)
Der Sinologe Harro von Senger spricht über Listigkeit und die in China gebräuchlichen "36 Strategeme", mittels derer Probleme auf eine schlaue, unkonventionelle Art gelöst werden können.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Herr Professor von Senger, Sie haben mehrere Jahre in Asien gelebt, vor allem in China. Konnte man Ihnen vor Ihren Aufenthalten im Fernen Osten über das Leben in diesem Teil der Welt einen Bären aufbinden? Harro von Senger: Mit List unangenehm in Berührung kam ich erst nach meiner Rückkehr aus dem Fernen Osten, bei meinem Einstieg ins akademische Berufsleben. Ein Professor an der Universität sah in mir einen Eindringling, und dem ging ich auf den Leim, weil ich damals naiv und listblind war.
Wie ist ihm das gelungen?
Er hatte das "Strategem des Zwietrachtsäens" erfolgreich gegen mich angewandt. Allerdings ging mir erst Jahre später ein Licht auf, als ich mich mit den 36 Strategemen näher beschäftigte. Hätte ich die Strategemkompetenz, über die ich heute verfüge, schon damals besessen, hätte ich nicht so zornig reagiert. Damals allerdings fiel ich unbedarft in die Grube des Professors.
Bei uns gilt Aufrichtigkeit als Tugend, während die List einen schlechten Ruf hat.
Wir tun so, als ob es sie nicht gäbe. Europäer neigen dazu, List unverschämt zu praktizieren, sie aber gleichzeitig verschämt totzuschweigen.
Wenn man politisch korrekt sein will, muss man die List für moralisch verwerflich halten.
Es ist leider so, dass wir bei List zuerst an Moral denken. Die List liegt den Menschen jedoch im Blut und ist in unserer westlichen Kultur genau so allgegenwärtig wie in der chinesischen.
Was ist unser Problem?
Das Erkennen der List. Denken Sie etwa an Adam und Eva. Die List der Schlange verführte sie. Diese List musste nicht aus China, das es damals gar nicht gab, ins Paradies gebracht werden. Die List war vor den Chinesen da. Das Problem von Adam und Eva war, dass sie die List der Schlange nicht erkannten. Daher fielen sie ihr zum Opfer. Gott bestrafte sie durch die Vertreibung aus dem Paradies.
Wären also Adam und Eva Chinesen gewesen . . .
. . . dann hätten sie sehr wahrscheinlich die List der Schlange durchschaut und womöglich die Schlange statt dem Apfel gegessen. Und wir würden noch immer im Paradies leben!
Warum wird die List in China anders bewertet als bei uns?
Im Unterschied zu Europa wird in China auch das Dunkle grundsätzlich bejaht. Es gehört zur Welt, zur Gesellschaft, zum Menschen. In China gibt es das Gegensatzpaar Yin und Yang. Yang bedeutet männlich, geistig, Licht und Sonne. Yin steht für weiblich, für Nacht, Schatten, List. Chinesisches Verhalten in Auseinandersetzungen oszilliert grundsätzlich zwischen "dunklen", also listigen, und "hellen", also nichtlistigen Aktionen und Reaktionen. Im Abendland dagegen versucht man, das Dunkle auszublenden oder schlecht zu machen.
Worauf führen Sie das zurück?
In der Bibel wird die List einige Male ausdrücklich verurteilt. Allerdings gibt es auch einen listkundefreundlichen Rat von Jesus. Er lautet: "Seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen" (Matthäus 10, 16) . Die Schlange ist in der Bibel ein Symbol der List. Eigentlich rät uns also Jesus zur Listkundigkeit. Und er zeigt uns in der Wüste, wo er nicht auf die listigen Verlockungen des Teufels hereinfällt, wie nützlich Listkundigkeit ist. Gestützt auf die Bibel könnte also Listkundigkeit eigentlich populär sein.
Wie optimistisch sind Sie in dieser Hinsicht?
