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Halb Slum, halb Paradies

Von Klaus Huhold

Reflexionen

Was früher London und Berlin waren, sind heute São Paulo, Lagos oder Bombay: Das rasante Wachstum dieser Metropolen hat auch neue Stimmen der Großstadtliteratur hervorgebracht.


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"Im Keller nistete die Ratte, / Parterre gab’s Branntwein, Grog und Bier, / Und bis ins fünfte Stockwerk hatte / Das Vorstadtelend sein Quartier." Mit diesen Versen umschrieb am Ende des 19. Jahrhunderts der naturalistische Lyriker Arno Holz die Massenarmut der Großstädte, in deren Mietskasernen das Industrieproletariat nach seinen Zwölf-Stunden-Schichten in feuchten, engen Zimmern hauste, ganze Familien von der Tuberkulose befallen waren und ausgemergelte Trinker an Straßenecken herumlungerten.

Wachstum und Tempo

Mit der Industrialisierung wuchsen die europäischen Metropolen rasant: Berlin etwa hatte 1840 rund 330.00 Einwohner, 1905 waren es dann zwei Millionen; Londons Bevölkerungszahl versechsfachte sich von 1800 bis 1900 - von einer Million auf rund sechs Millionen. Die in die urbanen Zentren strömende Landbevölkerung zog zumeist nur von einem Elend ins nächste.

In London tauchte bezeichnenderweise Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals das Wort Slum auf. Die Massenarmut der Städte zog damit als Thema in die Literatur ein - etwa in Texten von Charles Dickens, der auch selbst immer wieder die Londoner Slums durchstreifte. Sein 1838 erschienener Roman "Oliver Twist" führt in das damalige Elendsviertel Jacob’s Island. Mit der Armut geht auch immer Gewalt einher, verroht sind viele Figuren in "Oliver Twist" und Straßenkinder werden zu Dieben ausgebildet. Die Stadt hat so auch immer etwas Bedrohliches an sich.

Doch wurden die Metropolen nicht nur als Ort des Elends und der Gewalt gesehen, sondern auch als ein nervöses Spektakel für die Sinne.

Die Städte wurden elektrifiziert, Züge, Straßenbahnen und später auch Autos rauschten über neue Verkehrswege, die großen Boulevards waren voller Passanten - all das sorgte für eine Beschleunigung des Alltags, wobei das Ich immer Gefahr lief, in der Masse und im Tempo unterzugehen. Zudem nahmen Literaten die Stadt auch als Ort der Vielsprachigkeit wahr - der durch ihre Gassen streifende Spaziergänger hört an einer Ecke Alltagsslang, an der nächsten Hochsprache, an einem Plakat hängt eine knappe Werbebotschaft, an der Hauswand daneben ein elaboriertes politisches Manifest.

Vereint wurden all diese Motive in Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", der bis heute als eines der größten und innovativsten Werke der Großstadtliteratur gilt. Die Geschichte des aus dem Gefängnis entlassenen Franz Biberkopf, der nun ein anständiges Leben führen will, spielt in den Wohnquartieren, Trinkspelunken und überfüllten Straßen des Berliner Ostens, wo die Arbeiter, die Halbwelt und die Verarmten zu Hause sind.

Vielsprachigkeit

Döblin erzeugt Tempo und Vielsprachigkeit, indem er ständig die Perspektive wechselt: Fetzen von berlinernden Alltagsdialogen folgen plötzlich Schlagertexte, Zeitungsschlagzeilen oder Bibelzitate, die erlebte Rede wird durch innere Monologe durchbrochen.

Der 1929 erschienene Roman spiegelte die Entwicklung wider, die Berlin bis dahin durchgemacht hat. Aus einer verschlafenen preußischen Garnisonsstadt war ein Ballungszentrum mit "vier Millionen Menschen im Betrieb" geworden - so pries eine ebenfalls 1929 herausgekommene Broschüre zum Welt-Reklame-Kongress die Hauptstadt der Weimarer Republik an.

