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"Hassprediger im Internet werden verfolgt"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Europaarchiv

Polizei kam mutmaßlichem Täter durch Computer auf die Spur.


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Toulouse. Der Computer führte die Polizei schließlich auf die Spur von Mohamed Merah. Tagelang tappten die Beamten im Dunkeln auf der Suche nach dem mutmaßlichen siebenfachen Mörder von Toulouse. Doch die IP-Adresse des Computers, der auf Merahs Mutter angemeldet war, brachte Licht ins Dunkel: Von ihr aus war einer der Ermordeten kontaktiert worden.

Mehr Überwachung, härtere Strafen, war die Lehre, die Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy daraus zog. Die Urheber von Hass-Seiten im Internet würden stärker verfolgt, genauso wie deren Konsumenten. "Von jetzt an wird jede Person, die regelmäßig Internetseiten aufruft, die den Terrorismus verherrlichen oder zu Hass und Gewalt aufrufen, strafrechtlich verfolgt", kündigte Sarkozy an. In Österreich droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, wenn man sich im Internet Informationen zur Begehung einer terroristischen Straftat holt.

Bekannt ist, dass Merah die Morde akribisch mitgefilmt hat. Inwieweit er durch Internetseiten radikalisiert wurde, oder gar selbst eine Internetseite betrieben hat, ist noch nicht geklärt. Die Filme von Enthauptungen, die er sich so gerne angesehen haben sollen, dürften aber aus dem virtuellen Netz stammen. Doch so oder so: Was nützt die beste Überwachung, wenn der Verdächtige trotzdem durch das Netz schlüpft?

Tatsächlich beobachtete der Geheimdienst Merah bereits seit Jahren, nach mehreren Aufenthalten in Afghanistan und Pakistan. Noch im November wurde er deshalb befragt, stellte diese aber als touristische Reisen dar. Auch sein älterer Bruder Abdelkadir wurde beobachtet wegen seiner Nähe zu islamistischen Gruppen; er galt ihm als Vorbild und Vaterersatz, da seine Mutter Merah und seine vier Geschwister alleine aufzog. Trotz alledem habe nichts darauf hingewiesen, dass er solche Wahnsinnstaten plante, erklärte Innenminister Guéant.

Das sagt auch Merahs Umfeld. Bekannte und Nachbarn beschreiben den Mann, der als "Staatsfeind Nummer eins" die Ermittler tagelang auf Trab hielt, als ruhig und umgänglich. Gläubig - aber nicht regelmäßig praktizierend. Kriminell - aber vergleichsweise harmlos. Ein schmächtig gebauter junger Mann, der immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geriet, meist wegen Diebstählen oder Fahren ohne Führerschein. "Er wollte das alles hinter sich lassen", erklärt ein Sozialarbeiter, der ihn vor einigen Jahren betreute. Ja, Mohamed konnte ausrasten, räumt er ein. "Aber im Alltag hat dieser Junge alten Damen die Türe aufgehalten."

Al-Kaida im Maghreb bekennt sich zu Attentaten

Als er 2008 bei der französischen Armee anheuerte, wies ihn diese wegen seines vollen Strafregisters ab. Eine weitere Bewerbung im Juli 2010 bei der Fremdenlegion zog er selbst zurück. Unmittelbar darauf fuhr er nach Afghanistan, allerdings auf eigene Kosten und ohne die bekannten Netzwerke. Der Pariser Staatsanwalt François Molins spricht von einem "untypischen Profil salafistischer Selbst-Radikalisierung": Ein Einzelgänger weitgehend ohne Strukturen und Vernetzung, der sich tagelang zu Hause einschließe, um Enthauptungsvideos der Al-Kaida im Internet anzusehen. 2008 wurde er zu einer längeren Haftstrafe wegen eines Raubs verurteilt. "Wir wissen, dass er im Gefängnis begann, sich zu radikalisieren", sagt Molins. Merah habe einen großen Hass auf die Gesellschaft entwickelt, berichtet auch Anwalt Christian Etelin, der ihn mehrmals verteidigt hat.

Und doch erschien ihm der Junge mit dem "Engelsgesicht" nie wie ein religiöser Fanatiker. Staatsanwalt Molins hat erklärt, dass er seine Bluttaten filmte. "Wenn ich sterbe, gehe ich ins Paradies - wenn ihr sterbt, Pech für euch", erklärt er auf einem Video. Gestern bekannte sich laut der Zeitung "Figaro" eine Gruppe von Al-Kaida im Maghreb auf der Internet-Seite Shamikh zu den Attentaten.

