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Hans-Ulrich Wehler

Von Urs Fitze

Reflexionen

Vor 75 Jahren, am 30. Jänner 1933, wurde Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt. Der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler erläutert, wie es dazu kam.


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Wiener Zeitung:Herr Wehler, die Nationalsozialisten haben den 30. Jänner 1933 als "Tag der Machtergreifung" bezeichnet. Ist dieser Begriff korrekt?Hans-Ulrich Wehler: Nein. Das hat Propagandaminister Goebbels in die Welt gesetzt.

Was ist damals geschehen?

Die Machtübergabe durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. Die Weimarer Verfassung schrieb vor, dass der zu ernennende Reichskanzler über eine parlamentarische Mehrheit verfügen müsse. Und die hatte Hitler trotz seiner Wahlerfolge nicht.

Er war auf Unterstützung angewiesen. Die erhielt er von einer Gruppe Ultrakonservativer unter Führung von Ex-Kanzler Franz von Papen, die glaubte, sie könne Hitler mit der Einbindung in ein konservatives Kabinett gewissermaßen zähmen. Damit sollte Hitler samt seiner NSDAP instrumentalisiert werden, um eine autoritäre, weitgehend außerhalb der parlamentarischen Demokratie agierende Regierung zu installieren. Von Papen, der Ränkeschmied, brüstete sich damit, Hitler würde bereits binnen eines halben Jahres an die Wand gedrückt sein.

Welche Rolle spielte dabei Hindenburg?

Eine weit aktivere, als bisher angenommen. Der Historiker und Hindenburg-Biograph Wolfram Pyta kommt, nach Auswertung vieler neuer Quellen, in seinem Buch zum Schluss, dass der 85-jährige Hindenburg sich nicht einfach als seniler, alter Mann von seinen Beratern und Einflüsterern hatte drängen lassen, sondern dass er selbst zur Überzeugung gekommen war, Hitler in das Amt des Reichskanzlers hieven zu müssen. Es wird Aufgabe der Zeithistoriker sein, diese neue These zu überprüfen. Mir erscheint sie durchaus stimmig.

Aber Hindenburg hatte Hitler doch immer als "böhmischen Gefreiten" verspottet.

Das stimmt schon. Denn wie konnte man diesen Asozialen, der es in vier Weltkriegsjahren trotz eines eklatanten Mangels an Führungspersonal nicht einmal zum Unteroffizier gebracht hatte, überhaupt ernst nehmen? So dachte nicht nur Hindenburg, so dachten die meisten in diesen elitären konservativen Zirkeln. Aber der phänomenale Aufstieg der Nationalsozialisten unter Hitler ließ Hindenburg nicht unbeeindruckt, noch mehr aber die Tatsache, dass es Hitler gelungen war, mit der Sturmtruppe SA eine Art Privatarmee zu betreiben. Auf diesem Nährboden reifte der Gedanke, ihn auf den Schild zu heben. Die Paladine, die Hindenburg glauben machten, sie hätten Hitler im Griff und könnten ihn instrumentalisieren, leisteten ihren verhängnisvollen Beitrag.

Gab es denn zu diesem Zeitpunkt keine Alternativen?

Es ist eine traurige Tatsache: Nein, es gab unter den herrschenden Gegebenheiten keine Alternative. Die Hitler-Partei musste nach dem Scheitern der großen Koalition 1930 und dem Versagen aller autoritär und mit Notverordnungsrecht am Rande der Legalität operierenden Nachfolgeregierungen ihre Chance als die mit großem Abstand stimmenstärkste Gruppierung erhalten. Daran führte kein Weg mehr vorbei.

Man hätte aber doch die Linke einbinden können.