Heute aber wandeln sich die Städte nicht mehr vorrangig in Europa, sondern in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Dort findet vielerorts die nächste Industrialisierung statt, dort lassen Neuankömmlinge mit jedem Tag die Slums wachsen, dort werden neue Bauprojekte hochgezogen, Verkehrswege vernetzt und das Tempo gesteigert. Es sind Orte wie São Paulo, Lagos oder Bombay, in denen sich dieser Wandel vollzieht. Und auch diese Metropolen werden in Texten transportiert. Die Autoren finden dabei ihre eigenen Erzählweisen, gleichzeitig kehren viele Motive des historisch gewachsenen literarischen Großstadtdiskurses wieder.

Die Armut São Paulos

Für Furore und begeisterte Kritiken sorgte in Brasilien der 2001 erschienene Roman "Es waren viele Pferde" von Luiz Ruffato. Das Buch, das nun im Verlag "Assoziation A" auf Deutsch erschienen ist, spielt an einem einzigen Tag in São Paulo. Es gibt keinen klassischen Handlungsstrang, sondern nur 69 einzelne Szenen, die nicht miteinander verbunden sind. Ruffato entwirft ein Panorama der Schichten und Schicksale: Ehemalige Revolutionäre verwelken beim gemeinsamen Bier, ein verzweifelter Arbeitsloser kann sich nicht einmal die Windeln für sein Kind leisten, ein Arzt weigert sich, einen angeschossenen Kriminellen zu behandeln, weil dieser einmal mit vorgehaltener Pistole seine Familie überfallen hat.

Die Metropolregion São Paulo mit ihren 20 Millionen Einwohnern scheint immer wieder als Ort der Gewalt auf, in der jeder Opfer eines willkürlichen Mordes werden kann. Und häufig richtet der Autor, der selbst in einer mittellosen Migrantenfamilie aufwuchs und sich als Verkäufer, Textilarbeiter und Journalist verdingte, seinen Blick auf die Favelas, auf die zerlumpten Gestalten am Straßenrand, auf die schonungslose Armut - am eindringlichsten in einer Szene, in der eine Ratte an einem Baby nagt, während daneben die dreijährige Schwester hustet und friert, weil der sechsjährige Bruder die einzige Decke an sich gerissen hat. Daneben liegt die zahnlose Mutter, "die in einer Ecke leise stöhnt, die Augen weit aufgerissen unter dem Auf und Ab eines ausgemergelten, tätowierten Körpers, eines weiteren Unbekannten".

In den Favelas ist São Paulo eine Metropole der niedrigen Hütten, in den Geschäftsvierteln aber ist das brasilianische Wirtschaftszentrum eine Stadt der Hochhäuser. Der Roman nimmt diese verschiedenen Perspektiven ein, blickt von oben und unten auf São Paulo.

"die reichen sind nicht auf der straße die sind oben im hubschrauber bepissen sich vor lachen wie du und ich uns hier killen", sagt einer, der unten im Slum wohnt. Grammatikalische Regeln, Satzbau und -zeichen zählen bei Ruffato in manchen Passagen ebenso wenig wie eine lineare Handlung in dem gesamten Roman. Er findet für die verschiedenen Szenen immer wieder unterschiedliche Stile. Sprunghafte Assoziationen geben das nervöse Wahrnehmungsspektakel der Stadt wieder, etwa im Kapitel "Nacht": "Nun heftet sie sich an ein Paar, verwickelt sie in ein Gespräch, kniet sich hin, ich drücke die Zigarette am Boden aus, atme die Abendluft ein, gehe unter den Vordächern der Geschäfte weiter, betrunkene Bettler verkriechen sich in Pappkartons, abgemagerte Hunde wühlen in Müllsäcken, Taxifahrer spielen Stäbchenziehen."

Ständig scheinen neue Sprechweisen und Erzählformen auf, das Gestammel von Betrunkenen, Selbstgespräche, innere Monologe oder längere Erzählschleifen, selbst Kalendersprüche und Kontaktanzeigen werden in den Text montiert - ein Vorgehen, das durchaus an Döblin erinnert. Ruffato gelingt es dabei, auf wenigen Seiten ein einzelnes Schicksal so zu fassen, dass es unter die Haut geht. Die Figuren tauchen auf und verschwinden wie gehetzte Passanten auf dem Weg in die Büroschluchten, während sich São Paulo in einem wahnwitzigen Tempo weiterdreht.

