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Hand drauf oder starke Hand?

Von Simon Rosner

Politik

Der Kompromiss ist ein Fundament der Zweiten Republik. Doch er ist als politische Maxime diskreditiert.


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Es schaut nicht gut aus. Gleich mehrfach hat sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen dazu veranlasst gesehen, mahnende und kalmierende Worte an die wahlwerbenden Politiker zu richten. Man kann davon ausgehen, dass seine Vorgänger es ähnlich gehalten hätten. Es gibt ein Leben nach dem Wahltag, es wird einen neuen Nationalrat, eine neue Regierung, eine neue Koalition geben. Und es wird die Notwendigkeit geben, zusammenzuarbeiten, das Verbindende zu suchen, also: Kompromisse zu schließen. Aber wollen wir das überhaupt?

Angenommen, Sie lesen - zum Beispiel in dieser Zeitung - folgende Satz: "Die Koalition hat sich nach langen Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt." In der politischen Berichterstattung ist so eine Formulierung naheliegend. Der Kompromiss, in diesem Fall zwischen Regierungsparteien, ist in einer parlamentarischen Demokratie das logische Ergebnis von politischen Prozessen.

Doch wird ein solcher Satz tatsächlich als Erfolgsmeldung verstanden? Woran denken Sie bei dieser Formulierung? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Assoziation eher in Richtung "fauler Kompromiss" geht. Wieder einmal! Der Kompromiss ist als Zielsetzung eines Aushandlungsprozesses längst diskreditiert und nicht mehr dessen wünschenswertes Ergebnis.

Vor allem für dieses Land mit seiner Geschichte ist das von Bedeutung. In gewisser Weise stellt der Kompromiss nämlich ein Fundament der Zweiten Republik dar, strukturell und institutionell. Das beginnt beim Repräsentationsprinzip, dem Verhältniswahlrecht. Absolute Mehrheiten sind dabei die Ausnahme, es müssen also Koalitionen gefunden und damit Kompromisse eingegangen werden.

Ein österreichisches Spezifikum ist, dass die Nachkriegszeit zunächst gleich einmal von einer All-Parteien-Regierung eröffnet wurde, der unmittelbar danach die erste von drei langen Perioden einer großen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP folgte. Das war in Deutschland nicht der Fall. Der Kompromiss in der Repräsentation war auch eine Antwort dieser noch jungen Zweiten Republik auf das politische und gesellschaftliche Klima ihrer Vorgängerin, der Ersten Republik, die in einem Bürgerkrieg den Anfang vom Ende gefunden hatte. Die Gründung der Sozialpartnerschaft sollte diesen gelebten Kompromiss noch vertiefen und auch institutionalisieren. Die ersten bedeutsamen Schritte, die von Wirtschafts-, Arbeiter- und Landwirtschaftskammer sowie dem Gewerkschaftsbund ausgehandelt wurden, waren die insgesamt fünf Lohn-Preis-Abkommen, um die hohe Inflation zu bekämpfen. Und zwar gemeinsam.

Man darf nicht vergessen: Noch bis zur letzten Regierung Bruno Kreiskys saßen Minister auf der Regierungsbank, die während des Austrofaschismus inhaftiert waren. Das ist schon sehr beachtlich. Wie war da eine Zusammenarbeit überhaupt möglich? Heute scheint eine neue Auflage einer Koalition von SPÖ und ÖVP bereits aufgrund zweier Facebook-Seiten undenkbar.

Der "österreichische Traum"

Dieser Konflikt und generell der hitzige Wahlkampf war natürlich nur das unrühmliche Finale furioso eines schleichenden Auseinanderlebens der beiden Parteien, das einen großen Beitrag zur Diskreditierung des Kompromisses leistete. Wo waren denn in jüngerer Vergangenheit die Aushandlungsprozesse, die in der Sache vielleicht hart geführt waren, aber am Ende mit einem Handschlag und beidseitigem "Wir haben etwas erreicht" beendet wurden? Zwischendurch hieß es immer nur, man müsse "besser kommunizieren", hätte die Erfolge schlecht verkauft. Ja, eh.

