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Haiti im Würgegriff von Staatsterror und Rebellion

Von Ines Scholz

Politik

Präsident Jean-Bertrand Aristide, selbst ernannter Retter Haitis und einstmaliger Hoffnungsträger der Demokratiebewegung, steht mit dem Rücken zur Wand, seit sich vor zwei Wochen die Kannibalen-Miliz im Norden des Landes gegen ihren einstigen Protegé erhob und nun Richtung Hauptstadt marschieren will. Was der politischen Opposition auch nach vier Jahren friedlicher Proteste nicht gelang, nämlich Aristide zu stürzen, könnte den ominösen Stoßtrupps aus Gonaives, deren Aufgabe bis vor kurzem noch darin bestand, in dessen Auftrag politische Gegner zu ermorden, durchaus gelingen. Hilfsorganisationen warnen angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände bereits vor einer humanitären Katastrophe. Das ärmste Land Lateinamerikas droht, wie schon so oft in der Geschichte seiner 200-jährigen Unabhängigkeit, in Elend und blutigem Chaos zu versinken.


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Am Beginn der Meuterei in der unscheinbaren Hafenstadt Gonaives stand ein politisch motivierter Mord. Kannibalen-Chef Amiot Metayer, einst glühender Aristide-Anhänger, hatte im vergangenen September damit gedroht, im Falle seiner Verhaftung über die mafiosen Machenschaften und Morde auszupacken, die seine und andere Schlägertrupps landesweit im Auftrag der Aristide-Entourage ausführen. Drei Tage später wurde seine Leiche tot aufgefunden. Bewaffnete hatten dem Bandenchef, der zuviel wusste, die Augen ausgeschossen und ihm dann eine Kugel durchs Herz gejagt - "auf Geheiß des Präsidenten", wie seine Gefolgschaft fest überzeugt ist.

Seither führen sein Bruder Buteur Metayer und der selbst ernannte Bürgermeister der Rebellenstadt, Etienne Winter, einen entschlossenen Feldzug gegen die Zentralmacht - und sind dabei kaum mehr aufzuhalten. Ein Dutzend Städte brachten sie mit ihrer in "Widerstandsfront von Gonaives" umbenannten Kannibalen-Armee im Norden des Landes bereits unter Kontrolle. Ihr Ziel: Der Sturm auf die Hauptstadt. "Wir werden die Waffen erst niederlegen, wenn Aristide weg ist", rief Winter aus. Als Nachfolger soll Buteur Metayer inthronisiert werden. Das politische Programm der Widerstandsfront dürfte sich damit aber schon wieder erschöpft haben.

Rückkehr der alten Garde

Auch ihre undurchsichtigen Seilschaften variieren fernab jeglicher Ideologie. Unterstützt werden die zwielichten Anführer seit dem Wochenende nämlich auch von Teilen der 1994 von Aristide aufgelösten Armee, darunter der wegen eines Putschversuchs im Jahr 2001 abgesetzte Polizeichef Guy Philippe sowie der aus dem Dominikanischen Exil herbeigeeilte Anführer der rechtsgerichteten paramilitärischen Miliz FRAPH, Louis Jodel Chamblain. Mit seinem mitgebrachten 20-köpfigen Stroßtrupp nahm er am Montag die 80.000-Einwohner-Stadt Hinche ein. Chamblains Rückkehr verheißt nichts Gutes. 1994, wenige Monate, bevor Aristide mit Hilfe der USA Raul Cedras' dreijähriges Militärregime beendete, hatte er in Gonaives' größtem Elendsviertel Raboteau noch schnell 25 Aristide-Anhänger bestialisch abgeschlachtet.

Pulverfass Port-au-Prince

Wie groß Metayers Rebellenheer insgesamt ist, lässt sich schwer sagen, es dürften mehrere Hundert Kämpfer sein. Bisher blieben die Aufstände, die bereits über 50 Todesopfer forderten, weitgehend auf Orte im Norden Haitis beschränkt. Nur vereinzelt kam es auch in der Hauptstadt Port-au-Prince zu revolteartigen Tumulten. In den Armenvierteln, die sich ohnehin fast über die ganze Stadt erstrecken, kann Aristide noch immer auf eine große Anhängerschaft zählen. Nach dem gleichen Muster wie in Gonaives kann aber auch hier die Stimmung leicht kippen. In dem Vorort Cité Soleil wurde der Tod eines regierungsloyalen Gang-Chefs Aristides Schergen angelastet, worauf blutige Massenunruhen gegen die Regierung ausbrachen. Aristide könnte sein System des Staatsterrors nun auf den Kopf fallen, da ihm die Anführer seiner Todeskommandos zunehmend gefährlich erscheinen und ihre Ausschaltung die Stimmung der Soldschläger gegen ihren ursprünglichen Auftraggeber richten.