Hindenburg hasste die Linke. Er war ein überzeugter Anhänger der Dolchstoßlegende, wonach der Erste Weltkrieg wegen des revolutionären Geschehens an der "Heimatfront" verloren worden sei. Und er war, als glühender Monarchist, ein ebenso überzeugter Gegner der Republik. Dass ausgerechnet dieser ehemalige General, der an allen von Bismarck lancierten Feldzügen zur Bildung und Konsolidierung des Kaiserreichs beteiligt gewesen war, 1925 in das Amt des Reichspräsidenten gewählt wurde, zeigt, dass schon damals die meisten der deutschen Wähler selbst Gegner der Republik gewesen waren. Diese Wahl war der Anfang vom Ende, auch wenn danach noch drei Jahre mit einer boomenden Wirtschaft und einem überaus reichen Kulturleben folgten. Zum Wahlsieg Hindenburgs leisteten übrigens die Kommunisten einen fatalen Beitrag. Mit der Aufrechterhaltung ihres aussichtslosen Kandidaten Ernst Thälmann raubten sie nicht Hindenburg, sondern seinem gemäßigten Gegenspieler Wilhelm Marx die entscheidenden Stimmen zum durchaus möglichen Sieg.

Aber damals war die NSDAP noch nicht mehr als eine kleine bayrische Splitterpartei.

Das wäre sie vielleicht auch geblieben, wenn die Weltwirtschaftskrise 1929 das Land nicht an den Rande des Abgrunds gebracht hätte. Dazu kam die verheerende Sparpolitik der Regierung unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, die Millionen Menschen einfach im Stich ließ. Auf dem Höhepunkt dieser Wirtschaftskrise 1932 hatte praktisch jede Familie in Deutschland ein arbeitsloses Mitglied. Auch Brünings Nachfolger versagten. Franz von Papen machte 1932 das parlamentarische System endgültig zur Farce, als er zweimal hintereinander den Reichstag kurzerhand auflöste, um der sicheren Niederlage in einer Vertrauensabstimmung zuvorzukommen. Der Wahlkampf im Juni dieses Jahres war der blutigste, den Deutschland je erlebt hatte, und bescherte der NSDAP einen gigantischenWahltriumph.

Von Papens Nachfolger, der General Kurt von Schleicher, versuchte in einem Akt totaler politischer Verblendung, die Linke und den als "links" titulierten Flügel der Nationalsozialisten in einer Regierung zu vereinen. Damit desavouierte er sich sowohl bei Reichspräsident Hindenburg, der jede linke Regierungsbeteiligung kategorisch ausschloss, als auch bei Hitler, der später blutige Rache nehmen sollte. Von Schleicher wurde 1934 ermordet.

Das, aber auch die verheerende Politik der Kommunisten, die als willige Steigbügelhalter Stalins die Sozialdemokraten beschimpften, als ob sie ihre Todfeinde gewesen wären, schuf den Nährboden für den Aufstieg der NSDAP und - vor allem - Hitlers. Der Sieg war sein Werk. Bezeichnenderweise ist die Partei auf den Wahlzetteln auch immer als "Hitler-Partei" anfgeführt worden.

Sie beschreiben Hitler als "Charismatiker". Was ist darunter zu verstehen?

Das geht auf Max Webers Konzept von der charismatischen Herrschaft zurück. Danach zeichnet den Charismatiker eine außergewöhnliche Qualität aus, sei sie nun politischer, religiöser, rhetorischer oder militärischer Natur. Hitler war kein Dämon und kein gewöhnlicher Krimineller, er war auch nicht fremdgesteuert oder wurde wegen einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation zum Dikator. Hitler, darum kommt man bei einer nüchternen Betrachtungsweise nicht herum, besaß außergewöhnliche Talente, eine große rhetorische Begabung, aber auch große Überzeugungskraft im persönlichen Gespräch, die selbst entschiedene Gegner beeindruckte. Der Begriff Charismatiker ist deshalb nicht, wie im heutigen Verständnis, positiv besetzt. Für die charismatische Herrschaft bedarf es aber auch einer Gesellschaft, die danach verlangt und die den Charismatiker an die Spitze trägt. Und das ist die andere Seite dieses ellipsenförmigen Bildes - eine "soziale Dauerbeziehung", wie sie Max Weber beschrieb. So betrachtet, steht Adolf Hitler in einer Reihe mit Persönlichkeiten wie Luther, Napoleon oder Bismarck. Ich bin dafür zum Teil harsch kritisiert worden - mit dem Argument, Hitler damit eine zu große Bedeutung beizumessen. Aber ich stehe dazu, auch weil ich keine geeignetere und zutreffende Charakterisierung kenne.