Diese für das Land und seine Gesellschaft prägende Koalitionsform ist durchaus als Erfolgsgeschichte zu bewerten. In Zeiten der Not, unmittelbar nach dem Krieg, hat sie den Zusammenhalt gestärkt, in jenen des wirtschaftlichen Aufschwungs durch sozialpartnerschaftliche Verhandlungen den wachsenden Wohlstand fair verteilt. In Abgrenzung zu seiner US-amerikanischen Variante hat der "österreichische Traum" nicht den Weg zum Reichtum vorgesehen, sondern zum kleinen Glück, dafür nicht für Einzelne, sondern für möglichst viele. Das kleine Glück, das war Sicherheit und Wohlstand; das war ein bescheidenes, aber gutes Leben, versinnbildlicht etwa durch den Schrebergarten. Doch selbst dieser hat es heute schwer, seit seinen Bewohnern despektierlich eine bestimmte "Mentalität" zugeschrieben wird.

Ein Erfolg dieses auf Kooperation fußenden Politikverständnisses ist nun aber auch eine Ursache für dessen Schwinden. Die auch nach dem Krieg tiefen Gräben zwischen rotem und schwarzem Lager bei der Stammwählerschaft, der die politische Elite ostentativ die Zusammenarbeit entgegenstellte, sind weitgehend verschwunden. Je härter aber der Wettbewerb um jede Stimme geworden ist, desto schwieriger wurde das Koalieren.

Es geht nicht ums Gewinnen

Natürlich gab es früher viel mehr zu verteilen, das erleichterte Lohnverhandlungen, Steuerreformen und Pensionserhöhungen. Und wenn die Konjunktur einmal ungünstig war, wurden eben mehr Schulden gemacht, um keine Verteilungskonflikte aufkommen zu lassen. Bei Steuerreformen mussten deshalb immer alle bedacht werden, was naturgemäß teuer ist. Dafür musste sich niemand benachteiligt fühlen. Das bewusste Umschiffen von möglichen Konflikten hat immer auch zur rot-schwarzen Kooperation gehört. Bloß keinen Streit aufkommen lassen.

Bei der letzten Steuerreform ging das nicht mehr, die Defizitregeln der EU machten eine Gegenfinanzierung notwendig, die sehr lange und sehr mühsam errungen wurde, die ÖVP einen Parteiobmann kostete und schwer verärgerte Gruppen zurückließ. Während die SPÖ sich und die Entlastung feierte, mussten sich einige Schwarze in geradezu meditativer Zurückhaltung üben.

Die Steuerreform war nicht die Ausnahme, bei den meisten koalitionären Beschlüssen lief es so. Zielsetzung war nicht ein Kompromiss, der beide Seiten zu gleichen Teilen zufriedenstellte, sondern der Sieg über den Partner. Und sei dieser nur symbolischer Natur. Doch Verhandlungen dieser Art lassen eben auch (gefühlte) Verlierer zurück, die sich dann schwören, beim nächsten Mal zu triumphieren. Und das geht nicht lange gut.

Klarerweise gibt es Themen, in denen es die Mitte nicht gibt, am Ende ein Ja oder Nein stehen muss und Kompromisse unmöglich sind. Die "Ehe für alle" wäre so ein Beispiel. So etwas lässt sich grundsätzlich mit Junktimen lösen. Einmal ihr, einmal wir. Aber auch ein solcher Abtausch ist diskreditiert und wird von der Opposition kritisiert. Dabei ist das nichts Verwerfliches, keine Partnerschaft könnte sonst funktionieren. Man kann nun einmal nicht gleichzeitig ins Kino und ins Theater gehen, aber sehr wohl einmal da hin, einmal dort hin.

