Vor 100 Jahren ließen Hunger, Kälte, Mangelwirtschaft und die Spanische Grippe in der Bundeshauptstadt kaum Weihnachtsstimmung aufkommen.
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"Heuer gibt’s keine Weihnachten!" An diesem Satz kommt keiner vorbei, der sich im Dezember 1918 in Wien umhört; sei es in der Straßenbahn, beim Greißler oder bei der Bassena. Wer kann den Menschen diese Resignation verdenken, ist doch der schrecklichste aller bisherigen Kriege eben erst zu Ende gegangen. Zwar schweigen endlich die Waffen, aber die entsetzliche Not, die der Krieg verursacht hat, ist gerade in der Millionenmetropole Wien zu spüren.
Hunger und Kälte prägen den Alltag, der ein einziger Kampf ums Überleben ist. Keine Lebensmittelzufuhr mehr aus den neu entstandenen Nachbarstaaten Tschechoslowakei und Ungarn. Das verbittert die Wiener besonders. "Nicht mild lächelnden Angesichts und den Oelzweig in der Hand kommt der Friede zu uns. Das Volk, das auf ihn geharrt hat, friert zur Stunde in kalten Stuben, darbt am kargen Tische und härmt sich an den Betten fiebernder Kinder. Die Fabriksschlote rauchen nicht, die Bahnen führen wenige, mühsam fortrollende Züge, die Ackerfluren sind verwahrlost. . .", beschreibt der Staatskanzler der jungen Republik, der Sozialdemokrat Karl Renner, die Gesamtsituation.
Und da soll man Weihnachten feiern? Aber das Fest, das Frieden allen Menschen guten Willens verheißt, so ganz ohne jeden Akzent vorbei gehen zu lassen, ist auch schwerlich vorstellbar - erst recht, wenn man Kinder hat. Ein paar Tannenzweigerln wird man wohl ergattern können, wenn schon ein Christbaum zu teuer und kaum zu haben ist. Und siehe da: Reisig wirkt Wunder! Sein Duft im Wohnzimmer weckt weihnachtliche Gefühle.
Bild des Jammers
Was kommt zu Weihnachten auf den Tisch? Traditionell gebackener Karpfen mit Erdäpfelsalat. Doch was tun, wenn der Fisch unerschwinglich und kaum zu bekommen ist? Haifisch bietet sich an! 800 Kilogramm werden in der Großmarkthalle zum Kauf angeboten, das Rezept beigelegt. Hai soll sehr schmackhaft sein, aber nur wenn es ein Jungtier ist. Das ist wohl nicht für jeden Gaumen das Richtige. Allgemein bieten die Wiener Märkte ein Bild des Jammers: kaum Geflügel oder Fisch, Gänse oder Hasen. Auch Äpfel sind eher dem Fallobst zuzurechnen. Nur Kraut und Rüben gibt es in Überfluss. Wahre Elendsweihnachten kündigen sich an.
Doch nicht für alle! Es gibt einige wenige, die sich dank dicker Brieftaschen vor kargen Weihnachten nicht zu fürchten brauchen. Und sie bekommen auch alles, was sie wollen. In den Geschäften und Kaufhäusern der Inneren Stadt und in der Mariahilferstraße herrscht dichtes Gedränge, fast so wie in der Vorkriegszeit. Die lebhafte Nachfrage treibt die Preise nach oben. Auch Theaterkarten sind längst vergriffen.
Am Christtag spielt man im Burgtheater Raimunds "Verschwender". Wer es weniger klassisch mag, kommt auch auf seine Kosten: "Professor Bernhardi" von Arthur Schnitzler im Deutschen Volkstheater, "Frühlings Erwachen" des im März 1918 verstorbenen Frank Wedekind in den Kammerspielen. Beide Stücke, denen der Geruch des Skandals anhaftete, können jetzt endlich, befreit aus dem Würgegriff der Zensur, aufgeführt werden.
