Fetisch Wachstum trifft die Wirtschaft, denn: "Frieden kann man nicht maximieren".
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"Wiener Zeitung": Herr Sedláček, ihr letztes Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" war ein Bestseller. Worum geht’s in ihrem neuen Buch?
Tomá Sedláček: Es wird wahrscheinlich "Second Derivative of Desire" heißen, ("Das zweite Derivat des Begehrens") oder "Fetish of Economics" ("Fetisch Ökonomie"). Im Buch schreibe ich über Abhängigkeit: Abhängigkeit von der Wirtschaft, Abhängigkeit von Wachstum, Abhängigkeit vom Wachstumskapitalismus. Ich sehe ja keine Krise des Kapitalismus per se, sondern eine Krise des Wachstumskapitalismus. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Je größer die Probleme dieses Systems werden, desto mehr Kapitalismus wird eingesetzt, um diese zu lösen. Das ist etwas, was mich an einen Fetisch erinnert. Ein Fetisch ist etwas, mit dem man eine Hass-Liebe verbindet. Es sollte einem Zugang zu Freude, zu Befriedigung verschaffen und hat natürlich auch eine sexuelle Konnotation. Aber gleichzeitig blockiert der Fetisch den Zugang zu eben jener Freude. Was hat uns in die Krise geführt? Der Wirtschafts-Fetisch. Was ist die Lösung? Noch mehr Wirtschaft. Das ist eine Frage, die ich versuche, im Buch zu beantworten: Wie kann man Wirtschaft de-fetischisieren?
Am Donnerstag sprechen Sie am Europäischen Forum Alpbach zum Thema "Neues Wachstum für Europa". Aber selbst wenn dieses Wachstum grün angestrichen wird und als nachhaltig propagiert wird, ist das nicht ein weiterer Teil in dem Teufelskreis "Wachstum um jeden Preis"?
Ja. Absolut. Wir haben immer geglaubt, dass demokratischer Kapitalismus ein fruchtbarer Boden für Wachstum ist. Aber in den vergangenen Generationen kam es zu einer Umkehr von Subjekt und Objekt. Wachstum wurde zu einer Conditio sine qua non der Marktdemokratie. Ohne Wachstum, glauben wir, würden Märkte zusammenbrechen und sogar die Demokratie mit sich reißen. Das kann man sogar in der Debatte um Europa erkennen: Es scheint fast so, als würden wir aufhören, Europäer zu sein, wenn wir kein Wachstum haben, als würde Europa ohne Wachstum einfach kollabieren. Das ist ein interessanter Wechsel von diesen Fetischen: Vor zwei Generationen hatten unsere Vorväter den Fetisch des geografischen Wachstums. Aus irgendeinem Grund wollten europäische Nationen sich geografisch verbreitern. Heutzutage kann man mit solchen Ideen niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Wenn ich Ihnen die Hälfte der Tschechischen Republik anbiete, würden Sie wahrscheinlich dankend ablehnen. Wozu auch? Aber vor zwei Generationen sind Millionen Menschen für solche Ideen gestorben. Die Idee der Europäischen Union war es, Frieden durch Handel zu stiften. Frieden ist aber ein stationärer, ein gleichbleibender Zustand: Entweder hat man ihn, oder eben nicht. Und wenn man mal Frieden hat, kann man nicht mehr davon haben. Einerseits haben wir nun das erreicht, was wir wollten: Wir haben Frieden und Handel. Finnland betreibt Handel mit Athen, jeder handelt mit jedem. Aber nachdem man Frieden nicht maximieren kann, wurde die Maximierung auf den Handel gelegt. Nun wollen wir mehr und mehr und mehr Handel und wir glauben, dass wir ohne Handel sterben. Natürlich verwende ich auch die ökologischen Argumente für ein sanfteres Wachstum, aber mein Fokus ist, dass - selbst wenn wir immerwährende Reserven von Erdöl hätten und unendlich viel saubere Luft - das System nicht nachhaltig ist. Es ist manisch-depressiv. Und diese Krise entstand für mich nicht aus der Depression heraus, sondern aus dem manischen Zustand. Die Periode des langsamen Wachstums birgt zwar auch Gefahren, aber es gibt viel mehr Gefahren in der Periode des starken Wachstums.
