Ein Gericht in China sprach über Ilham Tohti eines der härtesten Urteile gegen einen "Dissidenten" seit Jahren aus.
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Peking. "Das kann man nicht hinnehmen." Ilham Tohtis Anwalt Li Fangping war sichtlich schockiert, als er das Urteil über seinen Mandaten über die chinesische BBC kommentierte. Mit einem Schuldspruch hatte er gerechnet, auch mit einer harten Strafe, aber mit dieser Entscheidung hätten nicht einmal Pessimisten gerechnet: Das Mittlere Volksgericht in Ürümqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang im Südwesten Chinas, verurteilte den uigurischen Menschenrechtsaktivisten Tohti zu lebenslanger Haft. Der prominente Regierungskritiker, frühere Universitätsdozent für Wirtschaft und nach eigenem Verständnis Brückenbauer zwischen der uigurischen Minderheit und den Han-Chinesen wurde wegen "Separatismus" für schuldig befunden.
International schätzt man Ilham Tohti anders ein. Er gilt seit vielen Jahren als Symbolfigur für eine Annäherung zwischen dem muslimischen Turkvolk mit knapp zehn Millionen Uiguren und den Han-Chinesen, die in Xinjiang die Mehrheit stellen. Dementsprechend zeigten Diplomaten der EU und der USA beim nur zweitägigen Prozess vergangene Woche demonstrativ Präsenz, auch wenn ihnen der Zutritt zum offiziell öffentlichen Verfahren untersagt wurde. Tohti erschien vor Gericht in gewöhnlicher Kleidung und noch ohne Handschellen - und sah zum ersten Mal seit seiner Festsetzung im Jänner seine Frau wieder. Damals stürmten Sicherheitsbeamte seine Wohnung in Peking, von wo er trotz seiner Stadtbürgerrechte nach Xinjiang überstellt wurde. Er klagte in Folge über zahlreiche Haftschikanen, gezielte Provokationen durch chinesische Mitgefangene und einen zehntägigen Hungerstreik, nachdem ihm Halal-Lebensmittel verweigert wurden.
NGOs und EU kritisieren mangelnde Rechtsstaatlichkeit
Tohti, der bereits seit den schweren Unruhen 2009 im Visier der Behörden stand, hatte in seinem Unterricht über die wirtschaftliche Benachteiligung, Strukturprobleme und die Arbeitslosigkeit in Xinjiang gelehrt. Er betrieb außerdem die Webseite Uighurbiz.net, über die er für mehr Unabhängigkeit und eine Änderung der chinesischen Politik in der Region warb. Für die aktuelle Regierung, die auf kompromisslose Härte gegenüber Andersdenkenden setzt, ist er damit zur Zielscheibe geworden. Der 44-Jährige bestritt während seines Prozesses die Vorwürfe gegen ihn energisch. Er sagte, er würde sein Land lieben und dass es seiner Meinung nach im besten Interesse beider Seiten sei, wenn die Uiguren in China bleiben würden. Doch auch das rettete ihn nicht vor dem härtesten Urteil gegen einen "Dissidenten" seit Jahren.
Amnesty International bezeichnete das Verfahren als "bedauerlich", juristisch mangelhaft und als "Affront gegen die Gerechtigkeit": "Tohtis Verteidigern wurde der Zugang zu Beweismaterial verwehrt, zudem hatten sie für sechs Monate keinerlei Kontakt zu ihrem Mandanten. Einer der Anwälte musste sich von dem Fall nach politischem Druck zurückziehen." Ein EU-Sprecher sagte in Peking, dass die Rechtsstaatlichkeit in dem Verfahren nicht beachtet worden sei. Die EU fordere die Freilassung Tohtis und jener sieben Studenten, die bei Aufbau und Wartung der Internetseite für die uigurische Minderheit geholfen hatten. Sie wurden wegen ähnlicher Vorwürfe wie ihr Professor festgenommen und warten noch auf ihren Prozess. Der Verurteilte selbst ließ über seine Anwälte ausrichten: "Ganz egal, welches Urteil auch gefällt wurde, er ist nicht wütend und sucht nicht nach Rache. Er wird auch in Zukunft ein Fürsprecher für den Dialog zwischen Han-Chinesen und Uiguren bleiben, egal, ober er ins Gefängnis muss oder freikommt."
Mit Letzterem ist vorläufig eher nicht zu rechnen, denn dieser Prozess ist auch als Reaktion auf die jüngste Verschärfung und Häufung von Gewalttaten in Xinjiang zu verstehen. Es war ein blutiger Sommer in der Unruheregion, hunderte Personen wurden bei Zusammenstößen und Terrorattacken getötet. Für Peking sind diese kein ethnisches Problem, sondern das Werk von extremistischen und islamistischen uigurischen Terrorgruppen, die von außen gesteuert die Unabhängigkeit Xinjiangs als Republik Ostturkestan erzwingen wollen. Tatsächlich zeigt sich eine zunehmende Internationalisierung des Konflikts: So sorgte kürzlich etwa das Foto eines - nicht identifizierten - Chinesen für Aufregung, der von irakischen Soldaten als IS-Kämpfer gefangen genommen worden war. Schon zuvor warnten die Behörden, dass sich rund 100 Uiguren dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen hätten, im Mittleren Osten ausgebildet und trainiert worden seien und als Terroristen zurückkehren könnten. Wie zur Bestätigung wurden vergangene Woche vier mutmaßliche IS-Mitglieder in Indonesien verhaftet, die aus Xinjiang kommen sollen.
Auch gemäßigte Uiguren verärgert über Peking
Als Reaktion setzt Peking auf eine Mischung aus Zuckerbrot und - vor allem - Peitsche. So bot etwa die Bezirksverwaltung von Qiemo eine jährliche Prämie von 1250 Euro für Mischehen zwischen Uiguren und Han-Chinesen an, während in bunten Comics die "Duft-Prinzessin" für Harmonie wirbt. Andererseits sorgen immer absurdere Verbote wie die Verbannung von Bärten und Schleiern aus öffentlichen Bussen für zunehmende Verärgerung auch bei gemäßigten Gruppierungen. Ilham Tohti bekam jedenfalls demonstrativ die Peitsche zu spüren, und zwar noch härter, als allgemein erwartet worden war. Über die Haftstrafe hinaus hat das Gericht noch sämtliche Vermögenswerte und Ersparnisse der Familie konfisziert, womit seine Frau und die beiden Söhne völlig mittellos sind.
Tohti will das Urteil anfechten, allerdings sind Berufungsverfahren in China schon unter normalen Umständen mehr oder weniger aussichtslos. Theoretisch könnte er also frühestens nach zwölf Jahren entlassen werden - allerdings nur, wenn ihm die zu diesem Zeitpunkt amtierende politische Führung gewogen sein sollte. Die Chancen dafür stehen ungünstig: Spätestens nach diesem Prozess gilt Tohti wie der ebenfalls inhaftierte Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo als Symbolfigur des politischen Widerstandes. Und denen stand China in der Vergangenheit stets unversöhnlich gegenüber.