Der Zeithistoriker Herwig Czech im Interview über die Arbeit des Heilpädagogen Hans Asperger während der NS-Zeit.
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Wiener Zeitung: Hans Asperger zählt zu den international bekannten österreichischen Ärzten, man weiß aber nur wenig von ihm. Worauf führen Sie diese zeitgeschichtlichen Lücken zurück? Liegt es an seinem ambivalenten Verhältnis zum Nationalsozialismus?
Herwig Czech: Zum einen ist Hans Asperger tatsächlich einer der wenigen, dessen Nachname es im englischsprachigen Raum in die Alltagssprache geschafft hat, vor allem durch die Vorstellung von grenzgenialen und genialen Autisten. Die populärkulturelle Phantasie rund um den Autismus-Komplex hat dort offensichtlich stärker gewirkt als bei uns. Zum anderen gibt es über Asperger während der NS-Zeit nur verstreut historische Publikationen, die Informationen sind oft in Fußnoten versteckt und daher nur Spezialisten zugänglich.
Generell dominiert bis heute bezüglich Hans Asperger eine leicht apologetische Richtung: er hätte zum Nationalsozialismus völlige Distanz gehalten. Er war ja ein deklarierter und organisierter Katholik, und dass der Katholizismus gegen den Nationalsozialismus immunisiert hätte, das ist ein Mythos, der in Österreich weit verbreitet ist.
Auch weiß man, dass Asperger in den 1930ern unter anderem Mitglied beim Bund Neuland war.
Laut Einschätzung von Ernst Hanisch ist der Bund Neuland als Teil des rechten deutschnationalen Randes des österreichischen politischen Katholizismus einzuordnen. Da herrschte eine Mischung aus Wandervogel-Ideologie, eine diffuse Aufbruchstimmung, gepaart mit Deutschtümelei und antisemitischen Vorstellungen sowie einer klaren Frontstellung gegenüber Liberalismus, Marxismus, und allen kulturellen Einflüssen der Moderne, die man sich als den Katholizismus zersetzend vorstellte.
Es gab damals wichtige Konfliktlinien zum explizit rechtsextremen oder nationalsozialistischen Lager, vor allem was die Rolle der Kirche betrifft und die öffentliche Funktion von Religion. Aber es gab durchaus auch Überschneidungen.
Während des Austrofaschismus – welche Rolle spielte er da?
Er wurde 1934 Mitglied der Vaterländischen Front. Das kann man bei jemandem, der berufliche Absichten im Bereich der Stadt Wien und des öffentlichen Dienstes hatte, durchaus als Anpassungsleistung oder Opportunismus interpretieren. Außerdem war er bei der St. Lukas-Gilde, einer Ärztevereinigung, die unter anderem versuchte, eine katholische Version von Eugenik zu etablieren.
Worin unterschied sich diese von der der Nationalsozialisten?
Beide verfolgten auf lange Sicht Aufwertung des Erbgutes und die Vermeidung von Erbkrankheiten. Nach der katholischen Morallehre gab es aber gewisse Einschränkungen, was an eugenischen Maßnahmen erlaubt war. Im Rahmen dieser versuchten ihre Anhänger, eine eigenständige katholische Eugenik zu etablieren. Da war Asperger vor allem als Delegierter des Bundes Neuland sehr aktiv. Im Unterschied zu den Nationalsozialisten setzten die Katholiken nicht auf unmittelbare Zwangsmaßnahmen sondern auf Erziehungsarbeit, freiwillige Enthaltsamkeit in Fällen, wo man Erbkrankheiten erwarten konnte, oder auf eugenisch orientierte Partnerwahl. Sterilisierung, Abtreibung, bewusste Empfängnisverhütung waren nicht erlaubt. Das war die allgemeine ideologische Tendenz der katholischen Eugenik. Wie sich das in konkreten Positionierungen äußerte, ist etwas anderes.
1924 wurde an der Universität Wien die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege gegründet. War Hans Asperger darin involviert?
