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Gerichtsgutachten
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Diese rhetorische Frage stellte der vorsitzende Richter im Grazer Amokfahrer-Prozess. Ein Prozess mit medialer Aufmerksamkeit wird "gründlicher" geführt, als ein No-Name-Prozess. Alen R. wurde dreifach begutachtet. Den Gutachtern lag umfangreiches Material vor. Über Alen R. gibt es einen umfangreichen Krankenakt. Die Gutachter konnten sich Zeit nehmen - und auch verrechnen.
Trotzdem konnten sich die drei Gutachter nicht einigen: Zwei hielten Alen R. nicht, einer schon für zurechnungsfähig.
In Low-Budget-Prozessen läuft alles billiger ab: Ein Gutachter, wenig Zeit, keine Aufmerksamkeit. Was der Gutachter schreibt, gilt! Maximal muss der Gutachter in einer Verhandlung sein Gutachten erörtern, was aber grundsätzlich nur eine Pflichtübung ist.
Es liegt in der Natur der Sache, dass zwei Parteien, die vor Gericht ziehen (oder gezogen werden) den strittigen Sachverhalt unterschiedlich sehen oder zumindest argumentieren. Nicht immer kann der Sachverhalt durch eine freie Beweiswürdigung entscheidungsreif aufgearbeitet werden. Oft ist die Hilfe einer Sachverständigen - auch als friend of the court übersetzt - nötig.
Dann entscheidet letztendlich die Sachverständige. Eine Partei wird sich immer benachteiligt fühlen. Dementsprechend schlecht ist der Ruf der friends of the court.
Trotzdem werden die meisten das Gutachten als Beweis als einen Fortschritt gegenüber den Gottesurteilen oder der Wahrheitsfindung durch Folter erachtet. Bei Gottesurteilen könnte eventuell eine psychologische Komponente geltend gemacht werden: Wer sich unschuldig weiß, besteht vielleicht eher die Feuerprobe, als einer, der seine Schuld kennt. Tatsächlich werden aber andere Faktoren bestimmen, welche körperlichen Folgen eine Feuerprobe verursacht. Und wenn auch der Einsatz der Folter im Mittelalter gesetzlich geregelt (mitunter wurden über die Art der Anwendung einer Folter universitäre Gutachten eingeholt) war, so steigen einem noch heute die Grausbirnen auf, wenn man über peinliche Befragungen auch nur liest. Es gibt Aufzeichnungen, die belegen, dass peinlich Befragte freigesprochen wurden und überlebten; die meisten allerdings nicht lange.
Wenn also von einer totalen Überwachung und Datenspeicherung abgesehen wird, bleibt nur der Sachverständigenbeweis für die "Wahrheitsfindung".
Um die fruchtbare Symbiose Richter-Gutachterin weniger furchtbar ausfallen zu lassen, könnten aber einige Änderungen der Gutachterei vorgenommen werden:
1) Spezielle Plagiatsprüfungen: Es gibt Gutachten-Fabriken, die "Gutachten" auf die eine oder andere Art "vereinfacht" haben: Schnelle Ermittlung des Sachverhalts, standardisierte Verarbeitung und einheitliche Schlussfolgerungen. Wenn sich zum Beispiel ein Gutachter auf "Abweisung von Anträge auf Frühpension" spezialisiert hat, dann profitiert er selbst durch Senkung des eigenen Aufwands und durch seine Zeitersparnis, verschafft aber auch seiner Auftraggeberin (zum Beispiel einer Pensionsversicherungsanstalt durch sein spezielles Fachwissen - was wollen Richterinnen hören) einen Vorteil. Ihre Gutachten ähneln ausgefüllten Formularen. Fließbandgutachter arbeiten auch mit Textbausteinen. Plagiatsprüfungen werden auch auf anderen Gebieten erfolgreich eingesetzt.
2) Gutachter werden chronologisch aus einer Liste ausgewählt, auf deren Reihung die einzelne Richterin keinen Einfluss hat. Das "Vertrauensverhältnis" Richter-Gutachterin widerspricht jeder Objektivität. Eine Gutachterin ist wirtschaftlich von der Richterin, und eine Richterin inhaltlich von der Gutachterin abhängig. Überlegung der Richterschaft, welcher Gutachter wohl der "beste" für eine bestimmte Entscheidung sei, wären Geschichte. Fachlich minder qualifizierte Gutachterinnen würden vermehrt auf Widerspruch stoßen und ausgeschieden werden. Jede Tätigkeit erfordert eine gewisse Lehrzeit. Den Gutachter, der vom ersten bis zu letzten Gutachten eine über alle Zweifel erhabene Leistung erbringt, gibt es ohnehin nicht.
3) Ombudsstelle für Gutachteropfer: Ombudsstellen sind immer problematisch und werden in der Regel Einzelnen keine große Hilfe sein: Zu sehr wird der Arbeitsweise eines Systems als Angehöriger desselben vertraut. Eine gewisse Kontrolle wäre allerdings durch eine Häufigkeit von (möglicherweise gleichlautenden) Beschwerden über bestimmte Gutachterinnen gegeben.
4) Überführte Gutachter müssen bestraft werden: Es kann nicht sein, dass Gutachter, denen das Verwenden von Textbausteinen nachgewiesen wurde, oder die andere Malversationen setzten, von der Justiz ver- oder auch nur geschont werden. Auch Gutachterinnen müssten der Zivil- und sogar der Strafgerichtsbarkeit unterliegen; ganz egal, welche Dienste sie den Gerichten auch geliefert haben.
5) Was auf den ersten Blick unmöglich scheint: Richter halten sich nicht immer an das von ihnen in Auftrag gegebene Gutachten. In der Erörterung eines Gutachtens kann eine Gutachterin mitunter von ihrer bisherigen Meinung abweichen. Dann "interpretieren" Richter gerne die berichtigte Meinung im Sinne der ursprünglichen Meinung.
Gerade dieses "Interpretieren" zeigt, dass Gutachten oft nur eine Farce sind.
Gerichte werden mit einer Evaluierung der Gutachterei nicht zu einem Hort der Gerechtigkeit. Aber vielleicht würde die Zahl der sich bekennenden Gutachter-Opfer sinken.
Zum Abschluss ein Verfahren am ASG Wien, das in dieser Art und Weise in einem Rechtsstaat nichts verloren hat, aber üblich ist:
Ein Antrag auf Frühpensionierung wird abgewiesen. Dagegen wird geklagt. Es werden mehrere Gutachter bestellt. Ein ordentlicher Hochschulprofessor fungiert in glaublich sieben Verhandlungen als Gutachter. Seiner Ansicht ist der Kläger zwar nicht derzeit arbeitsfähig, aber noch therapierbar. Zeugen widerlegen ihn. Das Gericht gibt immer wieder Ergänzungsgutachten in Auftrag. Er verteidigt bis zum Schluss seine Meinung. Letztendlich bricht diese unter der Last der Zeugen zusammen. Die Richterin will der Klage stattgeben. Sie beauftragt den Gutachter, ihrer Absicht in einem Ergänzungsgutachten Rechnung zu tragen. In der letzten Verhandlung verzieht sich der Hochschulprofessor ins letzte Eck des Verhandlungssaals. Die Richterin fragt, ob er sein letztes Ergänzungsgutachten schon fertig hätte. Er bestätigt.
Richterin: "Haben Sie die Arbeitsunfähigkeit hineingeschrieben?"
Gutachter: "Nein."
Richterin: "Dann schreiben Sie das noch hinein."
Gutachter: "Jawoll."