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Hauptsache in Bewegung

Von Jan Michael Marchart und Werner Reisinger

Politik
© WZ-Grafik

Links und Rechts - das habe sich aufgehört. Darüber sind sich immer mehr Beobachter, Journalisten und auch Politiker einig. Tatsächlich scheinen die alten gesellschaftlichen und politischen Schemata immer stärker zu verschwimmen. Eine Analyse.


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Wien. "Was das Links-Rechts-Schema betrifft, bin ich der Auffassung, dass diese Einordnungen heute eigentlich nicht mehr zutreffen." Der Satz stammt nicht von einem Wirtschaftsliberalen oder einem Apologeten der These des Endes der großen Ideologien, sondern vom Chef der ältesten und vormals größten linken Partei in Österreich: SPÖ-Chef und Bundeskanzler Christian Kern. Im Wahlduell mit der grünen Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek gab sich der Sozialdemokrat alle Mühe, seine Sozialpolitik als eine der "Mitte", seine Migrationspolitik als "verantwortungsvoll", ja "vernünftig" darzustellen. Ob Migranten das "neue Proletariat" seien, fragte Kern jüngst das Magazin "profil". In der Voest fühle sich niemand mehr als "Hackler", antwortete Kern selbst, die Milieus hätten sich extrem aufgefächert. "Die alten Einordnungen haben keine Erklärungskraft mehr."

Auch Peter Pilz scheint verwirrt. Just jener ehemalige Grünen-Politiker, der parteiintern und oft zum Leidwesen seiner ehemaligen Parteifreunde lange die Debatte über eine linkspopulistische Neuausrichtung der Grünen vorantrieb, bezeichnete sich selbst in einem Zeitungsinterview als "Rechtslinken". Beim Thema politischer Islam einen harten Kurs einzuschlagen, das ist und bleibt den Grünen unmöglich: zu groß die Gefahr, die für das Selbstverständnis und den Wahlkampf identitätsstiftende Abgrenzung nach rechts zu verwässern. Für Pilz ein Thema, mit dem er über seine Anhängerschaft hinaus, wohl auch unter FPÖ-Anhängern, durchaus Stimmen holen kann. Auch der Politologe Anton Pelinka spricht von "künstlichen Begriffen", wenn es um die Frage geht, ob die SPÖ tatsächlich mit Heinz-Christian Straches FPÖ eine Koalition eingehen würde. Schließlich habe Franz Vranitzky als "rechter" Sozialdemokrat gegolten, und doch sei er es gewesen, der mit seinem Abgrenzungskurs gegenüber Rechtsaußen der SPÖ Identität gestiftet habe, sagte Pelinka jüngst im Interview mit der "Wiener Zeitung".

Funktioniert die Einteilung in linke und rechte Politik tatsächlich nicht mehr? Was ist geschehen?

Traditionelle vs. neue Linke

Die Geschichte dieser Einteilung ist die Geschichte der traditionellen politischen Kräfte - und ihrer Milieus. Das Scheitern des Realsozialismus vor mehr als 25 Jahren stellte für die westeuropäische politische Linke und ihre Wähler eine massive Zäsur dar. In der Folge waren nicht nur ihre politischen Konzepte - ein aktiver Staat mit keynesianistischer Wirtschaftspolitik und starker Umverteilungsorientierung -, sondern auch der ideologische Überbau, allen voran der marxistisch geprägte Klassenbegriff, diskreditiert. Der französische Soziologe Didier Eribon spricht von einer konzertierten Kampagne, die bereits in den 1980er Jahren mittels Konferenzen und gezielter Medienarbeit begonnen habe, die Grundlagen linken Selbstverständnisses zu beseitigen: Dem Klassenbegriff wurde die - vermeintlich - notwendige Individualisierung gegenübergestellt, sozialdemokratische Politiker sprachen, dem "dritten Weg" des als Modernisierer gefeierten britischen Premiers Tony Blair folgend, lieber von "Flexibilisierung" als von kollektiven Kämpfen um soziale und ökonomische Verteilungsfragen.Zumindest das, was zuvor jahrzehntelang als "links" galt, unterlief in der Folge einem nachhaltigen Wandel. Die transformierte Linke nach 1989 stellte immer stärker partikulare Kämpfe und Identitätspolitik ins Zentrum ihrer Politik, gespeist auch von intellektuellen und wissenschaftlichen Diskursen der "kulturwissenschaftlichen Wende". Als "links" galt zudem vor allem, wer sich gegenüber dem damals stetig stärker werdenden Rechtspopulismus abgrenzte. Wie Eribon in seinem Bestseller "Rückkehr nach Reims" treffend aufzeigt, war jedoch auch in Zeiten, als das proletarische Milieu gefestigt hinter ihren linken Parteien stand, dieses keineswegs antirassistisch oder gegenüber sozialen Randgruppen wie Homosexuellen tolerant eingestellt - im Gegenteil. Das fiel nur im politischen Diskurs der Nachkriegsjahrzehnte nicht ins Gewicht. "Die Arbeiterbewegung blieb zu lange in traditionellen Mustern verhaftet", sagt der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey.

