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Heilkunde nach Zuschnitt

Von Eva Stanzl

Wissen
Eine Zelle, die zu viel Protein erzeugt, kann krankhaft werden. corbis
© © © Nancy Kedersha/Science Faction/Corbis

Ein Symposion in Wien lotet Wunschvorstellung und Realität aus.


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Wien. Mit den Namen "individualisierte", "personalisierte" oder "maßgeschneiderte" Medizin wird seit ein paar Jahren ein verführerisches Konzept beworben. Dabei erhält jeder Patient Medikamente, die eigens auf seine Erkrankung zugeschnitten sind und die berücksichtigen, wie sich seine Gene, Fette und Eiweiße gegenüber der Krankheit verhalten. Statt Gewebe breitenwirksam mit Chemotherapien zu killen, will die Medizin mit den gezielten Ansätzen größere Erfolge erreichen.

Welche Formen dieser Art der Heilkunde bereits Realität sind, was noch alles bis wann Wirklichkeit werden kann und welche der Verheißungen schon allein aus Kostengründen Wunschvorstellungen bleiben werden, erörtern Experten bei dem heute beginnenden Symposion "Personalized Medicine", das bis Samstag in der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien stattfindet.

Unterschiedliche Wirkungen

Schon heute wird jeder Patient individuell behandelt, könnte man meinen. Immerhin kann ein Arzt nur dann halbwegs gut sein, wenn er sich seinen Patienten zuwendet, auch werden Medikamente ja nicht für alle in der gleichen Dosis verschrieben. Die Praxis folgt allerdings dem Prinzip von Trial and Error: Der Arzt versucht es zunächst mit einem Wirkstoff. Funktioniert dieser nicht, probiert er den nächsten, so lange, bis er den richtigen trifft.

"Personalisierte Medizin ist eine System-biologische Technologie zur Vorhersage der Empfänglichkeit von Personen auf bestimmte Krankheiten", sagt Georg Stingl, Präsident der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der ÖAW, zur "Wiener Zeitung". Vor zehn Jahren war die DNA-Sequenzierung eine Revolution - heute könne die medizinische Biotechnologie fast alle Bausteine des Lebens buchstabieren. Die genetischen Codes eines jeden Menschen, alle Eiweiße und Fette sind ein offenes Buch. Das eröffnet ganz neue Perspektiven.

Hat etwa ein bestimmtes Eiweiß eine Mutation, kann dies seine Funktion verändern. "Auf lange Sicht kann dabei entweder etwas Krankhaftes entstehen, oder aber die Mutation kann verhindern, dass ein Medikament im Körper wirkt", sagt Stingl als Professor der Abteilung für Dermatologie der Medizinuni Wien. Umgekehrt würden etwa Melanom-Zellen Eiweiße enthalten, die auf ein bestimmtes Medikament nur dann ansprechen, wenn sie Mutationen enthalten.

Um die richtigen Arzneien verabreichen zu können, gelte es, all diese Mutationen zu identifizieren, betont Stingl und warnt: "Häufig erkennen wir eine Aberration, behandeln sie gezielt und Tumore bilden sich zurück. Jedoch kann sich später eine neue Mutation bilden." Womit das Prozedere von vorne beginnt. Verlässliche Daten zu verbesserten Heilungschancen gebe es daher noch nicht, wohl aber solche zum Behandlungserfolg.

In einer im "New England Journal of Medicine" erschienenen Studie haben Forscher getestet, wie gut sich eine bestimmte Mutation ("B-Raf-Mutation"), die in 70 Prozent der Tumore vorkommt, aufgrund maßgeschneiderter Therapie zurückbildet. Diese habe bei einer überwiegenden Mehrheit der Testpersonen zu einer Lebensverlängerung geführt, während breitenwirksame Chemotherapien vermieden werden konnten. Stingl zufolge könnten künftig "Tumor-Landkarten" für Betroffene erstellt werden, die die Tumor-Strukturen und jede einzelne Mutation darstellen. Laut dem Wiener Humangenetiker Markus Hengstschläger "steckt der Forschungszweig zwar noch in den Kinderschuhen. Aber schon in 10 bis 20 Jahren werden jeder Person Medikamente verschrieben werden, die auf ihre Gene und Verstoffwechselung zugeschnitten sind." Anwendungen gebe es derzeit unter anderem auch bei Brustkrebs, Prostata-Karzinom und psychischen Krankheiten.

Doch die Verheißung bringt auch Risiken. Etwa könnte künftig schon die erste Stuhlprobe Aufschluss geben über das Krankheitsrisiko von Neugeborenen. Oder "ewige Patienten" könnten ihr Leben damit verbringen, mögliche Erkrankungen abwenden zu wollen. Hengstschläger betont, dass derart Geneigte sich schon jetzt das Leben krankreden können auf der Basis von Gentests im Internet, die für Geld angeboten werden. "Jedoch unterscheidet sich ein Internet-Gentest von jenen Tests, mit denen das richtige Medikament gefunden werden soll", betont er.

Und wie soll das ohnehin marode Gesundheitssystem dafür aufkommen? Stingl sieht die Finanzierung als Kosten-Nutzen-Frage: "Es ist ein Riesen-Aufwand, alle Menschen präventiv zu sequenzieren. Aber wenn wir Allerwelts-Chemotherapeutika einsetzen, können manche so darunter leiden, dass der Tumor nicht geheilt wird und es Nebenwirkungen auf alle Organe gibt."