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Hasan Nuhanovic

Von Manuela Ziegler

Reflexionen
Hasan Nuhanovic. Foto: Ziegler

Hasan Nuhanovic überlebte als bosniakischer UN-Bediensteter das Massaker von Srebrenica und kämpft seitdem für eine Aufarbeitung der traumatischen Folgen dieses Verbrechens.


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Wiener Zeitung: Herr Nuhanovic, in der Presse Ihres Heimatlandes wurden Sie als "Eli Wiesel von Bosnien" bezeichnet. Heißt das, Ihr Engagement zur Aufdeckung der Kriegsverbrechen wird anerkannt?

Hasan Nuhanovic: Das würde ich so nicht sagen. Meines Wissens ist das eine Einzelaussage, die zeigt, dass meine Arbeit wahrgenommen wird, aber auf nationaler wie internationaler Ebene ist bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen noch zu wenig passiert.

Deshalb hatten Sie ja Klage gegen das niederländische UN-Bataillon eingereicht, das in Srebrenica stationiert war. Worin bestand dessen Versagen?

Das verantwortliche niederländische UN-Bataillon, kurz "Dutchbat", gewährte den bosniakischen Flüchtlingen genau 48 Stunden Aufenthaltsrecht im UN-Stützpunkt. Danach handelte das niederländische Bataillon eigenmächtig und wies die Flüchtlinge aus - obwohl man wusste, dass diese außerhalb des UN-Stützpunktes Opfer der serbischen Exekutionen würden. Um die Flüchtlinge ausweisen zu können, hätten sie die Vereinten Nationen vorher informieren und deren Erlaubnis abwarten müssen. Das ist mein Hauptanklagepunkt.

Eine Studie des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation behauptet, der Völkermord hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn die niederländischen Soldaten Widerstand gegen die serbischen Milizionäre geleistet hätten, aber dafür war ihr Mandat nicht ausgelegt. Wie haben Sie die Situation als UN-Übersetzer erlebt?

Es bestand keine Gefahr für die "Dutchbat" durch etwaige serbische Angriffe. Das niederländische Bataillon wollte die Blauhelm-Basis - mit ihren katastrophalen hygienischen Zuständen und den ringsum tobenden Gefechten - verlassen. Ich weiß aufgrund meiner Recherchen, dass die "Dutchbat" bei den Vereinten Nationen anfragten, wann sie den Stützpunkt verlassen könnten. Sie erhielten die Antwort: Nicht bevor die Flüchtlinge ihn verlassen hätten. Die Flüchtlinge waren also eine Last für die "Dutchbat".

Ihre Klage wurde dennoch abgewiesen. Warum?

Die niederländische Regierung behauptet, die Flüchtlinge hätten den Stützpunkt auf eigenen Wunsch verlassen. Außerdem heißt es, der Staat könne nicht für Aktionen von "Dutchbat" zur Verantwortung gezogen werden, weil dann vermutlich eine Flut von Prozessen auf die Niederlande zukäme. Welcher Staat würde noch Soldaten für UN-Kriseneinsätze abstellen, wenn er später dafür zur Kasse gebeten wird, dass die Militärs ihre Schutzbefohlenen nicht schützen konnten?

Mit dem gleichen Argument ziehen sich auch die Vereinten Nationen aus der Verantwortung.

Es ist plausibel, dass die Vereinten Nationen im Hinblick auf künftige Friedenseinsätze Immunität genießen. Hier handelt es sich jedoch um einen Sonderfall, denn Srebrenica war eine Sicherheitszone. Die Vereinten Nationen müssten für das Versagen in diesem Zusammenhang Verantwortung übernehmen. Sie haben sich zur Friedenswahrung verpflichtet und gegen diese Pflicht verstoßen. Die Tatsache, dass die Schuldigen sich nicht verantworten müssen, lässt mich an der Gerechtigkeit zweifeln. Auch in Anbetracht eines anderen, ziemlich ähnlichen Vorfalls, in den kanadische Blauhelme involviert waren.

Sie sprechen von der "Operation Sturm" in Kroatien?