Was ist denn die Alternative zu einer Wirtschaft, die auf Wachstum basiert?
Diese Wirtschaft kann zumindest eine lange Periode des Nicht-Wachstums aushalten. Ich habe nie um Nicht-Wachstum gebeten, ich habe es nicht herbeigewünscht, alles ist natürlich mit Wachstum einfacher, aber was passiert, wenn es einfach kein Wachstum gibt? Stellen wir uns ein Auto vor, das nicht anhalten kann, weil es beim Stillstand sofort explodiert. Wer würde sich in ein derartiges Höllengefährt setzen?
Welche Lösung haben Sie parat?
Wenn Sie mich fragen, was man tun soll: Bisher haben wir es mit Bastard-Keynsianismus versucht. Wir haben die Wirtschaftsmalaise mit Anti-Depressiva zu behandeln versucht, auf Pump finanzierten Stimulusprogrammen. Wenn man es mit einem depressiven Patienten zu tun hat, sind Anti-Depressiva im Normalfall das, was hilft. Aber wenn Sie es mit einem Bipolaren zu tun haben, einem manisch-depressiven Patienten, dann sind Anti-Depressiva wirklich keine gute Idee. Ich behaupte, dass unsere Krise schon in der manischen Phase angefangen hat. Es gab in den USA ein starkes Wachstum, gute Wettbewerbsfähigkeit, niedrige Arbeitslosigkeit. Nicht eine Wolke war am blitzblauen Himmel der Makroökonomie zu sehen. Und da hat die Krise begonnen und nicht mit dem griechischen Szenario, über das überproportional viel debattiert wird. Es ist nicht so, dass sich zuerst das Wachstum verlangsamt hat und dann erst die Krise zugeschlagen hätte. Es war genau das Gegenteil. Wir müssen daher in den Perioden des starken Wachstums viel mehr aufpassen. Wie macht man das? Klassischerweise mit etwas, das sich fast pornografisch anhört: mit einem Budget-Überschuss. Da zerreißt natürlich jetzt jede Körperzelle, denn jeder, der nach rechts tendiert, würde sofort die Steuern senken. Die Linken wiederum würden sofort die Ausgaben in die Höhe schrauben. Das wird also schwierig. Was wir brauchen, nenne ich die "Hang-over"-Regulierung, die Katerstimmungs-Regulierung.
Was ist damit gemeint?
Stellen Sie sich vor, dass Sie am Samstag mit einem immensen Kater aufwachen. Da denkt man sich auch die eine oder andere Regulierung zusammen: "Ich schwöre, ich werde nie wieder Alkohol trinken! Nie wieder gehe ich in diese Bar!" Diese Vorsätze sind leicht getroffen, weil am Samstag ist einem um die Mittagszeit wirklich nicht nach Trinken zumute, wenn man ohnehin noch schwer verkatert ist. Das passiert gerade in unserer Wirtschaft. Meine Frage ist jetzt aber: Was wird am nächsten Freitagabend passieren? Wird man vielleicht doch wieder Alkohol trinken?
Und doch wieder in diese Bar gehen?
Sie haben nun einen Boom-Bust-Zyklus beschrieben. Wie sehen Sie Schulden in dem Zusammenhang?
In der klassischen Theologie, im Neuen Testament, ist das Wort für Schulden und Schuld Synonym. Man macht Schulden, weil man glaubt, man kommt damit zurande. Aber in Wahrheit wird die Puppe zum Puppenspieler. Wir und unsere Politik sind nun in einem großen Ausmaß Puppen, die von den Schulden geleitet werden. Was uns ursprünglich die Freiheit des Konsums gegeben hat, nämlich das Defizit, wird jetzt der Räuber von Freiheit.