Die Gewalt in Lagos

Der Nigerianer Chris Abani wählte für seinen Roman "GraceLand" keine so radikale Form. In diesem Buch gibt es noch eine Hauptfigur, den Jugendlichen Elvis, dessen Geschichte erzählt wird. Elvis lebt im Moloch Lagos.

Wenn es eine Stadt gibt, die den Ruf hat, fast sämtliche negativen Seiten der Dritte-Welt-Metropolen in sich zu vereinen, dann ist das Lagos. Die nigerianische Metropole wächst vollkommen unkontrolliert, geschätzt wird ihre Einwohnerzahl auf zehn Millionen, doch so genau weiß das niemand. Während die Villen in den Reichenvierteln scharf bewacht werden, stehen andernorts auf Stelzen gebaute Slumhütten über Abwässern. Die Behörden gelten als korrupt, die Kriminalität dieses Ballungszentrums ist berüchtigt, Raubüberfälle und Morde stehen auf der Tagesordnung.

All diese Phänomene gibt es seit Jahrzehnten, und auch Elvis aus "GraceLand" (der im Original 2003 erschienene Roman spielt in den 1980er Jahren) ist ihnen ausgesetzt. Wenn er das Fenster öffnet, weht der Geruch nach Abfall in sein Zimmer; Madame Caros Bar und Restaurant, der Treffpunkt in seinem Slum, ist eine "wackelige Baracke aus Holz und Zinkblech" über einem Sumpf, in den die Betrunkenen fallen. Das Lagos von Elvis ist eine Stadt des Alkoholdunstes, der überfüllten Busse, der fliegenden Händler, der Bettler und des Slangs.

Als Elvis das Markttreiben beobachtet, denkt er darüber nach, "wie er, wenn er Filmregisseur wäre, eine derartige Szene einfangen würde". Damit verrät Abani wohl auch einiges über sein eigenes Vorgehen. Die Szenen in der Megacity wechseln beständig, wie in einem Film setzt der Autor oft Schnitte; die Kamera, das sind die Wahrnehmungen von Elvis.

Kontrastiert werden die Passagen in Lagos mit Rückblenden auf die Kindheit von Elvis in der Provinz, die von einem etwas ruhigeren Erzählton getragen werden und in denen er noch stärker in einen Familienzusammenhang eingebettet ist - der aber auch genügend Abgründe bereit hält (so beobachtet Elvis, wie sein Onkel eine Cousine vergewaltigt).

Einen anständigen Ausweg aus der Misere halten Lagos und die Lebensumstände in Nigeria für Elvis nicht bereit: Als Elvis-Presley-Imitator wird er von den westlichen Touristen verlacht, als Gelegenheitsarbeiter auf Baustellen erniedrigt. Schließlich kommt er in Haft, wird gefoltert und wandert in die USA aus - ein Lebensweg, den er mit seinem Autor teilt, der selbst aufgrund seiner Schriften in Nigeria in Gefängnissen gequält wurde und nun an US-Universitäten unterrichtet.

Die Stimmen Bombays

Mit einem ganz anderen Zugang nähert sich wiederum der indisch-amerikanische Autor Suketu Mehta der Metropole. In seinem Buch "Bombay Maximum City" ist er als Reporter in der indischen Stadt unterwegs.

Mehta taucht in verschiedenste Welten ein und lässt Bombay durch die Stimmen seiner Bewohner sprechen - durch Mafiapaten, Polizisten, Schauspieler, Textilarbeiter, Taxifahrer oder Poeten. Dazwischen schiebt der Autor seine Reflexionen, ist einmal abgestoßen und dann wieder fasziniert vom Sog der Megacity. Mehta beschreibt die Narben von den Selbstmordversuchen der Nachtklubtänzerin Monalisa genauso detailliert wie die Intrigen in der Glitzerwelt Bollywoods. Der Text ist vieles in einem: literarische Reportage, politischer Essay, Studie verschiedener Milieus, manchmal liest er sich wie ein Kriminalroman.