Die Kroaten eroberten damals die kroatische Stadt Knin zurück, die während des Kroatienkrieges unter serbischer Kontrolle stand. Über tausend Serben suchten Schutz auf dem Stützpunkt der United Nations Protection Force (UNPF). Die kroatischen Truppen umzingelten den Stützpunkt und forderten die Herausgabe von Männern, die sie schwerer Kriegsverbrechen beschuldigten. Aber der kanadische Oberst verbot den Kroaten, den Stützpunkt zu betreten. Er tat genau das Gegenteil dessen, was sein niederländischer Kollege einige Tage zuvor in Srebrenica gemacht hatte. Und das, obwohl Knin weder eine entmilitarisierte Zone noch eine Sicherheitszone war. Beides war aber in Srebrenica sehr wohl der Fall.

Ihre Eltern und Ihr Bruder waren unter den ausgewiesenen Flüchtlingen auf dem UN-Stützpunkt. Sie selbst mussten den Befehl zum Verlassen des Stützpunktes übersetzen. Wie werden Sie mit der Erinnerung an dieses Ereignis fertig?

Ich versuchte schon 1996, etwas über den Verbleib meiner Angehörigen in Erfahrung zu bringen. Ständig war ich in diesem Wechselbad der Gefühle zwischen der Hoffnung auf ein Lebenszeichen und der kalten Angst vor der Todesnachricht. Das Bedürfnis, herauszufinden, ob meine Familie umgekommen war, wurde übermächtig. Jahrelang habe ich gefährliche Ausflüge auf die serbische Seite gemacht, um meine Angehörigen zu finden. Bereits 1996 war ich in Zvornik im Nordosten Bosnien-Herzegowinas, wo die meisten Massengräber sind. Aber meine Hoffnung schwand, als sie geöffnet und Tausende von Skeletten ausgegraben wurden. Sie waren erst zu identifizieren, als 2000 mit dem DNA-Abgleich begonnen wurde. Inzwischen habe ich die Leiche meines Vaters gefunden und begraben. Von meinem Bruder fehlt jede Spur. Ich versuche, nicht in Hass zu verfallen. Ich behandle das Thema auf einer rationalen Ebene, das heißt, ich kämpfe um die Verurteilung der Kriegsverbrecher.

Aber Sie meinen damit nicht nur die beiden Hauptverantwortlichen Radovan Karadzic und seinen General Ratko Mladic?

Nein. In der Konzentration auf diese beiden sehe ich die Gefahr, dass die tatsächlichen Probleme des Landes untergehen werden. Manche Kriegsverbrecher leben unter uns, und einige von ihnen bekleiden wichtige öffentliche Ämter. Karadiæ und Mladiæ sind wichtig, aber viel wichtiger finde ich, dass die vielen anderen unbekannten Mörder und Vergewaltiger vor Gericht gestellt werden.

Wie gefährlich sind Ihre Recherchen?

Auf der Suche nach Zeugen gehe ich an Orte des Verbrechens, aber nie ohne Begleitung. Im Fall meiner Familie zahlte ich auch für Informationen. Meine Mutter wurde im Gefängnis ermordet. Ein serbischer Ohrenzeuge, dessen Namen ich nie nennen werde, lag in der Nachbarzelle. Er sagte zu mir: "Hassan, deine Mutter starb wie eine Heldin". Eines Abends hörte er fünf oder sechs Tschetniks im Flur brüllen: Wo ist die türkische Frau? Muslime werden von Serben oft Türken genannt. Sie kamen, um sie zu vergewaltigen. Ihr Zellennachbar hörte das Splittern von Glas. Sie hatte das Fenster zerschmettert und sich mit einer Scherbe die Adern aufgeschnitten. Ein Serbe verlangt Geld dafür, dass er mir zeigt, wo sie verscharrt liegt.

Wie reagiert die Bevölkerung auf Ihre Bemühung um eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen?

Die meisten Menschen stehen im täglichen Existenzkampf und überlassen diese Arbeit mir und anderen Aktivisten. Meine Nachforschungen sind vielen Bosniaken lästig, denn sie rühren an eine offene Wunde, die an eine schmerzliche Vergangenheit erinnert. Mit Serben unterhalte ich mich nie über den Krieg. Das ist die einzige Chance, in meinem Job bei der EU-Polizeimission zu überleben, wo Bosniaken, Serben und Kroaten gemeinsam arbeiten.