Das Oppositionsbündnis Demokratische Konvergenz (CD/Convergeance Democratique), in dem die meisten Oppositionsparteien, Intellektuelle, das Gros der Unternehmerschaft und die katholische Kirche zusammengefasst sind, distanziert sich zwar entschieden von den gewalttätigen Ausschreitungen der revoltierenden Rebellen, hält aber Aristide selbst schon lange nicht mehr für tragbar. Die Allianz wirft ihm Korruption, persönliche Bereicherung und eine despotische Pseudo-Demokratie vor. Versuche, mit Massendemonstrationen den Präsidenten zum Rückzug zu bewegen, schlugen fehl. Aristide, der die Kundgebungen regelmäßig zu verhindern trachtet, indem er seine bewaffneten Anhänger ausschickt, kündigte kürzlich an, er werde bis zum Ende seines Mandats 2006 im Amt bleiben.

Vertane Chancen

Ein sehr unwahrscheinliches Szenario, zumal die internationale Staatengemeinschaft ihm die diesmal kalte Schulter zeigt. Die Bitte um Entsendung von Interventionstruppen, die ihm inmitten der sich ausweitenden Gewalt die Macht sichern sollen, schlugen ihm die USA bereits aus. Dabei hatten die Amerikaner Aristide einst als verheißungsvollen Garanten für Demokratie und politischen Anstand geradezu hofiert. Als dieser 1991, nur neun Monate nach seiner ersten Wahl, durch einen Militärcoup aus dem Amt gejagt wurde, boten sie ihm freimütig politisches Exil und setzten ihn drei Jahre später mit Hilfe von Truppen wieder auf den Präsidentensessel. Dies hatte vor und nach Aristide kein Linksideologe geschafft.

Die Hoffnung, dieser würde seine Versprechen einlösen und das durch die Schreckensherrschaft des Duvalier-Clans (1957-1986) und die Nachfolgediktaturen wirtschaftlich ruinierte, politsch völlig demoralisierte Land in eine neue Ära führen, erwies sich allerdings als bitterer Trugschluss. Der einstige Armenpriester interessierte sich weder für Programme zur Armutsbekämpfung noch für den Aufbau einer freien demokratischen Gesellschaft, sondern ausschließlich für den eigenen Machterhalt, den er sich im Jahr 2000 durch massiven Wahlbetrug sicherte. Die Europäische Union und die USA froren daraufhin die Hilfsgelder - 150 Mill. Dollar pro Monat - ein.

Aristide konnte damit gut leben. Er hat inzwischen ein beachtliches Privatvermögen angehäuft, das vor allem aus dem illegalen Drogenhandel stammen soll. Offenbar dem Größenwahn verfallen, lässt sich der Machhaber mittlerweile auch nur noch mit "seine Exzellenz" anreden und täglich mit dem Helikopter von seiner mit Mauern abgesicherten luxuriösen Prachtvilla zur Arbeit bringen. Das Volk vegetiert derweilen weiter in Blechhütten vor sich hin: 80 Prozent der 8 Millionen Haitianer leben in Armut, 60 Prozent sind unterernährt, 65 Prozent arbeitslos und nur 25 Prozent haben Zugang zu sauberem Wasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt knapp über 50 Jahre.

Humanitäres Desaster

Die Not der Bevölkerung wird nun durch die bürgerkriegsartigen Zustände weiter verschärft. Im Norden sind die Grundnahrungsmittel bereits knapp, weil sowohl die Aufständischen als auch Aristide-Anhänger mittels errichteter Straßensperren die Nachschubwege aus Port-au-Prince wie auch aus der Dominikanischen Republik blockieren. Wegen der gefährlichen Sicherheitslage wird es auch für Hilfsorganisationen immer schwieriger, in die Krisenregion vorzudringen. Dringend betreut werden müssten zudem Zehntausende Flüchtlinge, die in den Städten den meuternden Kämpfern zu entkommen suchen. Kaum noch gewährleistet ist auch die medizinische Betreuung der Verwundeten. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" schickte mehrere Ärzteteams und medizinisches Material in das Land.

Haitis Bischöfe richteten angesichts der eskalierenden Gewalt gestern einen eindringlichen Friedensappell an Regierung und Rebellen. Auch Frankreich, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Karibikgemeinschaft CARICOM drückten ihre tiefe Besorgnis über die Entwicklung in Haiti aus. Die Regierung in Paris will nun sogar die Entsendung einer Friedenstruppe prüfen. Ein Krisenstab wurde eingerichtet. Vor genau 200 Jahren hatten die Haitianer die einstige Kolonialmacht von der Sklaveninsel mit Stolz vertrieben, nun gilt sie vielen als allerletzter Rettungsanker.