Betrachtet man zeitgenössische Filmaufnahmen, in denen Hitler wie ein Brüllaffe herumschreit, könnte man an dieser Einschätzung zweifeln.

Das ist eine Seite dieses Mannes, aber man darf nicht vergessen: Er hat Millionen damit beeindruckt, wenn er seinen Hass einfach herausschrie. Er hat dieses Maskenspiel einstudiert und immer weiter perfektioniert. Es gibt eine einzige Aufnahme, die den anderen Hitler zeigt: im Gespräch mit dem finnischen Marschall Carl Gustav Mannerheim, den er überzeugen will, beim Russland-Feldzug mitzumachen. Da argumentiert er geschickt, baut im Gespräch Brücken und zeigt Kompromissbereitschaft. So ähnlich ist er, am Tag nach der Machtübernahme, auch vor der Führung der Reichswehr aufgetreten, übrigens mit ausdrücklicher Billigung Hindenburgs. Es gibt dazu eine bemerkenswerte Aufzeichnung der Tochter eines der hohen Offiziere, die, zufällig anwesend, sich hinter einem Vorhang versteckte und die Rede Hitlers protokollierte. Er versprach, in konziliantem Ton, den Militärs alles, wovon sie seit Jahren träumten: Aufrüstung, die Aufkündigung der verhassten Versailler Verträge und, indirekt, auch den Revanchekrieg. Da hatte er sie im Sack. Auch Stauffenberg, der spätere Hitler-Attentäter, zählte danach zu den begeisterten Anhängern Hitlers.

Hitler besaß, als er Reichskanzler wurde, keineswegs absolute Macht. Die Nationalsozialisten besetzten nur drei von elf Sitzen im Kabinett. Wie war unter diesen Umständen die Errichtung einer totalitären Diktatur binnen weniger Monate möglich?

Hitler war maßlos unterschätzt worden. Das zeigt schon der Blick in die Kabinettsprotokolle der ersten Wochen, als die Herren von Papen und Co. von Hitler von Mal zu Mal gemaßregelt wurden. Hitler alleine bestimmte die Punkte der Tagesordnung.

Aber sie hätten ihn ja überstimmen können.

Sicher. Aber das haben sie nicht getan, im Gegenteil. Sie kuschten, ließen sich einschüchtern und nickten schließlich nur noch ab, was ihnen vorgelegt wurde. Sie schluckten schließlich sogar die Weisung Hitlers, dass er künftig keine Diskussionen mehr wünsche, sondern dass ihm nur noch Gesetzesvorschläge vorzulegen seien.

Dennoch gelang es der NSDAP nicht, bei den Wahlen vom 5. März 1933 die absolute Mehrheit zu erringen.

Das mag formell so sein, auch wenn nur fünf Sitze dazu fehlten. Doch die Deutschnationalen, die als Kampffront Schwarz-Weiß-Rot angetreten waren, saßen als Koalitionspartner schon so sehr im Hitler-Boot, dass sie mit der NSDAP praktisch gleichzusetzen waren. Damit war eine absolute Mehrheit erreicht. Der Hitler-Biograph Ian Kershaw hat im Übrigen überzeugend nachgewiesen, dass zu den 17,3 Millionen Wählern der NSDAP mindestens vier weitere Millionen damals mit Hitlers Kurs übereinstimmten. Man kann also davon ausgehen, dass Hitler die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte.

Zehntausende politische Gegner wurden verhaftet, es kam zu Folterungen, Konzentrationslager wurden eingerichtet, und schon bald kam es zu ersten Gesetzen, die die Juden massiv diskriminierten, doch niemand erhob sein Wort. Wie erklären Sie das?

Es fehlte an Zivilcourage, Mut und Überzeugung. "Wo gehobelt wird, da fallen Späne", lautete das Motto, unter dem man die Nazis einfach gewähren ließ. Das ist, auch wenn man alle Umstände der Zeit berücksichtigt, beschämend. An den Universitäten wurden die zahlreichen jüdischen Akademiker einfach vor die Tür gesetzt, und niemand stellte sich hinter sie. Dabei hatten die werten deutschen Kollegen noch am Tag zuvor eng mit ihnen zusammengearbeitet. Dieses schmähliche Im-Stich-Lassen hat die Betroffenen am meisten gekränkt.

