EU-Kommissar Margaritis Schinas und Europaministerin Karoline Edtstadler über eine gemeinsame europäische Migrationspolitik.
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Margaritis Schinas ist nicht zu beneiden. Der 59-jährige konservative Grieche ist zwar Vizepräsident der EU-Kommission, aber als EU-Kommissar eben auch zuständig für die Verhandlungen über eine europäische Asyl- und Migrationspolitik. Die "Wiener Zeitung" traf Schinas im sonnigen Alpbach, um mit Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) über die Lage in Afghanistan, nationale rote Linien und die Aussichten auf eine Einigung zu diskutieren.
"Wiener Zeitung": Im Falle Afghanistans hat sich die EU einmal mehr als taub, stumm und blind in einer geopolitischen Krise erwiesen. Wie konnte es dazu kommen?
Margaritis Schinas: Richtig ist, dass wir jetzt in einer großen Krise stecken, aber die EU hat die Lage nicht verursacht, trotzdem sind wir einmal mehr gefordert, Teil einer Lösung zu sein. Ich sehe aber keine Migrationskrise . . .
Noch nicht . . .
Schinas: Warten wir ab. Ich will einen Reflex vermeiden, der uns zurück zum Krisenjahr 2015 führt, bevor überhaupt klar ist, wie sich die Lage entwickelt. Noch ist das offen. Was wir wissen, ist, dass wir heute besser vorbereitet sind als 2015. Wir haben dank Frontex einen sehr viel stärkeren Außengrenzschutz; wir haben die finanziellen Budgetmittel, um den Nachbarstaaten Afghanistans zu helfen; und die Politik der EU-Staaten konvergiert immer stärker. Daher sehe ich jetzt den Moment, um sich auf eine gemeinsame europäische Migrations- und Asylpolitik zu einigen, wie wir sie in der EU-Kommission im September vorgeschlagen haben.
Karoline Edtstadler: Ja, wir haben viel gelernt, aber wahr ist eben auch, dass wir uns noch immer nicht darauf einigen konnten. Die Frage ist nicht, ob wir in einer Krise wie jetzt in Afghanistan helfen - das steht für alle völlig außer Zweifel -, sondern wie wir helfen. Wir brauchen in der Flüchtlingspolitik europäische Lösungen, diese Fragen lassen sich national nicht lösen.
Das Thema ruft national große Emotionen hervor, die auch für die Mehrheitsverhältnisse entscheidend sein können. Österreich ist ein gutes, aber sicher nicht das einzige Beispiel. Wie stellt sich das aus Brüsseler Sicht dar?
Schinas: Ich lebe nicht auf einem anderen Stern, deshalb verstehe ich die Rolle von Migration und Asyl, wenn es um das Wahlverhalten vieler Menschen geht. Auf der anderen Seite muss sich die EU stets vor Augen führen: Wir verfügen über den größten Binnenmarkt, wir haben die zweitgrößte Reservewährung, wir repräsentieren 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Es gibt daher keinen Grund, warum wir nicht auch eine gemeinsame Migrationspolitik haben sollten. Diese würde sich nicht gegen die nationale Souveränität wenden, sondern zu einem funktionierenden, vernünftigen System weiterentwickeln. Ein Beispiel: Die Anerkennungsquote für Asylwerber aus Afghanistan pendelt in den EU-Staaten zwischen 93 und 22 Prozent! Nicht einmal das können wir harmonisieren. Ähnlich ist es beim Grenzschutz. Mittlerweile erkennen dies immer mehr Staaten, die Dinge entwickeln sich.
Edtstadler: Deshalb ist es wichtig, ständig miteinander zu reden, um zu verstehen, wie sich die Situation aus verschiedenen nationalen Blickwinkeln darstellt, um geografische Besonderheiten, aber auch nationale Emotionen zu berücksichtigen. Das ist mitentscheidend, um eine Lösung zu finden. Ich sehe hier keine Instrumentalisierung von Gefühlen durch die Politik. Nationale Politikerinnen und Politiker werden gewählt, um Bedürfnisse und Interessen ihrer Bürger zu vertreten. Österreich hat bereits überdurchschnittlich viel geleistet durch die Aufnahme von mehr als 44.000 Afghanen, womit wir weltweit pro Kopf die viertgrößte afghanische Community haben; wir sind auch bereit, an einem gemeinsamen System mitzuwirken, aber wir haben rote Linien. Dazu zählen Umsiedlungen nach Europa. Wären alle EU-Staaten bereit, so viel zu leisten, wie Österreich das bereits getan hat, hätten wir kein Problem, eine Lösung zu finden.
Niemand will eine erneute Massenmigration nach Europa, sondern Hilfe vor Ort. Statt den Konsens zu betonen, werden die Differenzen aufgebläht. Warum etwa hat sich Österreich nicht an der Evakuierung der Angehörigen der EU-Vertretung in Kabul beteiligt, das ist ja auch die Vertretung Österreichs?