Für 4000 Wiener Kinder gibt es eine Weihnachtsbescherung in der Spanischen Hofreitschule der Wiener Hofburg, und zwar am "goldenen Sonntag", dem 22. Dezember. Ihre Väter sind auf "dem Feld der Ehre" geblieben, nun sorgt der Witwen- und Waisenfonds für ein Weihnachtsfest.
Staunend betrachten die ärmlich gekleideten Kleinen den riesigen, bis zur Decke ragenden Christbaum, der in der Mitte des Barocksaals aufgestellt ist. Schmuck trägt er keinen, bloß Glühlampen verleihen ihm einen Hauch von Weihnachtsglanz. Das ist der erzwungenen Sparsamkeit geschuldet. Aber die Kinder interessiert vielmehr der Berg an Paketen, der unter dem Baum aufgeschichtet ist. Welches werde ich bekommen, was mag wohl drinnen sein?
Noch heißt es abzuwarten, bis die Deutschmeister-Kapelle ihr Musikprogramm mit "Stille Nacht! Heilige Nacht!" beendet hat. Auch endlos scheinende Gedichte werden von auserwählten Kindern aufgesagt.
Dann ist aber kein Halten mehr. Aus dem Geschenkpapier kommen praktische, dringend benötigte Sachen hervor: Kleider, Schuhe. Hauben, Fäustlinge etc. Für kindliche Freude über Weihnachten hinaus ist aber auch mit Puppen, Teddys und Bilderbüchern gesorgt.
Wenn sich dann am Heiligen Abend der Weihnachtsfriede langsam einstellt, wird es für viele eng im Herzen, die feierliche Stille drückend, es fließen Tränen. Weihnachten, dieses Fest der Familie, macht schmerzlich fühlbar, dass mancher Sessel um den Familientisch leer ist - und es für immer bleibt: "Gefallen für Gott, Kaiser und Vaterland". Vater, Sohn, Bruder, Enkel sind im mörderischen Ringen an der Front umgekommen. Kaum eine Familie, die nicht von zumindest einem solchen Verlust betroffen ist.
Quälende Ungewissheit
Schlimmer noch ergeht es jenen, die keine Gewissheit haben, weil ein Verwandter als vermisst gilt. Diese Ungewissheit ist quälend. Lebt er noch oder verrotten seine nicht identifizierten Überreste auf einem Schlachtfeld? Ist er in Kriegsgefangenschaft? Und wenn, wie geht es ihm dort, etwa in der Eiseshölle Sibiriens? Wie lange wird es dauern, bis er heimkehren kann?
Doch es gibt in den Familien auch noch andere Verluste zu beklagen - Verluste, die etwa die Spanische Grippe im Herbst 1918 verursacht hat. So trauert auch die Familie Harms in der Hietzinger Hauptstraße 114 um Tochter Edith und Schwiegersohn Egon Schiele, den berühmten Maler. Er hatte sich die tödliche Krankheit bei seiner schwangeren Frau geholt; wenige Tage nach ihrem Tod starb er in der Wohnung seiner Schwiegereltern, erst 28 Jahre alt. Bitter seine Erkenntnis: "Der Krieg ist aus und ich muss gehen."
Unwillkürlich kommt die Erinnerung an die letzten Weihnachten im Frieden zurück. 1913 war das - erst fünf Jahre her, aber doch eine gefühlte Ewigkeit. Ja damals, da war die Welt noch in Ordnung. War sie das wirklich? Der Weltkrieg hat den Blick auf 1913 verstellt, denn es war ein ausgesprochenes Krisenjahr, verursacht durch die beiden Balkankriege, an deren Ende Serbien zum Schaden der Monarchie als Hauptgewinner feststand. Mit einher ging eine wirtschaftliche Krise mit empfindlichen Teuerungen, die Arbeiter und Kleinbürger dazu zwangen, den Gürtel enger zu schnallen. Eine wahrhafte Unglückszahl - diese 13. Man war damals froh gewesen, dass dieses Jahr zu Ende ging. Zu Weihnachten zeigten sich leichte Anzeichen der wirtschaftlichen Erholung, man wähnte, das Schlimmste überstanden zu haben.