Setzt man dieses Geschehen in einen größeren historischen Zusammenhang, verdeutlichen den Stichworte wie Obrigkeitsgläubigkeit, Demokratiefeindlichkeit, mangelnde demokratische Tradition und fehlender Glaube an Institutionen, die in der Lage sind, Krisen zu bewältigen, aber auch eine geradezu messianische Heilserwartung an eine Führungspersönlichkeit, die den Weg aus der Misere weisen, nach einem neuen Bismarck, der Deutschland zu neuer Größe führen sollte.

Hitler war dieser Charismatiker, und als er in den ersten Jahren seiner Macht von Erfolg zu Erfolg eilte, nahm seine Beliebtheit ein Schwindel erregendes Ausmaß an. Die schrecklichen Seiten dieses Aufstiegs blendeten viele aus. Man hört es nicht gerne, aber ich bin überzeugt: Im Frühjahr 1939, nach dem "Anschluss" Österreichs und dem Einmarsch in Prag, hätten auch bei einer freien, vom Völkerbund überwachten Wahl 90 Prozent für Hitler gestimmt. Mir ist jener Veteran noch in lebhafter Erinnerung, der nach dem militärischen Sieg gegen Frankreich 1940 zu seinem Nebenmann sagte: "Wir sind vier Jahre im Schützengraben gesessen und haben den Krieg verloren. Jetzt hat uns Hitler in sechs Wochen gerächt." Der Mann hatte Tränen in den Augen.

Könnte sich ein solches Geschehen wiederholen?

Sagen wir so: Hätte die Weimarer Republik das Glück einer 25 Jahre andauernden Hochkonjunktur gehabt, wie die Bundesrepublik nach ihrer Gründung, wäre die NSDAP nie über ein paar Stimmenprozente hinausgekommen, und der Charismatiker Hitler wäre eine politische Nebenfigur in bayrischen Bierkellern geblieben, und selbst eine so existenzielle Krise wie die Weltwirtschaftskrise von 1929 wäre überwunden worden. Deutschland ist heute eine gefestigte Demokratie, eingebunden in Europa, und, was den Föderalismus und den Umgang mit den Schatten der Vergangenheit betrifft, durchaus ein Vorbild. Hitler hätte keine Basis mehr. Aber dass charismatische Persönlichkeiten seines Schlages wieder einmal auf der weltgeschichtlichen Bühne auftauchen, halte ich keineswegs für ausgeschlossen.

Der Weg zur Machtübergabezur person

Hans-Ulrich Wehler geboren 1931, ist einer der profiliertesten deutschen Historiker. Bis 1970 Privatdozent in Köln, wurde er 1970 Professor für amerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1996 war Wehler Professor für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Bielefeld.

Seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" (bis jetzt vier Bände) zählt zu den Standardwerken der deutschen Geschichtsschreibung über die Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1945. Einige darin entwickelte Ansichten stießen jedoch auf heftige Kritik. Dies gilt etwa für Wehlers Versuch, den Erfolg des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers mit Hilfe des an Max Weber angelehnten Charismakonzepts zu deuten. Der abschließende fünfte Band, der den Zeitraum von 1945/49 bis 1990 umfasst, wird im Laufe des heurigen Jahres im C. H. Beck Verlag erscheinen.

Wehler gehört zu den Begründern der sogenannten "Bielefelder Schule", die sich als Vertreterin einer historischen Sozialwissenschaft versteht. Ihr Ziel ist es, die bisher hauptsächlich ereignisgeschichtliche Historiographie gegenüber den Sozialwissenschaften (Soziologie, Wirtschaftswissenschaften), aber auch der Psychoanalyse zu öffnen. Neben seinen fachwissenschaftlichen Arbeiten hat sich Wehler auch immer wieder in historisch-politische Debatten eingemischt. Dazu zählte im Jahr 1986 seine Beteiligung am sogenannten "Historikerstreit", der sich an den Thesen von Ernst Noltes über die Gleichrangigkeit der Verbrechen von Kommunisten und Nationalsozialisten entzündete. Wehler war neben Jürgen Habermas einer der führenden Kritiker der von Nolte und seinen Unterstützern vertretenden Thesen.