Würden Sie sagen, dass die Situation in Griechenland ebenfalls vergleichbar mit einer Katerstimmung ist? Im Interview mit der "Wiener Zeitung" vor eineinhalb Jahren haben Sie ja gesagt, dass Griechenland ein Vorreiter ist und kein Nachzügler.
Ja, Griechenland liegt vor uns. Es ist nur ein paar Jahre vor uns pleitegegangen. Wenn sich nichts ändert, droht uns allen das griechische Schicksal. Unter dem momentanen System ist das griechische Verhalten rational. Wenn der Papa für das Auto zahlt, wenn man es kaputtgefahren hat, wieso sollte man dann vorsichtig fahren?
Jetzt wird gerade über ein drittes Hilfspaket für Griechenland diskutiert. Sind das Anti-Depressiva für einen manisch-depressiven Patienten? Sollte man Griechenland Ihrer Meinung nach auf kalten Entzug setzen?
Das ist die Fortführung einer alten theologischen Debatte, die 2000 Jahre alt ist: nämlich Recht oder Vergebung? Sollten wir Griechenland laut Gesetz behandeln? Die Griechen haben schließlich all diese Verträge unterzeichnet und müssten alles zurückzahlen. Wenn wir uns Griechenland ansehen, dann heißt es immer vorwurfsvoll zwischen den Zeilen: "Wenn die Griechen nur doppelt so viel arbeiten und Steuern zahlen würden." Wenn man sich aus dieser Perspektive Irland ansieht, hat man genau das Gegenteil: Wenn die Iren, die in der Immobilienbranche oder der Finanzindustrie gearbeitet hatten, nur halb so effizient gewesen wären, dann hätten wiederum die Iren kein Problem. Insofern ähnelt die irische Krise der amerikanischen. Die griechische Krise ist eher ein Opfer von "friendly fire".
Sollte Griechenland nun die Medikamente absetzen? Bisher argumentieren Sie vor allem katholisch und weniger protestantisch.
Könnte man so sagen. Aber was ist die Matrix der Realität? Wird sie aus Regeln gemacht? So haben die Pharisäer im Neuen Testament argumentiert. Jesus hat dagegen immer von Liebe und Vergebung geredet, Dinge, die man nicht in Regeln einbetten kann. Es gibt doch den Spruch: "In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt."
Die Ökonomie funktioniert ziemlich gut in diesem Zwischenraum. Wir retten Griechenland nicht wegen Griechenland. Wir retten Griechenland, sodass wir das System retten können. Wir opfern die Regeln, um das System zu retten. Daher gibt es auf einmal Ausnahmen, auf einmal ist alles erlaubt, die Regeln sind verschwunden. Die generelle Wirtschaftstheorie kennt zwei Extreme: das "Nano" und das "Makro-Makro". Dort existieren die Regeln des Kapitalismus nicht. Wenn wir das machten, würden die Regeln der Wirtschaft auf einmal zerstört werden. So wie in persönlichen Beziehungen oder Banken, die too-big-to-fail sind, wo Wirtschaftsregeln auch nicht mehr gelten.
Und was ist mit Griechenland im europäischen Kontext?
Eine andere Frage, die dementsprechend beantwortet werden muss: Ist Griechenland ein Markt oder ist es ein Familienmitglied der europäischen Familie? Wenn ein Familienmitglied sich ein Bein bricht, dann werden Sie ihm helfen. Wenn Ihr Bäcker sich ein Bein bricht und er nicht im Geschäft stehen kann, dann gehen Sie eben zu einem anderen. So funktioniert der Markt.
Wo steht nun Griechenland?
