Gastkommentar: Geht es nach ihrem Präsidenten, soll die EU-Kommission gegenüber dem Rat massiv an Einfluss gewinnen.
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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat jüngst weitreichende Vorschläge zur Vervollkommnung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) vorgelegt. Laut seiner Aussage dient dies dazu, die Einheit der WWU zu stärken, ihre Effizienz zu verbessern und die demokratische Legitimität zu erhöhen. Die neuen Vorschläge, die auf bereits bestehenden Initiativen aufbauen, sind als institutionelle und inhaltliche Antwort auf Schwächen der WWU gedacht, die in der seit 2008 (nunmehr angeblich beendeten) Krise sichtbar geworden sind.
Konkret geht es um die Erweiterung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem Europäischen Währungsfonds, die Integration der diversen Ausformungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in den Europäischen Rechtsbestand, neue Budgetinstrumente zur Stabilisierung des Euro sowie solche, die Strukturreformen unterstützen sollen, und die Installierung eines Europäischen Finanzministers.
Juncker zufolge sind all diese Schritte möglich, ohne die EU-Verträge zu ändern. Mit diesen Einzelvorschlägen hat die Kommission auch einen EU-Fahrplan für die kommenden 18 Monate vorgelegt - in diesen Zeitraum fällt auch die österreichische EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 -, innerhalb dessen die vorgeschlagenen Schritte durchgeführt werden sollen.
Seither haben sich bereits einige europäische Finanzminister zu Wort gemeldet, die Teile dieser Vorschläge ablehnen, sowohl aus inhaltlichen als auch aus machtpolitischen Gründen. Folgt man nämlich Juncker, so würde die EU-Kommission bei Annahme dieser Vorschläge gegenüber dem Rat massiv an Einfluss gewinnen: Derzeit ist die Eurogruppe ein nicht im EU-Vertrag vorgesehenes "informelles" Gremium, bei dem die Minister den Ton angeben. Durch die Vorschläge bekäme die Kommission deutliche Einflussmöglichkeiten. Derzeit ist der ESM außerhalb des EU-Budgets ein Instrument des Rates (der Eurogruppe), dann würde es zum Instrument der Kommission. Der Vorschlag, den Eurogruppenvorsitz mit dem für Wirtschaft und Finanzen zuständigen EU-Kommissar zusammenzulegen, würde die Kommission stärken. Gleichzeitig würden Junckers Vorschläge die derzeitige, relativ klare Kompetenzaufteilung zwischen Kommission und Rat durch die Doppelzuständigkeit des Finanzministers verwischen.
Kleine Länder wie Österreich haben immer großes Interesse an einer stärkeren Position der EU-Kommission, da diese gehalten ist, gesamteuropäisch zu entscheiden. Dabei kommt das Gewicht der großen EU-Staaten weniger zum Tragen als im Rat.
Einseitige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik
Ob Österreich Junckers Vorschlägen positiv entgegentreten sollte, hängt jedoch nicht nur von dieser Schutzfunktion der EU-Kommission für die Kleinen ab, sondern von der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Soll heißen: Solange in der EU-Kommission die Gruppenmeinung vorherrscht, dass Budgetkonsolidierung und Senkung der Staatsschuldenquote, zusammen mit marktfreundlichen Strukturreformen, weiterhin die Hauptstoßrichtung der EU-Wirtschaftspolitik bilden sollten, stellt eine weitere Stärkung der Kommission eher eine Drohung als ein Positivum dar. Die Meinungen im Rat sind doch (etwas) differenzierter, und hier könnte Österreich (wenn Finanzminister und Kanzler dies so wollten) im Rat Bundesgenossen suchen (und finden), die einer ausgewogeneren Wirtschaftspolitik - etwa im Rahmen des "magischen Fünfecks" Wachstum, Arbeitslosigkeit, Inflation, Außengleichgewicht und Budgetsaldo - das Wort reden, statt nur eines der Ziele zu verfolgen.
Das Paradoxon dieser ganzen Übung Junckers ist ja, dass man sich in der Kommission zwar Gedanken über die institutionellen Schwächen der WWU gemacht hat (das ist grundsätzlich positiv), aber keinen Gedanken daran verschwendet, ob die Einseitigkeit der auf Budgetkonsolidierung ausgerichteten Wirtschaftspolitik nicht auch signifikant dazu beigetragen hat, dass die WWU erst zehn Jahre nach Beginn der Krise die Wirtschaftskraft von vorher erreicht hat. Und trotz des nunmehr gefeierten Fortschritts der Wachstumsraten ist noch eine ganze Reihe von Ländern mit extrem hohen Arbeitslosenraten und sozialer Desintegration belastet.
Die EU-Länder und Mitglieder der WWU sind 2017 deutlich "ungleicher" als im Krisenjahr 2008. Die vielbeschworene "Konvergenz" hat nicht stattgefunden. Die Auseinandersetzung mit der Frage, warum dies so ist und ob nicht verfehlte Wirtschaftspolitik ganz deutlich zum Misserfolg beigetragen hat, sollte eine Vervollständigung der WWU begleiten.
Eigentlich sollte zuerst eine solche Rückschau-Analyse erfolgen, um aus der inhaltlichen Fehlerbehebung dann die nötigen institutionellen Reformen abzuleiten. Positiv an Junckers Vorschlägen ist, dass die Kommission nun endlich einsieht, dass die WWU als Wirtschafts- und Sozialraum mehr ist als nur die Summe der einzelnen Mitgliedstaaten, dass eine "eigene" WWU-Politikentwicklung nötig ist, die dann natürlich "interaktiv" auf die einzelnen Länder umzulegen ist.
Die WWU ist eben nicht nur "ce qui reste", sondern ein eigenständiger Wirtschaftsraum mit eigenständiger Währung und gemeinsam zu gestaltender Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Zum Autor
Kurt Bayer
ist Ökonom.
Er war Board Director in Weltbank (Washington) und EBRD (London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium. apa/Grünwald