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Eine Politik der Menschlichkeit und die Suche nach Mehrheiten dafür.
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Die Proteste gegen die von ihren Kritikern als "inhuman" bezeichnete Flüchtlingspolitik der ÖVP nehmen zu. "Nein zur Politik der Kälte" oder "Österreich hat Platz", stand jüngst auf zwei der immer wieder zu sehenden Transparente bei öffentlichen Kundgebungen (mit Corona-Abstand und Masken). Mit Solidaritätscamps wird auf die untragbare Situation der Menschen in den Zeltlagern in Tara Tepe oder Lipa aufmerksam gemacht. Die Abschiebung von drei Mädchen in der Nacht vom 28. auf den 29. Jänner, angeordnet von Innenminister Karl Nehammer, hat zu neuen Widerstandsformen geführt. Die Mitschüler und Mitschülerinnen eines der abgeschobenen Mädchen des Wiener Stubenbastei-Gymnasiums versuchten, mit gewaltfreiem Widerstand die nächtliche Abschiebung durch die Polizei zu verhindern.
Bundeskanzler Sebastian Kurz verteidigt sein Nein zur Aufnahme von Geflüchteten mit dem "Pull"-Effekt: Eine Aufnahme wäre das falsche Zeichen und würde weitere Flüchtlingsbewegungen auslösen. Angesichts der Dramatik in den Flüchtlingslagern wurde diese Sichtweise freilich als zynisch kritisiert. Vizekanzler Werner Kogler etwa sprach von einer Notsituation, also von Gefahr in Verzug. Innenminister Nehammer verteidigte die Abschiebungen mit dem geltenden Asylgesetz - auch dazu gab und gibt es Gegenmeinungen, etwa unter Verweis auf das Handeln gemäß dem Wohl der Kinder.
Das Schielen auf Mehrheiten
Bedeutender als diese rechtliche Auseinandersetzung ist aber wohl das Schielen auf Mehrheiten beziehungsweise das sogenannte Volksempfinden. Zwei Argumentationen spielen dabei eine Rolle: Für eine humane Flüchtlingspolitik demonstrieren ohnedies nur jene, die es sich leisten können. Die Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen habe derzeit andere Sorgen aufgrund der Corona-Krise, meinen viele. Andere fragen, was diese Proteste überhaupt bringen, solange es eben keine Mehrheiten in der Bevölkerung für die Forderungen gibt: Bei einer kürzlich durchgeführten Gallup-Umfrage waren
53 Prozent gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, selbst von Kindern. Und was hilft es den Menschen in den Flüchtlingslagern, wenn wir aus Solidarität mit ihnen auf öffentlichen Plätzen in Zelten in der Winterkälte übernachten? Wäre es nicht sinnvoller, für die Hilfe vor Ort zu spenden?
Was ist dem entgegenzuhalten? Dass viele Menschen derzeit große Zukunftssorgen haben, stimmt und macht eine offene Migrations- oder Flüchtlingspolitik nicht leichter. So ist die Zahl der Erstkontakte in den Sozialberatungsstellen der Caritas Wien zuletzt um 15 Prozent gestiegen. "Die Gesundheitskrise ist zur Sozialkrise geworden", stellte der Wiener Caritas-Direktor Klaus Schwertner jüngst in der "Wiener Zeitung" fest. Aber die Sorgen der Menschen können auch anders wahr- und ernstgenommen werden: indem man einen glaubwürdigen Plan für eine sozial und auch ökologisch tragfähige Post-Corona-Wirtschaft entwickelt und vermittelt, wozu auch die Heranziehung der Vermögenderen zur Finanzierung im Sinne eines Lastenausgleichs gehören würde. Auch dafür wären wohl Mehrheiten zu finden, denn die meisten Österreicher und Österreicherinnen zählen nicht zur Gruppe der Vermögenden.
Sichtbare Zeichen
Und auch die Frage nach dem rein symbolischen Protest ist falsch gestellt. Es geht um sichtbare Zeichen von Bürgern und Bürgerinnen, die zum Ausdruck bringen, dass sie mit der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik nicht einverstanden sind. Die Proteste bringen das Thema in die Öffentlichkeit und beeinflussen damit die öffentliche Wahrnehmung. Was obendrein das ebenfalls notwendige Spendenaufkommen für die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen drastisch erhöht hat.
Im Zusammenwirken mit den sich mehrenden kritischen Stellungnahmen von Sozialorganisationen, Kirche, Städten und Gemeinden, auch von Mitgliedern jener Partei, die die aktuelle Flüchtlingspolitik zu verantworten hat, ließe sich das Blatt möglicherweise wenden. So könnten Mehrheiten für die Menschlichkeit gefunden werden - denn die Meinung kann durchaus in Richtung der 47 Prozent umschlagen, die bereits jetzt einen anderen Kurs wünschen. So gesehen ist das Glas bald halb voll.