Es gibt meines Wissens keine vollständigen Mitgliederlisten dieser Gesellschaft. Asperger hat auch nie angegeben, dass er da Mitglied gewesen wäre. Das wäre zu diesem Zeitpunkt wegen seiner katholischen Einstellung wahrscheinlich eine zu radikale Richtung gewesen.
Was wir wissen ist, dass er 1932 im deutschen Schulverein Südmark, eine deutschnationale kulturpolitische Vereinigung, Mitglied war, und seit 1934 beim Verein deutscher Ärzte in Österreich. Diese Vereinigung hatte eine deutliche antisemitische Stoßrichtung: Sie propagierte einen Numerus Clausus für jüdische Studierende und versuchte, den Einfluss jüdischer Studierender und Mediziner zurückzudrängen. Da war Asperger klar positioniert. Innerhalb der nicht-jüdischen Ärzteschaft waren das durchaus verbreitete Einstellungen.
Ist von Asperger nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich die Rede, so wird meist sein Einsatz für seine "autistischen Psychopathen" in den Vordergrund gestellt. Im Oktober 1938 sprach er sich dafür aus, ihnen die größtmögliche Förderung zuteilwerden zu lassen.
Bevor man das zu einem Akt des Widerstands stilisiert, muss man wissen, dass die Förderung der "förderungswürdigen" Kinder mit der Praxis der Heilpädagogik im Nationalsozialismus durchaus im Einklang war. Das war auch das deklarierte Ziel von denjenigen Ärzten, die beispielsweise im Zentrum des Euthanasiekomplexes standen: Es ging immer darum, diejenigen, denen man ein Maximum an Therapien und an Förderungsmöglichkeiten zukommen lassen konnte, von denen zu scheiden, wo diese Bemühungen fruchtlos schienen. Dieses Werturteil kam in der Selektion oder im Gutachten zum Ausdruck: ist es gerechtfertigt, ist es aussichtsreich, ein bestimmtes Kind zu fördern oder nicht.
Asperger stand nicht im Widerspruch zu diesem Paradigma insgesamt. Es entsprach auch der Tendenz in der Psychiatrie und nicht nur in der Heilpädagogik: Seit den 1930er Jahren versuchte man, sogenannte aktive Therapien zu fördern. Man wollte von der Psychiatrie als Aufbewahrungsstätte von offenbar vor sich hinvegetierenden Patienten und Patientinnen wegkommen. Ein Schritt in diese Richtung war die Arbeitstherapie mittels Aktivierung und Beschäftigung, ab den 1930er Jahren auch die Entwicklung von verschiedenen Schocktherapien.
Was Asperger betrifft, so stellte er sich auf die Seite einer spezifischen und insgesamt relativ kleinen Gruppe von Patienten und Patientinnen, die er aktiv förderte.
Und wie verhielt er sich gegenüber den "förderungsunwürdigen" Kindern?
Wenn wir uns an seine Publikationen halten, gab es Zustände, Diagnosen, Syndrome, wo die Aussichten schlechter sind, und er zögerte nicht, das auch zu sagen. In einem Fall können wir ganz konkret nachzuvollziehen, dass er 1941 ein Kind mit diagnostizierter Postenzephalitis (d.h. das Gehirn erlitt durch Entzündung Schädigungen) auf den Spiegelgrund schickte, das dort umkam. Und offenbar wusste die Mutter Bescheid, was da passieren sollte. Es gab da scheinbar ein stilles Einverständnis, das Kind diskret zu beseitigen.
Weiß man, wie viele Kinder von der heilpädagogischen Abteilung auf den Spiegelgrund überstellt wurden?
Grundsätzlich gab es zahlreiche Überstellungen von der Kinderklinik, ein Teil davon waren Patienten von Asperger, aber wir reden hier von Einzelfällen. Von sieben oder acht Kindern weiß man, dass sie von seiner Abteilung überstellt wurden. Bis auf das erwähnte Mädchen haben diese den Spiegelgrund überlebt.
