Das Tauziehen um die neue Verfassung der Union geht weiter. Gestern sind die Außenminister der EU-Mitglieder und auch der Beitrittstaaten in Brüssel zusammengekommen, um über die strittigsten Punkte, nämlich die Stimmengewichtung im Ministerrat und die Zahl der Kommissare, zu verhandeln. Wenige Tage vor dem entscheidenden EU-Gipfel, der ebenfalls in Brüssel stattfinden wird, scheinen die Fronten zwischen den Hauptkontrahenten Polen und Deutschland weiter verhärtet.
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Im Konvent hatten alle dem Verfassungsentwurf zugestimmt, doch nun können sich die Regierungschefs nicht mehr damit identifizieren.
So fühlen sich die Deutschen als Nettozahler schon seit längerem über den Tisch gezogen. Gerhard Schröder muss daher auf der "doppelten Mehrheit" bestehen, bei welcher nicht nur jedes Land als Staat eine Stimme bekommt, sondern auch die Einwohnerzahl im Stimmengewicht berücksichtigt wird. Das Konventergebnis schlägt Folgendes vor: Eine Mehrheit ist dann gefunden, wenn die Hälfte der Staaten zustimmt und von diesen gleichzeitig 60 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten werden. Doch was den Deutschen logisch und folglich richtig erscheint, stösst Polen sauer auf. Und die Polen haben mittlerweile in den Spaniern Verbündete gefunden. Während Polen die Sache sehr ernst nimmt, versucht Spanien ein paar EU-Abgeordnete mehr für sich herauszuschinden. Sehr kryptisch geben sich die Tschechen. Deren Regierung hat in einer außerordentlichen Sitzung ihrer Delegation Folgendes auf den Weg mitgegeben: Sie solle einen "ausgewogenen Kompromiss" durchsetzten, der die "Gleichberechtigung der Staaten" vorsieht. Es sei sicherzustellen, dass die Großen auf keinen Fall die Kleinen überstimmen könnten.
Der polnische Ministerpräsident Leszek Miller, im eigenen Land nicht unumstritten, muss einen Brüsseler Erfolg nach Hause bringen. Er setzt deshalb auf Konfrontation. Gegenüber dem polnischen Rundfunk schloss er ein Fiasko am Gipfel nicht aus. Er hoffe aber, dies sei "nur ein Spiel im Vorfeld der Verhandlungen". Als vernünftigste Lösung bezeichnet er die sogenannte "Rendezvous-Klausel". Dieser Experten-Lösung schlägt vor, dass die endgültige Festlegung der Verfassung erst im Jahr 2009 vorgenommen werden soll. Bis dahin müssten weiter die in Nizza vereinbarten Kriterien, bei welchen Polen und Spanien besser aussteigen, gelten. Hatte es zunächst geheißen, die Formel solle von der italienischen Präsidentschaft beim Gipfel auf den Tisch gelegt werden, dementierte Franco Frattini nach dem Außenminister-Treffen am Montag: Italien werde keinen Kompromiss vorlegen.
Fischer: "Nizza keine Basis"
Auch Deutschland will von Rendezvous nichts hören. Kanzler Schröder hat deshalb am Donnerstag ein Gespräch mit dem polnischen Präsidenten Alexander Kwasniewski vereinbart und will damit der doppelten Mehrheit zum Sieg verhelfen. Schröder hat gegenüber EU-Ratspräsident Silvio Berlusconi klargestellt, dass Deutschland bei der Stimmengewichtung "nicht beweglich" sei. Und Außenminister Joschka Fischer hat gestern beim EU-Ministerrat dargelegt, dass die EU nach der Erweiterung mit "dem Vertrag von Nizza als Basis nicht für die Zukunft gewappnet" sei.
Der Präsident des EU-Parlaments, der Ire Pat Cox, zeigt sich besorgt: "Wir haben sicherzustellen, dass bei den Deals in letzter Minute nicht noch mehr zerstört wird." Er fürchtet, dass andere EU-Mitglieder womöglich das gesamte Verfassungspaket aufschnüren wollen. Cox hält die Position der Polen für "extrem festgefahren" und weiß, dass "sie einen Ausweg finden müssen". Er plädiert für die neue Regelung, weil sie "effizienter und transparenter als die Fortsetzung von Nizza" ist. Es sei davon auszugehen, dass es bis zuletzt Tauschgeschäfte geben werde. Polen und Spanien könnten eventuell mit mehr Parlamentariern rechnen, als ihnen zustehen würden. Und auch die Forderungen der kleinen Länder, darunter an vorderster Front Österreich, würden womöglich erfüllt: Das heißt, jedes Land bekommt einen Kommissar.
Auf der selben Linie wie das Parlament ist die EU-Kommission. Für sie wäre die Rendezvous-Klausel ein Fehler, berichtet einer der Sprecher von Regionen-Kommissar Michel Barnier. Auch Agrarkommissar Franz Fischler hält die doppelte Mehrheit für vernünftig: "Das neue System ist so einfach, dass es jeder versteht." Der deutsche EU-Abgeordnete Elmar Brok hält die Stimmungsmache gegen die doppelte Mehrheit für Propaganda, allerdings für eine äußerst geschickte.