1913 gab es auch noch den Kaiser. Seine altersbedingte Gebrechlichkeit ließ den 83-Jährigen zum "Einsiedler von Schönbrunn" werden. Er galt als Friedenskaiser, nach 48 Jahren ohne Krieg. Solange er lebte, würde alles im rechten Lot bleiben - meinte man damals. Welch Illusion . . .
Und was ist jetzt, 1918, mit seinem Nachfolger, der das schwere Erbe mitten im Krieg antreten musste und nach zwei Jahren Thron und Reich verlor!? Denkt jemand an ihn, der jetzt in Schloss Eckartsau an der Donau zurückgezogen lebt und abwartet, wie es weitergehen wird? Tatsächlich sind es trübe Tage, die Karl zusammen mit seiner Frau Zita und den fünf Kindern verlebt. Auch diese einst erste Familie des Reiches ist hart getroffen. Es fehle an Milch für ihre und die anderen Kinder in dem kleinen Gefolge, schildert die einstige Kaiserin einem Reporter der Associated Press, der nach Eckartsau gekommen ist.
Hilfe aus Zürich
Dankbar nehmen die Kinder das Stückchen Schokolade an, das ihnen der Herr aus dem reichen Amerika mitgebracht hat. Lebensmitteltransporte nach Eckartsau werden unterwegs immer wieder überfallen und ausgeraubt. Zum Glück sind die Donauauen reich an Wild, das Fleisch der erlegten Tiere wird in der Schlossküche zubereitet. Und auch die Spanische Grippe macht vor den Bewohnern nicht halt. Kurz vor Weihnachten werden vier der Kaiserkinder krank. Den jüngsten, den "purpurgeborenen" Carl Ludwig, gerade einmal acht Monate alt, trifft es am schwersten. Aber alle überstehen die Grippe.
Auch Karl, 31 Jahre alt, ist schwer erkrankt und bettlägerig. Zur Bescherung am Heiligen Abend steht er auf, kann an der kleinen Feier aber nur in einem Fauteuil sitzend teilnehmen. Zita verteilt kleine Gaben an das Personal. Am meisten Angst macht der Familie die mangelnde Sicherheit. Rotgardisten würden ihrer nur zu gerne habhaft werden. Manchmal sind Morddrohungen am Parktor angebracht.
Die Weihnachtsfeiertage 1918 gehen still vorüber. Die meisten bleiben zu Hause. Was sollte man auch unternehmen? Schlechte Schuhe mit Holzsohlen, kaum Genießbares in den Gast- und Kaffeehäusern, Einschränkungen im Straßenbahn- und Bahnverkehr.
Kein Lichtblick? Doch: die Schweiz hat für die Hungernden in Wien Lebensmittel zur Verfügung gestellt. 120 Waggons warten an der Grenze in Buchs auf Genehmigung des Transports durch die Siegermächte. Die Stadt Zürich hat sogar einen Aufruf an ihre Bürger erlassen, zu den Feiertagen der darbenden Kinder Wiens zu gedenken und Geld zu spenden. Wien ist also nicht vergessen - ein echter Trost!
"Im Unterbewußtsein spukt eben etwas von Zukunftsgefühl. Es ist der uneingestandene Glaube, daß die Gegenwart, die allerdings ein unwirtlicher Nachtrag zum Kriege ist, nur kurz sein wird, und die gleichfalls unklare Vorstellung, daß man an ihr eilends vorüberleben muß, um bis zur nächsten scharfen Ecke zu gelangen, wo ein neues ganz helles Leben auf uns wartet", resümiert die "Neue Freie Presse". Hoffentlich ist das zu Weihnachten 1919 spürbar!
Edgard Haider, geboren 1949, ist Autor mehrerer Bücher mit Wien- und Architekturbezug, zuletzt "Wien 1918. Agonie der Kaiserstadt" (Böhlau Verlag).