Hans Asperger soll selbst gesagt haben, dass er dem Gesundheitsamt die damals sogenannten "Schwachsinnigen" nie gemeldet hätte.
Vielleicht waren das auch keine Meldungen an das Gesundheitsamt, sondern Überweisungen auf den Spiegelgrund. Außerdem war Asperger direkt als Referent im Hauptgesundheitsamt tätig. Insofern ist diese Trennung nicht aufrechtzuerhalten. Und er war auch Gutachter für die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), für Jugendgerichte, für die Hitlerjugend. Er war Teil dieses Apparats.
Gibt es in seinen Schriften auch direkte Bezüge auf Eugenik? Hat er dazu je klar Stellung bezogen?
Er hat sich natürlich zu dieser Frage geäußert. Zum Beispiel 1938: "Wir stehen mitten in einem gewaltigen Umbau unseres geistigen Lebens, der alle Gebiete dieses Lebens ergriffen hat, nicht zum wenigsten die Medizin. Der tragende Gedanke des neuen Reiches, das Ganze ist mehr als der Teil, das Volk wichtiger als der einzelne, musste hier, weil es um das kostbarste Gut der Nation, um seine Gesundheit geht, in unserer ganzen Einstellung zu tiefgreifenden Veränderungen führen."
In diesem Zitat wird sein grundsätzliches Bekenntnis zu dem Paradigmenwechsel, den der Nationalsozialismus mit sich brachte, deutlich.
Aber danach kommt so ein vorsichtiger Schwenk, eine Abkehr: "Es ist nicht meine Absicht, hier des genaueren auf die Änderungen gerade im besonderen Gebiet der Psychopathologie des Kindesalters einzugehen. Sie wissen, mit welchen Mitteln man danach strebt, die Weitergabe krankhaften Erbgutes - in sehr vielen die hierher gehören handelt es sich um erbliche Störungen – zu verhindern und die Erbgesundheit zu fördern. Wir Ärzte müssen uns den Aufgaben die uns gerade auf diesem Gebiet erwachsen, mit voller Verantwortung unterziehen."
Er schreibt sich sicher in diesen Diskurs von damals ein, aber gleichzeitig sieht man auch eine gewisse Relativierung.
An einer anderen Stelle finden wir 1939 wiederum einen Beitrag: "So wie der Arzt bei der Behandlung des einzelnen oft schmerzhafte Einschnitte machen muss, so müssen auch wir aus hoher Verantwortung Einschnitte am Volkskörper machen. Wir müssen dafür sorgen, dass das, was krank ist und diese Krankheit in fernere Generationen weiter geben würde, zu den einzelnen und zu des Volkes Unheil an der Weitergabe des kranken Erbgutes verhindert wird." Das ist an diesem Punkt schon ein klares Bekenntnis zur Eugenik nationalsozialistischer Prägung.
Anhand der Quellen insgesamt zeigt sich, dass man nicht durchwegs davon sprechen kann, dass er in einer Oppositionshaltung zur offiziellen Linie der Rassenhygiene stand. Aber es findet sich auch keine begeisterte Zustimmung. Seine Prioritäten sind eigentlich andere, vermutlich dieselben wie vor 1938 - und auch nach 1945: seine Patienten. Gleichzeitig muss man natürlich sehen, dass er 1938 eine ganze Reihe von Anpassungsleistungen vollbrachte und dass diese auch belohnt wurden.
Die waren?
Um sich zumindest abzusichern, trat er einer Reihe von Organisationen bei: im April 1938 der deutschen Arbeitsfront und im Mai der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Hegte man damals Karrierepläne in der Medizin, kam man um beide nur schwer herum. Im Juni 1938 bewarb er sich auch als Anwärter für den nationalsozialistischen deutschen Ärztebund: das war keine Berufsvereinigung, sondern er verstand sich als die ideologische Speerspitze der Partei innerhalb der Ärzteschaft. Asperger konnte letztendlich kein ordentliches Mitglied werden, weil ihm dazu die Parteimitgliedschaft fehlte. Aber er bewarb sich.