Welchen Auftrag hat die EU-Polizeimission, für die Sie arbeiten?

Ich bin nicht befugt, darüber detaillierte Auskunft zu geben. Im Rahmen der Mission sind rund 170 europäische Polizisten vor Ort, welche die lokalen Beamten ausbilden und die Polizeibehörden kontrollieren. Am Ende dieses Prozesses soll die Polizei in Bosnien-Herzegowina in der Lage sein, für Sicherheit und Ordnung im eigenen Land zu sorgen und mit anderen internationalen Polizei- und Rechtsstaatorganisationen zusammenzuarbeiten.

Wie leben die einst verfeindeten Kriegsgegner nun zusammen?

Der Begriff "verfeindet" ist nicht korrekt. Die Volksgruppen waren nicht verfeindet. Ich war nie ein Feind der Serben. Warum sollte ich? Wir haben untereinander geheiratet, in der selben Firma gearbeitet, wir waren Nachbarn.

Aber die Nationalitäten haben Krieg gegeneinander geführt!

Ich und viele andere Menschen, auch Kroaten und Serben, wurden Opfer dieses Nationalitätenkrieges, ohne dass wir ihn gewollt hätten. Und nun müssen wir mit den Folgen leben. Heutzutage gibt es nur noch wenige Orte, in denen die Volksgruppen zusammen leben, wie beispielsweise im nordbosnischen Distrikt Brcko, der dem Gesamtstaat unterstellt ist. Das Modell sieht vor, dass in den drei Gebieten - also der Förderation Bosnien-Herzegowina, der Republik Srpska und Brcko - die ethnischen Gruppen zusammen leben. Aber tatsächlich leben sie getrennt, die meisten Serben in der Republik Srpska und die Bosniaken in der Föderation. Bosnien-Herzegowina ist ein geteiltes Land. Und das ist eine Folge des Dayton-Vertrages, der nationalistische Interessen zulasten eines multiethnischen Zusammenlebens begünstigt.

Immerhin hat der Dayton-Vertrag das Morden in der Region beendet und die Grundlagen für Frieden geschaffen, oder nicht?

Das ist richtig. Aber die Lösung ist nur teilweise befriedigend, weil sie ein fragiles Gleichgewicht schuf, das derzeit vom Hohen Repräsentanten, als Vertreter der internationalen Gemeinschaft ausbalanciert wird. Er übt einen Teil der Staatsgewalt aus.

Der Hohe Repräsentant, der Österreicher Valentin Inzko, überwacht nach wie vor als Vertreter der UN die Umsetzung des Dayton-Vertrages und besitzt weitgehende Vollmachten in Ihrem Land. Warum ist seine Position noch immer wichtig?

In der Föderation fürchten sich die Menschen vor einer neuerlichen Teilung des Landes. Denn die Republik Srpska strebt nach Unabhängigkeit. Die stärkste Lobby, weil sie dort nach Unabhängigkeit ruft, sind die Kriegsverbrecher, die sich dann nicht vor Gericht verantworten müssten. Wir brauchen den Hohen Repräsentanten auf unserem Weg, einen Gesamtstaat zu bilden. Wenn er abzieht, bricht die fragile Stabilität des Landes zusammen.

Was könnte beim Aufbau eines Gesamtstaates helfen?

Eine Mitgliedschaft in der EU könnte die Lösung bringen. Denn Hoffnung wird motiviert durch Geld. Mit Geld aus der EU könnte die Situation im Land verbessert werden, mehr Arbeitsplätze würden die soziale Lage stabilisieren helfen. Darin sehe ich die einzige Chance für unser Land.

Hasan Nuhanovic, geboren 1968, arbeitete 1995 als Übersetzer für die Vereinten Nationen im Stützpunkt Srebrenica. Er musste den Menschen, die dort Zuflucht gesucht hatten, darunter seine Familie, den Befehl zum Verlassen des Stützpunktes übersetzen.
Über das Versagen der Vereinten Nationen in Srebrenica hat Nuhanovic das Buch "Under the UN-Flag. The International Community and the Srebrenica Genocide" geschrieben. Er setzt sich heute für die Verurteilung der Kriegsverbrecher ein.