Das Miteinander schwindet

Wie bei (guten) Kompromissen ist aber auch hier das Wollen eine Grundvoraussetzung und der Respekt der Interessen des Gegenübers. Im Bereich der Sozialpartnerschaft ist das nicht anders. Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden immer unterschiedliche Bedürfnisse haben, doch auch da hat sich viel verschoben, wie Lohnverhandlungen zeigten. Vorbei sind die Zeiten, als bei den Metallern die Chefverhandler Rudolf Nürnberger und Hermann Haslauer zwischendurch zur emotionalen Abkühlung über Modelleisenbahnen geplaudert haben, ein gemeinsames Hobby. Sie haben das Verbindende gesucht, um sich danach wieder den Lohnverhandlungen zu widmen. Dieses Miteinander ist aber auch bei den Sozialpartnern im Schwinden begriffen - wie in den Parteien selbst.

SPÖ und ÖVP haben als Volksparteien auch intern Interessenausgleich leben müssen. Die zunehmende Individualisierung und auch Optimierung hat das nicht leichter gemacht, wobei es die ÖVP mit ihrer bündischen Struktur vermutlich noch mehr betraf. Es ist verständlich, dass sich Sebastian Kurz aus seiner Erfahrung heraus weitreichende Befugnisse als Parteichef ausbedungen hat. Er hat die Hochblüte funktionierender Kooperation nicht miterlebt, dafür laufende Wechsel an der Parteispitze.

Es ist aber irgendwie auch bezeichnend, dass selbst ein so ambitionierter Jungpolitiker offenbar gar nicht daran denkt, dass er ein besserer Moderator divergierender Interessen in seiner Partei sein kann und mehr Führungsstärke hat als seine Vorgänger. Diese ist für Kompromisse natürlich wichtig, denn es bedarf auch Stärke, nachgeben zu können.

Kurz und auch Kanzler Christian Kern sprechen sich zudem persönlich für ein Mehrheitswahlrecht aus (es ist nicht Parteilinie). Das lässt sich auch als Kapitulation auslegen. Offenbar glauben beide nicht mehr, dass eine Rückkehr zur gedeihlichen Kooperation in Zukunft gelingen kann. Das wäre ein bedenklicher Befund. Es wäre nämlich Aufgabe der Politik, die gesellschaftliche Wichtigkeit von Kompromissen vorzuleben - gerade in Zeiten von Selbstoptimierung und "Mach keine Kompromisse"-Werbeslogans.

Ruf nach Mehrheitswahlrecht

Ein Mehrheitswahlrecht wäre nicht das Ende der Welt, zahlreiche Länder haben es und leben gut damit. Und die Sozialpartnerschaft ist ohnehin ein Unikum. Aber zu glauben, dass es keine gesellschaftlichen Auswirkungen hätte, wenn sich Österreich vom Kompromiss als politischer Maxime verabschiedet, ist naiv.

Natürlich würde das zu mehr und nicht zu weniger Polarisierung führen, weil da es dann eben nur mehr ums Gewinnen geht. Eine Zunahme der Konflikte wäre die Folge. Stadt gegen Land, Alt gegen Jung, Arm gegen Reich, Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer. Auch hier: Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein, aber eine Gesellschaft muss das auch aushalten. Während in Großbritannien zum Beispiel das Debattieren bereits in Schulen gelehrt wird, ist Streit in Österreich grundsätzlich negativ konnotiert. Eine konfliktbasierte politische Kultur passt nicht zu diesem Land.

In den USA trat Donald Trump mit dem Versprechen an, acht Jahre Obama zurückzudrehen. Auch das ist eine Form von Ausgleich. Aber ist das besser? Während sich anderswo die Erkenntnis durchzusetzen scheint, dass Kooperation langfristig oft zu besseren Ergebnissen führt als Konkurrenz, weicht Österreich sukzessive von diesem Weg ab. Auch die Sozialpartnerschaft war in diesem Wahlkampf mehr in der Diskussion als je zuvor. Dabei könnte sich Österreich als Vorreiter fühlen, als Land, in dem es die Politik als ihre Aufgabe versteht, Kompromisse anzustreben, die von breiten Teilen der Gesellschaft getragen werden.

Als Land, in dem das Gemeinsame über das Trennende gestellt wird. Eigentlich könnte man darauf stolz sein.