Ist es ein Teil der europäischen Familie? Oder wie beim Bäckerladen? Noch etwas: Heutzutage glaubt man, Griechenland ist der kranke Mann Europas. In der europäischen Geschichte hat es schon einige kranke Männer gegeben: Deutschland, Großbritannien in den 70ern, Irland, Tschechien, Finnland in den frühen 90ern. Doch dann hat dort plötzlich eine Gummi-Fabrik wie Nokia eines Tages Mobiltelefone hergestellt. Wir sollten ein Land, das Probleme hat, nicht fallen lassen. Niemand weiß, wer als Nächster dran ist. Vielleicht trifft es auch einmal Österreich. Die Krise ist ja politisch relativ ausgewogen: Sie attackiert Länder mit Links-Regierungen genauso wie jene mit Rechts-Regierungen, Länder mit Euro und Länder ohne Euro. Natürlich sollten wir Griechenland helfen.
Im Buch des linksliberalen US-Autors Robert Kuttner mit dem Titel "The Debtors Prison" wird daran erinnert, dass Schuldner in früheren Zeiten einfach in den Schuldturm gesteckt wurden. Aus den Schulden kam so jemand dann nie mehr heraus. Gibt es da Analogien zu Griechenland?
Wenn du dich verschuldet hast, dann wurdest du zum Sklaven, zum Schulden-Sklaven. Der Bankrott ist ja dazu da, einen vor der Sklaverei zu bewahren. Wenn das, was heute mit Griechenland passiert ist, vor drei Generationen passiert wäre, dann würden wir heute darüber diskutieren, wie man Griechenland am besten militärisch angreifen kann. Auf diese Art und Weise haben wir früher die Probleme solcher Art gelöst: "Was, die liegen am Boden? Lasst uns aufbrechen und die Kerle erledigen!" Schwache Länder wurden erobert. Das passiert heute nicht mehr und dafür sollten wir dankbar sein, das ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Heute versuchen wir, Griechenland zu helfen; wenn es Griechenland wieder besser geht, dann freuen wir uns. Freilich: Wir wollen Griechenland helfen, um uns selbst zu helfen, aber das ist immer noch besser, als Griechenland zu zerstören. Vielleicht war die Hilfe nicht immer richtig, es gibt ja diesen Spruch: "Hören Sie endlich auf, mir zu helfen und helfen Sie mir endlich!"
Wie kann man die Wirtschaft wieder in Schwung bringen, gibt es nicht schlicht nicht genügend Nachfrage?
Es gibt zu wenig Nachfrage, zu wenig Begehren, wenn Sie so wollen. Also springt die Regierung mit Nachfrage ein. Ich komme aus dem Nachbarland Tschechien, das war ja leider ein kommunistisches Land. Bei uns war es so: Wir wollten Zucker, aber es gab keinen Zucker, wir wollten Autos, aber es gab keine Autos. Wir wollten Rasierklingen, es gab keine Rasierklingen. Heute ist die Situation genau umgekehrt. Die Priorität Nummer eins sollte nicht Wachstum, sondern Stabilität sein. Wenn das Wachstum sich verlangsamt, dann müssen wir uns fragen, wie wir damit umgehen. Das ist wie auf einem Segelschiff, wenn der Wind nicht mehr bläst. Da hilft es nichts, ins Segel zu blasen, sondern es ist besser, das Deck zu schrubben und darauf zu warten, dass die Flaute irgendwann endet.
Zur Person
Tomas Sedláček, 1977 im nordböhmischen Roudnice nad Labem geboren, ist ein tschechischer Ökonom. Der Ex-Wirtschaftsberater von Präsident Václav Havel wurde durch sein Werk "Die Ökonomie von Gut und Böse" bekannt. Heute lehrt er an der Karls-Universität Prag Wirtschaftsphilosophie, ist Chefvolkswirt bei der Tschechoslowakischen Handelsbank AG, der größten tschechischen Bank, und berät als Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrats den Regierungschef. Diese Woche ist er Gast beim "Europäischen Forum Alpbach".