"Er wollte mit der Waffe in der Hand sterben"

Merahs letzter Kampf war gewaltsam und ungleich - so wie auch die vorherigen. Hatte er bei seinen Attentaten Soldaten von hinten erschossen, Kinder und einen Rabbiner vor einer Schule kaltblütig hingerichtet, so fand er sich seit Montagnacht umzingelt von einer Elite-Einheit der französischen Polizei wieder. Ihm blieb keine Chance, und doch verschanzte er sich mehr als 30 Stunden in seiner Erdgeschoß-Wohnung - "bis an die Zähne bewaffnet", wie ein Beamter sagte.

Er habe "mit der Waffe in der Hand" sterben wollen, hatte er den Beamten gesagt, die stundenlang mit ihm verhandelten, um ihn zum Aufgeben zu bewegen. Seine von der Polizei festgenommene Mutter verweigerte ihre Hilfe, sie habe ohnehin keinen Einfluss auf ihren Sohn. Er sei kein Märtyrer, sagte der junge Mann, der sich der Terror-Organisation Al-Kaida zugehörig erklärte und sich als "Mudschaheddin" bezeichnete, als Gotteskrieger, der Rache üben wollte für den Tod an palästinensischen Kindern und das Engagement der französischen Armee in Afghanistan. Aussagen, die zum blutigen Feldzug der letzten Tage passten.

Tagelang hatte der Franzose algerischer Abstammung die Region in Panik versetzt, nachdem er am 11. März - dem Jahrestag der Al-Kaida-Anschläge von 2004 in Madrid - einen Fallschirmjäger in Toulouse erschoss, mit dem er sich auf eine Internet-Annonce für den Verkauf eines Motorrades verabredet hatte. Einige Tage später tötete er in der 50 Kilometer entfernten Stadt Montauban zwei weitere Soldaten und verletzte einen schwer. Am Montagmorgen erschoss er vor einer jüdischen Schule in Toulouse einen Religionslehrer, dessen beiden Söhne und ein Mädchen. Jeweils trat der Täter ruhig und entschlossen auf, kam auf einem gestohlenen Motorroller und maskierte sich mit einem Helm.

Möglicher Fehler des Geheimdiensts wird geprüft

"Wir können es nicht fassen", sagen Merahs Freunde in Toulouse den Reportern. "Ich habe ihn noch vor ein paar Tagen gesehen, er war super-gut drauf." Über Politik sprach er demnach fast nie. Er liebte die Schnelligkeit, Motorräder, schicke Autos - "wie wir alle." In der Karosseriefabrik, in der er früher arbeitete, galt er als fleißig. Zuletzt war er arbeitslos.

Es gibt aber auch andere Stimmen. Eine ehemalige Nachbarin erhebt in der Zeitung "Le Télégramme" schwere Vorwürfe: Merah habe ihre Tochter bedroht und ihrem 15-jährigen Sohn Kriegsgesänge vorgespielt, seine Säbel-Sammlung und Video-Exekutionen gezeigt. "Er sagte ständig, er werde diejenigen auslöschen, die Muslime töten", wird die Frau zitiert. Mehrmals habe sie geklagt. Ohne Erfolg.

Ohnehin geraten jetzt die Geheimdienste in die Kritik. Wie konnte sich Mohamed Merah unbemerkt ein riesiges Waffenarsenal zulegen? Immer wieder ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet reisen, sich laut eigener Aussage von Taliban ausbilden lassen?

Außenminister Alain Juppé kündigte an, die Schwachstellen überprüfen zu lassen. Rechtspopulistin Marine Le Pen klagte lautstark Fehler des Geheimdienstes an sowie die "Laxheit" der Linken als auch der konservativen Regierung gegenüber dem "muslimischen Fundamentalismus". Sie befindet sich im Wahlkampf. Während sich auch die Parteien beharken, bemühen sich die meisten Kandidaten um staatsmännische Würde. Präsident Nicolas Sarkozy rief die Nation in einer Fernsehansprache zur Geschlossenheit auf und warnte vor Rachegelüsten: "Diese Verbrechen sind nicht die eines Verrückten. Es sind die eines Fanatikers und Monsters", so Sarkozy.

Eine halbe Stunde davor war sein sozialistischer Gegenspieler François Hollande vor die Presse getreten. "Die Republik ist immer stärker", erklärte er feierlich. Die Ereignisse in Toulouse gelten jetzt schon als Wendepunkt im Wahlkampf, der sich künftig um die Themen innere Sicherheit und die islamistische Gefahr drehen dürfte, aber auch die Probleme mit der Integration vieler Jugendlicher gerade in den Vororten. In Toulouse überwog die Erleichterung. "Jetzt können wir wieder schlafen", sagte ein Anwohner.