failed state".

Wenn die Ukraine ein "failed state" wäre, wäre Kiew schon eine russische Provinzstadt. Wir verteidigen uns seit einem Jahr gegen die Aggression eines militärisch weit überlegenen Nachbarstaates. Aber es ist sicher das Ziel Putins, die Ukraine zu einem "failed state" zu machen.

Warum soll das sein Ziel sein?

Russland kann es einem so verwandten Nachbarland wie der Ukraine nicht erlauben, nach einem anderen politischen Modell zu leben. Janukowitsch hat das Land in Putins Richtung geführt. Es war sein Traum, in der Ukraine ähnlich schalten und walten zu können wie Putin in Russland.

War es nicht eher die russische Angst vor einem Nato-Beitritt der Ukraine, die für Russlands Eingreifen die Hauptrolle gespielt hat?

Wenn Russland sagt, dass es keinen Nato-Beitritt der Ukraine zulassen kann, weil dann die Nato an der Grenze steht, was ist dann mit den baltischen Staaten? Von dort aus könnte man St. Petersburg ja jederzeit attackieren. Die Nato ist nicht der Grund. Nein, es wird der Ukraine nicht erlaubt, sich in ein normales, europäisches Land zu verwandeln, mit einem System, das auf Werten und Menschenrechten basiert. Denn wenn die Russen sehen, dass es eine Alternative zu ihrem System gibt, wäre das die größte Herausforderung für den Kreml. Ich habe viele Freunde, darunter auch den ukrainischen Botschafter in Wien, Alexander Scherba. Vor den Ereignissen auf dem Maidan war er, was die ukrainische Außenpolitik betrifft, ein großer Russland- und "Putinversteher". Aber die Aggression Moskaus hat alles verändert. Er hat verstanden, dass Russland für die Ukraine eine Bedrohung ist, keine Option. Und er ist nur ein Beispiel für viele Ukrainer.

Russland wird aber so oder so Nachbar der Ukraine bleiben. Wie kann es jetzt eine Koexistenz geben?

Das Verhältnis wird sich erst dann normalisieren, wenn sich die Ukraine-Politik Russlands zum Besseren ändert. Koexistenz ist aber immer möglich. Ich habe einen guten Freund in Russland. Zu der Zeit der Maidan-Revolution haben wir öfters telefoniert. Er war strikter Gegner des Euromaidan, ich ein Befürworter. Wir haben gestritten. Irgendwann habe ich dann gesagt: Ich glaube, wir ruinieren unsere Freundschaft. Warum hören wir dann nicht auf, über Politik zu reden? Er war einverstanden. Seither haben wir, wenn wir miteinander telefonieren, nie über Politik gesprochen. Wir reden nur über unsere Familien, über die Kinder und Ähnliches.

Und das geht?

Ja, es ist sogar nett. Das letzte Mal hat er zu mir gesagt: Dmitri, ich bin wirklich froh, dass Du mitgeholfen hast, unsere Freundschaft zu retten, während rundherum alles in Brüche geht. Dasselbe passierte mit meinem Onkel, der in Russland in Sachalin lebt, im weiten Osten. Er sagte immer, Amerika ist schuldig, es hat einen Konflikt zwischen uns provoziert, geh nicht auf den Maidan, das dort ist ein CIA-Projekt. Es gab emotionale Konflikte. Letzten Endes haben wir uns entschlossen, nicht über Politik zu reden. Seither haben wir keine Probleme.

Dmytro Kuleba ist Sonderbotschafter der Ukraine für strategische Kommunikation im Außenministerium in Kiew. Der 33-Jährige ist für die Außendarstellung der Ukraine in dem aktuellen Konflikt mit Russland zuständig.