Vielleicht sehen die Europäer mit der Zeit ein, dass Listkundigkeit eine Kernkompetenz im globalen wirtschaftlichen, politischen und geistigen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts sein wird. Entweder wir überlassen dies den Chinesen, oder wir ziehen nach und eignen uns diese Kompetenz ebenfalls an.
Warum verwenden Sie eigentlich den Ausdruck "Strategem"? Der ist bei uns ja nicht üblich.
Dieses Wort begegnete mir zum ersten Mal in einem chinesisch-englischen Wörterbuch mit Ausdrücken vor allem aus dem politischen und militärischen Bereich. Dieses Buch enthielt die komplette Liste der 36 Strategeme. Ich kannte den Ausdruck nicht und fand heraus, dass er in vielen europäischen Sprachen verbreitet ist. Im Deutschen ist er ebenfalls vorhanden, aber aus der Mode gekommen. Ich fand den Ausdruck sehr passend und habe daher diese chinesische Übersetzung übernommen.
Was genau verstehen Sie darunter?
"Strategem" bedeutet dasselbe wie "List". Im Unterschied zu "List", das einen anrüchigen Klang hat, ist "Strategem" ein neutraler Ausdruck und erweckt nicht sofort Widerwillen. "Strategem" bezeichnet eine schlaue, ausgefallene, unkonventionelle Art der Problemlösung. Es ist eine Methode zum Erreichen eines Zieles, die so aus dem Rahmen fällt, dass das Opfer des Strategems oder ein Betrachter des Geschehens verblüfft ausruft: "Auf solch eine Problemlösung wäre ich nie gekommen!"
Sie haben das in China populäre System der List dem westlichen Publikum zugänglich gemacht. Besonders gut gefällt mir Strategem Nr. 12: "Mit leichter Hand das Schaf wegführen". Das klingt blumig, witzig und obendrein elegant. Wie würden Sie dieses Strategem erklären?
Es geht dabei nicht um Täuschung, sondern um das Ausnutzen einer Konstellation. Zudem fordert es zu steter Wachsamkeit auf, und zwar im Hinblick auf unerwartete Nebenchancen unterwegs zu einem relativ festen Hauptziel.
Bedeutet "Mit leichter Hand das Schaf wegführen" nicht auf Deutsch so viel wie "Die Gelegenheit beim Schopfe packen"?
Richtig, dem Strategem Nr. 12 entspricht ungefähr diese deutsche Wendung. Tatsächlich haben wir auch in unserer Kultur Redensarten, die eine List umschreiben. In meinem Buch "Die Kunst der List" habe ich alle mir bekannten deutschen List-Redewendungen nach der Systematik des Katalogs der 36 Strategeme zusammengestellt. Aber ich konnte nicht für jedes chinesische Strategem eine Entsprechung finden. Im deutschen Sprachraum war man also in der Erschaffung von Listtechnik-Ausdrücken längst nicht so erfinderisch wie die Chinesen.
Der Westen begegnet China oft mit Angst und Misstrauen. Ein Reizthema ist etwa die Produktpiraterie. China wird in diesem Zusammenhang gerne Heimtücke unterstellt.
Produktpiraterie gibt es überall auf der Welt. Das ist keine chinesische Besonderheit. Ansonsten muss man wissen: Gesetze hat man noch während der Kulturrevolution, also zwischen 1975 und 1977, ganz offiziell als etwas Lächerliches angesehen. Recht und Gesetz wurden erst wieder unter dem neuen Hauptwiderspruch hoffähig, also seit 31 Jahren. Die Definition eines Hauptwiderspruchs ist die wichtigste Führungsmethode der Kommunistischen Partei Chinas. Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums gibt es seit etwa 20 Jahren. Demgegenüber gibt es solche Gesetze in Deutschland oder Österreich vielleicht seit 100 Jahren. Das Gesetzesrechtsbewusstsein ist in unseren Breiten ganz anders und tiefer verwurzelt. So ist Produktpiraterie in China verboten, aber oft kennen Chinesen diese gesetzlichen Bestimmungen nicht. Selbst wenn sie die Regelungen kennen, befolgen sie sie nicht, weil sie nicht daran gewöhnt sind, sich an Gesetze zu halten.
