"Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Auswandern oder Besetzung durch die USA", stammelte ein eben aus Trümmern geborgener Haitianer einem deutschen Reporter in die TV-Kamera. Mittlerweile tauchten die ersten Kostenschätzungen für den Wiederaufbau nach der Erdbebenkatastrophe auf: Von sieben Milliarden Euro aufwärts. Das ist vorerst zwingende Mega-Unfallchirurgie, der eine teure Langzeittherapie folgen muss, soll Haiti nicht der "gescheiterte Staat" bleiben, den das angesehene US-Magazin "Foreign Policy" sieht.
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Kerndaten belegen das: 50 Jahre Lebenserwartung, 50 Prozent Arbeitslosigkeit, 50 Prozent Analphabeten, an die 65 Prozent in Armut und das alles verschärft durch kriminelle Banden, von Korruption zerfressene Politik, Verwaltung und Justiz, Drogenhandel oder 14 Prozent Kindersterblichkeit. 1804 vertrieben schwarze Sklaven die französischen Kolonialherren und bildeten nach den USA die weltweit zweite "unabhängige Republik" - die erste der Schwarzen. Seither durchlitt diese Republik mindestens 113 Staatsstreiche, fast ausnahmslos vom "Kastensystem" verursacht. Denn nach der Unabhängigkeit usurpierten die Mulatten die Rolle der weißen Kolonialherren. Obschon nur etwa drei Prozent der Bevölkerung, bilden sie in beinahe jeder Hinsicht die Elite. Dagegen meutert immer wieder die erdrückende Mehrheit der Schwarzen. Den Ausschlag gibt jeweils, wer die relativ schwache Armee und die vielen kriminellen Banden auf seine Seite ziehen kann - dank endemischer Korruption.
Um solchen "Zufällen" vorzubeugen, schufen sich die (schwarzen) Tyrannen Duvalier Senior und Junior (1957 bis 1986) ein Gegengewicht mit den Tontons Macoutes, einer Mischung aus allgegenwärtigem Geheimdienst und brutaler Schlägerbrigade. Als der Junior 1986 gestürzt wurde, hatte er mit mindestens 400 Millionen Dollar aus der Staatskasse für ein elegantes Exil vorgesorgt - lateinamerikanischer Rekord.
Eine weitere Ursache der Dauerkatastrophe: Die "Elite" übernahm den französischen Landbesitz und bezahlte dafür jahrzehntelang mit Tropenholz. Langfristige Folge: Nur noch zwei Prozent des Landes sind Tropenwald, der riesige Rest ging durch "Landreformen" (auch) an das Volk. Das Bevölkerungswachstum - allein von 1955 bis 2008 von etwa vier auf neun Millionen - zerlegte aber den Landbesitz in immer kleinere Parzellen mit zunehmend ausgelaugten Böden. Daher kann sich Haiti nicht selbst ernähren. Mangels Wäldern richten zudem tropische Wirbelstürme - wie deren vier im Jahr 2008 - katastrophale Schäden an.
Von 1915 bis 1934 besetzten die USA Haiti, um das Chaos im Land zu beenden und US-Investitionen zu retten. Das änderte an der Dauerkatastrophe ebenso wenig wie die Stationierung von 10.000 UNO-Blauhelmen seit 2004, um einigermaßen Ordnung zu sichern.
So beispielhaft nun auch die weltweite Katastrophenhilfe an Haiti ist - wenn sie nach dem Wiederaufbau nicht in massiver Dauerhilfe mündet, bleibt Haiti ein "gescheiterter Staat".
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten."