Justizminister Dieter Böhmdorfer verfolgt ehrgeizige rechtspolitische Ziele: Neben großen, lange Jahre aufgeschobenen Reformen, wie der Strafprozessreform oder der Reform des Außerstreitverfahrens, soll nun die Haftung des Staates für ungerechtfertigten Freiheitsentzug modernisiert werden.
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Mit dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger wurde in Österreich die Verpflichtung des Staates zum Schadenersatz für jede gesetzwidrig verfügte oder verhängte Haft eingeführt. Eine Ersatzpflicht für durch ungerechtfertigte Untersuchungshaft erlittene Nachteile gab es ab 1918. Daneben bestand ein - seit 1932 von starken fiskalischen Erwägungen geprägtes - Bundesgesetz über die Entschädigung ungerechtfertigt verurteilter Personen. Mit dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz 1969 (StEG) erfolgte - nicht zuletzt auf Grund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) - die Vereinigung beider gesetzlicher Grundlagen. Noch 1987 konnte das StEG als positives Beispiel für die Auswirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf das österreichische Strafverfahren hervorgehoben werden. Im negativen Sinn ist es das bis heute geblieben.
Entkräftung des Verdachts
Nach Einstellung des Verfahrens oder Freispruch besteht ein Ersatzanspruch nur dann, wenn der Verdacht der Tatbegehung entkräftet wurde. Das ist bei strenger Auslegung nur dann der Fall, wenn erwiesen ist, dass der Betroffene wegen der Anlaßtat nicht strafbar ist. Erwiesene Unschuld ist jedoch nicht Voraussetzung für einen Freispruch. Es genügt, dass Zweifel an Täterschaft und Schuld bestehen. Darin liegt die Problematik, weil es lange Zeit als unbillig angesehen wurde, jemandem zusätzlich zur Rechtswohltat des Zweifelgrundsatzes eine Entschädigung zu gewähren. In "dubio pro reo" bedeutet aber auch, dass der Angeklagte kein Recht darauf hat, dass das Verfahren so lange fortgesetzt wird, bis seine Unschuld zweifelsfrei bewiesen ist.
Der Gesetzgeber versuchte diesem Dilemma dadurch zu entkommen, dass er eine öffentliche Kundmachung des Beschlusses über die Entschädigung untersagte. Es würde nämlich dem Grundgedanken der Unschuldsvermutung widersprechen, wenn zugleich mit der Verkündung des Freispruchs ausgesprochen würde, dass an der Unschuld des Angeklagten noch erhebliche Zweifel bestehen. Dieser Versuch des Gesetzgebers barg jedoch einen Verstoß gegen die Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit einer Verhandlung und Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche in sich. Was vom EGMR aufgezeigt wurde und durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (OGH) "korrigiert" werden musste. Der EGMR betont, dass ein Recht auf Entschädigung nach Einstellung eines Strafverfahrens nicht aus der EMRK abgeleitet werden kann. Eine Entscheidung über die Entschädigung könne aber dennoch einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung beinhalten, wenn die Entscheidungsgründe im Kern einer Schuldfeststellung gleichkommen, ohne dass zuvor die Schuld des Angeklagten gesetzlich nachgewiesen wurde. Nach einem rechtskräftigen Freispruch dürfen keine weiteren Verdächtigungen geäußert werden, mögen sich diese auch in den Gründen des freisprechenden Erkenntnisses selbst wiederfinden.
Haftentschädigung
durch Zivilgerichte
Eine grundrechtskonforme Neugestaltung der strafrechtlichen Entschädigung ist überfällig. Künftig sollen ausschließlich die Zivilgerichte über eine Haftentschädigung entscheiden - im Kern handelt es sich ja um einen zivilrechtlichen Anspruch, für dessen Durchsetzung die Regeln des Strafverfahrens ungeeignet erscheinen. Wenn dem Staat schon der Schuldnachweis nicht gelungen ist, soll er nicht mehr von Amts wegen darüber befinden, ob nicht doch Zweifel an der Unschuld des Betroffenen bestehen. Ob der Verdacht entkräftet wurde, soll daher nach einem Freispruch nicht mehr geprüft werden dürfen. Darüber hinaus soll nicht bloß für vermögensrechtliche Nachteile, wie Verdienstentgang oder die Kosten der Verteidigung, sondern auch für das erlittene "Haftübel" (im engeren Sinn) ohne Rücksicht auf ein allfälliges Organverschulden gehaftet werden.
Budgetrestriktionen
Geschädigte sollen künftig einfacher, rascher (Entfall des strafgerichtlichen Feststellungsverfahrens) und ohne den allfälligen Makel eines fortbestehenden Verdachts für den ungerechtfertigten Entzug der persönlichen Freiheit Ersatz erhalten. Ein Ziel, das trotz Budgetrestriktionen wert ist, mit Nachdruck verfolgt zu werden. Dies umso mehr, als die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte dazu übergegangen ist, den Tatverdacht im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. b StEG in grundrechtskonformer Interpretation jedenfalls mit Rechtskraft des freisprechenden Urteils als entkräftet anzusehen.
Ein Gesetz, das von den Rechtsanwendern sowohl in seinen Anspruchsvoraussetzungen als auch in wesentlichen Verfahrensbestimmungen in einer vom Wortlaut abweichenden Weise interpretiert werden muss, um einen Konflikt mit Grundrechten zu vermeiden, sollte in einem modernen Rechtsstaat keinen längeren Bestand haben.
* Christian Pilnacek ist Legist im Justizministerium und leitet dort die Abteilung II 3.
§ 2 Abs. 1 lit. b StEG: Der Ersatzanspruch besteht, wenn der Geschädigte [.] freigesprochen [.] worden ist und der Verdacht, dass der Geschädigte diese Handlung habe, entkräftet [.]