Wenn die meisten Chinesen Listen anwenden, wie entsteht dennoch Vertrauen zwischen den Menschen?
Wenn man ganz normale Beziehungen mit Chinesen hat, bei denen es nicht zu Interessenkonflikten oder irgendwelchen Auseinandersetzungen kommt, ist das Verhältnis grundsätzlich listfrei und eigentlich so, wie wir das in Europa gewöhnt sind. Gegenseitiges Vertrauen ist kein Problem. Jedenfalls ist mein Vertrauen in Chinesen bisher eigentlich nie enttäuscht worden.
Wie ist es in der Politik?
Da ist es sicher anders. Chinesische Politiker sind mit Bezug auf List sehr hellhörig und auf der Hut. Natürlich wenden sie selber auch List an. Aber besonders auffallend ist die hochgradige Listwahrnehmung. Dass beispielsweise zwischen US-Politikern und chinesischen Politikern Vertrauen entstehen könnte, bezweifle ich.
Können Sie das näher erklären?
Wenn etwa die USA die Menschenrechtslage in China kritisieren, ist es eine Illusion zu glauben, dass chinesische Politiker vertrauensvoll daran glauben, es gehe den Amerikanern tatsächlich um die Menschenrechte. Vielmehr keimt sofort Misstrauen bzw. strategemische Wachsamkeit auf, und man denkt in China an eine "hidden agenda" hinter der Menschenrechtskritik.
Was wäre ein positives Beispiel für Listigkeit?
Die Schweiz, die die Maxime der Neutralität weltweit am längsten praktiziert hat, nämlich rund ein halbes Jahrtausend, und damit recht gut gefahren ist. Neutralität als listige Maxime.
Gibt es Situationen, in denen keine List mehr helfen kann?
Die 36 Strategeme werden in China in zwei große Kategorien unterteilt: erstens solche, die man in einer Position der Stärke einsetzt, und zweitens solche, die man in einer Position der Schwäche einsetzt. Ein Paradebeispiel für die erste Kategorie ist Strategem Nr. 1: "Den Himmel täuschend das Meer überqueren". Der Himmel war im alten China das allerhöchste Wesen. Wer als Mensch diese List anwendet, ist sogar dem Himmel, also dem höchsten Wesen, überlegen, er vermag es auszutricksen. Ein Paradebeispiel für die zweite Kategorie ist das letzte Strategem, die Nr. 36: "Wegrennen ist - bei sich abzeichnender Aussichtslosigkeit - das Beste". So gesehen scheint die Listanwendung grenzenlos zu sein.
Zur Person
Harro von Senger, geboren 1944 in der Schweiz, ist seit 1989 Professor für Sinologie an der Universität Freiburg i.Br. Er promovierte 1969 in Jura und 12 Jahre später, nach jahrelangen Aufenthalten in Taiwan, der Volksrepublik China und Japan, in klassischer Sinologie. Sein zweibändiges Werk "Strategeme" verkaufte sich in mehr als zehn Sprachen rund 500.000 Mal. Chinesen handeln nach Bedarf auf der Grundlage der 36 Strategeme, eines Systems, das dort so populär ist wie bei uns Grimms Märchen. Die Strategeme sind Teil eines Militär-Traktates aus der Ming-Dynastie (14. bis 17. Jahrhundert). Harro von Senger wurde als erster westlicher Wissenschafter auf diese alten Lebensregeln aufmerksam und machte sie dem westlichen Publikum zugänglich.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als freie Journalistin und Coach für Führungskräfte in München.