Edtstadler: Politik muss klare Standpunkte vermitteln. Österreich tut das. Es gibt auf allen Seiten den Willen, EU-Bürger aus Afghanistan zu evakuieren, das Außenministerium hat sich von Taschkent aus stark für die österreichischen Staatsbürger engagiert. Das muss und wird auch nach dem Abzug weitergehen. Es stimmt: Wir diskutieren oft zu lange über Dinge, die im Augenblick nicht relevant sind. Jetzt geht es darum, den geflüchteten Afghanen in den Nachbarstaaten zu helfen, gerade Frauen und Mädchen. Österreich stellt dafür 18 Millionen Euro Soforthilfe bereit. Aber bitte akzeptieren Sie, dass es andere Formen von Hilfe gibt, als sie nach Österreich zu bringen. Das gilt auch für Lokalkräfte der EU-Botschaft in Kabul: Das Außenministerium hatte selbst weder eine Botschaft in Kabul noch Ortskräfte, hat hier aber angeboten, zusätzliche Lokalkräfte aus Afghanistan an der österreichischen Botschaft in Islamabad anzustellen. Damit signalisieren wir als EU auch, dass wir der Region nicht den Rücken kehren.
Schinas: Lassen Sie mich die politische Dimension dieser Frage betonen: Wir haben die Verpflichtung, all jenen zu helfen, die sich für europäische Werte starkgemacht und mit uns zusammengearbeitet haben, als Hilfskräfte vor Ort, aber auch als Richterinnen, Journalistinnen oder Aktivistinnen. Diese Pflicht kennt kein Ablaufdatum. Ich plädiere also dafür, die Diskussion zu entdramatisieren, weil dies vergessen lässt, dass der EU-Rat sehr pragmatisch und konsensual sehr vernünftige Beschlüsse getroffen hat.
Die Blockade ist dennoch ungebrochen: Österreich ist nicht bereit, freiwillig neue Flüchtlinge durch Umsiedlung aufzunehmen; Osteuropa verweigert überhaupt die Aufnahme muslimische Flüchtlinge; im Süden funktioniert weder Grenzschutz noch Registrierung . . .
Schinas: Wir in der EU-Kommission kennen die roten Linien der Mitgliedstaaten sehr gut, deshalb dürfen wir nicht Situationen reproduzieren, die die Spaltung vertiefen, sondern müssen mit konstruktiven Kompromissen eine Landungszone für Lösungen schaffen. Nur so kommen wir weiter. Unsere Vorschläge entsprechen einem gemeinsamen Haus mit drei Etagen: Im 1. Stock geht es um unsere Beziehungen zu den Herkunfts- und Transitstaaten von Migration außerhalb der EU; wir werden das Problem nie intern lösen, solange wir es nicht extern managen können. Im 2. Stock geht es um einen starken Außengrenzschutz und eine Harmonisierung bei der Anwendung der Asylregeln. Und im 3. Stock geht es um EU-interne Solidarität und Lastenausgleich, wobei es aber unterschiedliche Wege geben muss, sich solidarisch zu zeigen.
Wann wird es ein Management der Migration mit den Herkunfts- und Transitländern geben?
Schinas: Überraschenderweise ist es der 1. Stock, bei dem sich alle einig sind . . .
Ja, weil es sich um die Drittstaaten handelt. Das Problem ist, Kooperationspartner zu finden, die Migranten nur durchlassen, wenn es den Abmachungen entspricht.
Schinas: Wir wissen, wer hier unsere Partner sind, wir haben 25 Drittstaaten identifiziert, und mit denen kooperieren wir. Das ist also auf einem guten Weg. Probleme haben wir beim Bau der 2. und 3. Etage, es braucht eine stabile Treppe als Verbindung.
Edtstadler: Hier geht es dabei vor allem um Solidarität und Verantwortung. Beim Aufbau eines funktionierenden Systems für die Zukunft kann nicht einfach ignoriert werden, was bereits geleistet wurde, etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Das muss berücksichtigt werden, dann wird auch Österreich zustimmen. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt. Es ist billig, Österreich nur zu kritisieren, ohne zu sehen, was wir leisten und geleistet haben.
Für eine Einigung müssten auch Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Slowenien ihren Anteil an Asylwerbern aufnehmen.
Edtstadler: Ja, oder aber diese Staaten leisten anders einen solidarischen Beitrag.
Schinas: Ihre Frage bezieht sich auf den 3. Stock. Hier wird es viele Zimmer geben, für Umsiedlung, Grenzmanagement, Assistenzeinsätze, und dann gibt es auch die neue Idee von Rückkehr-Patenschaften, wo sich einzelne EU-Staaten darum kümmern, dass Menschen ohne Anspruch auf ein Bleiberecht die EU auch wieder verlassen. All diese Probleme lassen sich bewältigen, noch haben wir es nicht geschafft, aber wir kommen dem Ziel schrittweise näher.
Wann wird es eine Lösung geben?
Schinas: Das ist schwer zu sagen. Nach den französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 ist eine gute Gelegenheit, die letzten Hindernisse zu überwinden, dann wird es auch eine neue Regierung in Deutschland geben. Und damit könnte man auch den eifrigsten Gegnern einer Einigung, den Populisten am rechten und linken Rand, den Wind aus den Segeln nehmen. Die leben nämlich politisch vom Vorwurf, dass die EU unfähig sei, in dieser Frage gute Lösungen zu finden.