Asperger verschaffte sich durchaus einige Mitgliedschaften, ohne sich nicht besonders zu engagieren. Auch die politischen Beurteilungen über ihn in den Gauakten zeigen, dass seinem beruflichen Fortkommen keine Hindernisse im Weg lagen - wiederum ohne dass da besondere Begeisterung daraus gesprochen hätte.
Was weiß man über seine weiteren Tätigkeiten, die er ausübte?
Er war für die Stadt Wien und für die Partei als Gutachter für die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) tätig. Es ist leider nicht klar, wie viel er konkret gemacht hat. Sicher ist, dass die NSV Gutachter brauchte, weil diese eine Reihe von Heimen und Einrichtungen übernommen hatte und "förderungsunwürdige", "rassisch nicht tragbare", "bildungsunfähige" Kinder und Jugendliche ausschloss und auf den Spiegelgrund schickte. Das war ein ziemlich breiter Selektionsprozess. Aber es gibt keine Belege, die Asperger direkt damit in Zusammenhang bringen.
Neben seiner Tätigkeit als Leiter der Heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik war er seit 1936 Jugendarzt in der Mutterberatung der Stadt Wien, ab 1940 nebenberuflicher Schularzt im Hauptgesundheitsamt, und als Facharzt war er für die heilpädagogischen und kinderpsychiatrischen Belange an den Wiener Hilfsschulen tätig. Auch das waren Orte, wo Kinder und Jugendliche unter Umständen ausgesondert wurden und auf den Spiegelgrund kamen.
Hat er sich je über den Spiegelgrund geäußert?
Ja, und zwar 1942 in einem Aufsatz zur Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik: "Wir glauben, dass aber allen schwierigeren Fällen nur eine länger dauernde stationäre Beobachtung gerecht wird, so wie das an der heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik und in der Fürsorgeanstalt am Spiegelgrund verwirklicht ist." Er nannte den Spiegelgrund in einem Atemzug mit seiner eigenen Abteilung, er erwähnte in keinem Wort die tatsächliche Funktion der Tötungsanstalt.
Das wäre in dieser Publikation auch nicht möglich gewesen. Aber es ist schon interessant, dass er diese Fassade der Wissenschaftlichkeit und der medizinischen Behandlung, die vor dieser Tötungsanstalt errichtet worden ist, ein Stück weit aufrecht erhält und öffentlich verteidigt.
Außerdem war Asperger als zuständiger Facharzt der Stadt Wien auch für die Begutachtung von Kindern zur Feststellung der Schulpflicht in einer Kommission in Gugging tätig.
Gugging war eine große psychiatrische Anstalt mit einer eigenen Kinderanstalt. Dort wurden schon sehr früh im Rahmen der "T4" mehr als hundert Kinder nach Hartheim transportiert und dort vergast. Anfang 1942 waren noch 220 Kinder in der Anstalt, die begutachtet werden sollten, um sie in "noch förderungswürdig" und "nicht mehr förderungswürdig" einzuteilen. An der Kommission war auch Asperger beteiligt. Am 16. Februar 1942 wurden angeblich all diese Kinder untersucht. Ich vermute, die Kommission verließ sich mehr auf die Krankengeschichten. Insgesamt wurden 160 Kinder begutachtet, 35 wurden als "bildungsunfähig" eingestuft. Es war im Auftrag der Kommission explizit die Rede davon, dass man die "nichtbildungsfähigen" der "Aktion Jekelius" - also der Euthanasie - zuführt. Asperger war als Gutachter direkt in diesen insgesamt gesehen natürlich vielstufigen und arbeitsteiligen Prozess der Selektion und letztlich Ermordung am Spiegelgrund involviert. Das ist ein Aspekt, der bisher noch völlig unbekannt war.