Spaltpilz Migration

Genau das begann sich aber ab den frühen 1990er Jahren zu verändern. Das Thema Migration gewann an Bedeutung, und während die Sozialdemokratien sich damit nicht auseinandersetzen wollten oder konnten, gelang es der populistischen und extremen Rechten, es nachhaltig zu besetzen - und durch ihre Wahlerfolge zusehends ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu rücken. Ehemals treue SPÖ-Stammwähler wechselten dauerhaft ins Lager der Rechtspopulisten. Spätestens mit dem Sommer 2015 wurden Migration und Flucht zu einem Metathema, das alles zu dominieren scheint - und damit auf eine Linke trifft, die sich selbst eben über Identitätspolitik und Partikularinteressen definiert. Ein SPÖ-Politiker, der sich für eine Koalition mit der FPÖ ausspricht, kann auf dieser Basis nur als "rechts" bezeichnet werden. So gesehen sind es vor allem die Verwerfungen, die das große Thema Migration mit sich bringt, die das alte Schema in Frage stellen.

Sein und Schein

Der soziale Aufstieg der Arbeiterschaft in der späteren Nachkriegszeit führte dazu, dass sich viele Menschen aus dem ehemals roten Milieu "nicht mehr als Teil der Klasse" begriffen, wie Nachtwey jüngst zur "Wiener Zeitung" sagte. Die Sozialdemokratie reagierte insofern darauf, indem sie sich fortan vor allem auf diese neue Mittelklasse konzentrierte. Auch im vergangenen Wahlkampf stand "die Mittelschicht" - zumindest zeitweise - im Fokus der SPÖ. Beim Kampf um die "Mitte" aber ist es hinderlich, sich weiter als traditionelle Partei zu verorten. Schnell ist der politische Gegner mit dem Vorwurf der "Ideologie" zur Stelle. Und Ideologie, so scheint es, bedeutet das Alte, das Überholte, das Unmoderne.

Davon ist auch die konservative Rechte nicht ausgenommen. Partei will man nicht mehr sein, "Bewegung" passt da viel besser. Zumindest nach außen hin streift man die verkrusteten Parteistrukturen ab, und mit ihnen zumindest auch symbolisch die alten Köpfe, Seilschaften und erstarrten Machtstrukturen. Und mit ihnen die Restbestände ideologischer Ideengebilde, die diese Parteien einst charakterisierten und für gewisse Milieus Solidarität, Teilhabe und Einfluss bedeuteten. "Bewegung" sein, das ist auch die logische Folgerung der Parteien aus der allgemeinen Krise des repräsentativen Systems. Dem folgend verpasste Sebastian Kurz seiner "neuen ÖVP" eine Werbekampagne mit einer schnittigen, türkisen Agenda. Nur ja nicht altbacken-schwarz wirken, ist die Devise. Kurz gibt den unideologischen Pragmatiker, der Quereinsteiger dem alten, bündischen System der Listenbesetzung vorzieht - obgleich die Bündestruktur nur stillgelegt wurde. Ideologische Positionierungen des Gegners werden sofort ausgenutzt: Als Christian Kern in einem "FAZ"-Beitrag ein Ende der dogmatischen Austeritätspolitik forderte, folgte postwendend die ÖVP-Antwort - samt Wahlkampf-Broschüre, auf der Kern mit Hammer und Sichel zu sehen war. Kern blieb nichts anderes übrig, dem Chef des neuen, türkisen Start-ups vorzuhalten, er, Kern, führe mit der Sozialdemokratie die "älteste Bewegung Österreichs". Als Christian Kern die SPÖ übernahm, versuchte sich diese als "Bewegung" ganz hinter die charismatische Inszenierung ihres neuen Chefs zu stellen - inklusive eines "Plan A" .

Spielt das Links-Rechts-Schema also doch eine Rolle, zumindest, wenn es um die Beschädigung des Gegners geht? Ja, sagt der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb. "Im Wahlkampf haben beide Regierungsparteien begonnen, ihr jeweiliges Profil Richtung links bzw. rechts zu schärfen". Den Ideologie-Vorwurf abzustreifen, sei ein Gebot der PR, sagt der Zeithistoriker. "Sehen wir uns aber die Botschaften an, so zeigt sich: Kern und Kurz können sich weder im Sozial-, noch im Steuer- oder im Wirtschaftsbereich auf eine Schnittmenge einigen. Es sind klar unterschiedliche Profile, aber jeder würde sich gegen den Vorwurf der Ideologie verwehren."