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Kern setzt in Israel auf Pragmatismus. Netanjahu verweigert Sigmar Gabriel ein Treffen.
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Jerusalem. Auf den ersten Blick sind sich die 17-jährigen Schülerinnen Rania und Hagar sehr ähnlich. Beide wirken selbstbewusst, haben lange braune Haare und tragen an den Knien aufgerissene Jeans. Doch die eine ist Palästinenserin und die andere jüdische Israelin. Dass sie beide Arabisch und Hebräisch sprechen und die Welt durch die Augen der jeweils anderen sehen können, haben sie der besonderen Schule zu verdanken, in die sie ihre Eltern nach dem Kindergarten geschickt hatten. "Diese Schule hat mein Leben verändert", sagt Rania, und auch Hagar sieht das ähnlich: "Wir geben Anderen Hoffnung."
Kurz vor seinem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu besuchte Bundeskanzler Christian Kern am Dienstag diese gemischt palästinensisch-israelische Schule, die sogenannte "Max-Rayne-Hand-in-Hand-Schule" der Jerusalem Stiftung. Sie wurde 1998 gegründet und wird derzeit von 696 Schülerinnen und Schülern besucht, halb hebräisch- und halb arabischsprechend.
Geschichte wird hier über zwei Narrative unterrichtet: aus palästinensischer und aus israelischer Sicht. Angesichts langer Wartelisten und akutem Platzmangel plädierte eine Sprecherin der Stiftung im Gespräch mit Kern für dringend notwendige Fördermittel, um ein neues Gebäude für das Gymnasium realisieren zu können.
Oase zwischen den Fronten
Die Position der Schule direkt an der Trennlinie zwischen Ost- und Westjerusalem ist für die jüdisch-israelische Kunstlehrerin Efrat symbolisch. Es sei ein Ort des Zusammenkommens, wie er sonst in Jerusalem kaum existiert: "Es ist die einzige Schule in Jerusalem, in der sich Palästinenser und Israelis auf gleichem Niveau gegenüberstehen. Hier drinnen gibt es keine ungleichen Machtbeziehungen." An der Oberfläche spiegelt das rege Treiben der Kinder am Schulhof diese Idee durchaus wider. Arabisch und Hebräisch werden spielerisch gemischt. An den Wänden hängen von Schülern gemalte Bilder mit hoffnungsvollen Slogans: "Gemeinsam und gleichberechtigt leben", "Koexistenz", sowie eine Holocaust-Gedenktafel in hebräischer und arabischer Schrift.
In diesem Zeichen des Optimismus und der Vergangenheitsaufarbeitung stand auch der Besuch des Bundeskanzlers in Israel. So hatte er am Sonntag als erster österreichischer Regierungschef am offiziellen Staatsakt zum Holocaust-Gedenken in Yad Vashem teilgenommen, und betonte im gemeinsamen Auftritt vor der Presse mit Netanjahu am Dienstag vor allem die Zukunftschancen, die beide Länder in den Bereichen Technologie und Innovation gemeinsam ergreifen sollten. Außerdem lobte er Israel als Vorbild für Start-up-Unternehmen.
Wie auch die Hand-in-Hand-Schule versuchte Kern, die ungleichen Machtverhältnisse Israel-Palästinas vorerst nicht anzusprechen. Das wohl auch, um einen öffentlichen Eklat mit Premier Netanjahu bei seinem ersten offiziellen Israel-Besuch zu vermeiden. Immerhin setzt die rechte israelische Regierung ihre Tabuthemen als diplomatische Waffe ein, was nicht zuletzt während des gleichzeitigen Besuchs des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel deutlich wurde.
Weil dieser regierungskritische NGOs treffen wollte, drohte Netanjahu prompt mit einem Ultimatum und stellte die geplante Zusammenkunft in Frage. Bei den NGOs handelte es sich um die renommierte israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem sowie Breaking the Silence, das über Berichte ehemaliger Soldaten die Untaten des israelischen Militärs in den Palästinensergebieten dokumentiert.
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die israelische Regierung erfolgreich Themen wie etwa die Besatzung der Palästinensergebiete und den Siedlungsbau tabuisiert, und gleichzeitig Beziehungen rund um akzeptable Themen wie Hightech-Start-ups fördert.
Das schafft einerseits Spielraum für Bundeskanzler Kern und andere Regierungschefs, die wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen vertiefen wollen, ohne Israels Besatzungspolitik anzusprechen. Immerhin werden diese Themen auch auf die EU-Ebene ausgelagert. Andererseits normalisieren derart apolitische und unkritische Staatsbesuche aber auch die Siedlungspolitik und militärische Besatzung, durch die Israel seit 1967 weitreichende Kontrolle über mittlerweile rund 4,8 Millionen Palästinenser im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem hat.
Grenzen der Harmonie
Selbst in der harmonischen Welt der Hand-in-Hand-Schule werden die Grenzen des Zusammenlebens schnell sichtbar. Die Gymnasiastin Hagar wird nach der Schule ins israelische Militär eingezogen und könnte schon bald jüdische Siedler im besetzten Westjordanland bewachen oder Palästinenser an militärischen Kontrollpunkten entlang der Mauer zurückweisen. Auch wenn ihre palästinensische Schulkollegin Rania die Militärpflicht versteht und respektiert, kann diese Oase der Harmonie nicht über das Ausmaß von Besatzung und Konflikt hinwegtäuschen. Vor drei Jahren legten israelische Extremisten in der Schule Feuer und sprühten "Tod den Arabern" an die Wand, während Bekannte die palästinensische Lehrerin Hanin als "Verräterin" beschimpfen.
Über den Besuchen Kanzler Kerns und Gabriels hängt somit ein großes Fragezeichen, wie viel Harmonie im Kontext des Konflikts gesund ist und wie weit europäische Staaten in ihrer Zusammenarbeit mit einer israelischen Regierung gehen können, wenn diese die zentralen Themen tabuisiert und jegliche Kritik zum Eklat macht.