Mehta, der Sohn einer Familie von Diamantenhändlern, ist selbst in Bombay aufgewachsen, wurde in den USA zum Journalisten und ist für das Buch wieder in die Stadt seiner Kindheit zurückgekehrt. Diese hat sich drastisch verändert und fordert Mehta immer wieder zu ganz grundsätzlichen Fragen heraus: Wie soll die Infrastruktur Bombays den steten Zuzug in die Stadt verkraften, wie sollen für 16 Millionen Einwohner genügend Toiletten zur Verfügung gestellt werden? Und wie weit kann die Brutalität der Heerschar frustrierter, unterprivilegierter Männer noch gehen?

Überhaupt durchzieht die Gewalt Text und Bombay wie ein roter Faden. Mehta berichtet über Foltermethoden der Polizei, besucht Auftragskiller, ist Chronist der Verteilungskämpfe unter den Armen und geht religiös motivierten Ausschreitungen nach. Moslems berichten über ihren Zorn, beklemmend ist die Szene, in der ein Hindunationalist erzählt, wie ein Moslem starb, den er angezündet hatte.

Bombay wird dabei zum Spiegelbild für die Metropole schlechthin, in der die Konflikte der Bewohner jederzeit explodieren können, in der die Glitzerwelt und Limousinen der Aufsteiger mit den Elendssiedlungen kollidieren, in der es andererseits auch Solidarität gibt, etwa wenn Slumbewohner gemeinsam für eine bessere Wasserversorgung kämpfen. Die dicht besiedelte Metropole ist eine Stadt, die ihren Bewohnern keine Intimität gönnt, in der ständig die Bedrohung des Einzelnen durch die Masse hervorbricht: "Im Wahnsinn eines Vorortzuges muss sich jeder einzelne aus der Herde, will er überleben, auf das besinnen, was ihn auszeichnet, und sich mit aller Kraft daran festhalten", schreibt Mehta.

Die Texte von Ruffato, Abani und Mehta beeindrucken allesamt durch ihre Fülle an Motiven, durch ihre Vielfalt an Sprechweisen, durch ihre virtuose Komposition. Sie zeigen, wie kreativ das gegenwärtige Schreiben über die Stadt ist, wie dort, wo die Metropolen rasant ihr Gesicht verändern, eine literarische Antwort auf diese Entwicklung gesucht wird.

Prinzip Ambivalenz

Die Beziehung zur Metropole ist in den Texten oft ambivalent, bei allem Elend, das die Stadt bereithält, ist sie auch ein Ort der Hoffnung und der Faszination. Das zeigt sich etwa in dem eindrucksvollen Porträt "Babbanji: der Außreiserpoet", das Mehta in "Bombay Maximum City" einflicht.

Babbanji ist ein sechzehnjähriger Jugendlicher, der aus dem rückständigen Bundesstaat Bihar nach Bombay gekommen ist. Er schlägt sich auf der Straße durch, ihm bleibt oft nur der Gehsteig zum Schlafen; kaum hat er etwas Geld übrig, kauft er sich Bücher. Obwohl Bombay ihm ständig Entbehrungen abverlangt, ist die indische Metropole der Ort, der ihm Stoff zum Schreiben gibt und damit seinen Traum, Schriftsteller zu werden, nährt.

Und in Chris Abanis "GraceLand" heißt es beim Anblick der Stadt Lagos: "Halb Slum war sie, halb Paradies. Wie nur konnte ein Ort so häßlich und so sehr von Gewalt geprägt sein, und gleichzeitig so schön (. . .)"

Klaus Huhold, geboren 1977, lebt in Wien und arbeitet als Redakteur im "Europa@welt"-Ressort bei der "Wiener Zeitung".

Literatur:Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde.Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Berlin 2012, 160 Seiten.Chris Abani: GraceLand.Aus dem Englischen von Thomas Brückner. C. H. Beck, München 2004, 451 Seiten.Suketu Mehta: Bombay Maximum City.Aus dem Englischen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2006, 781 Seiten.