Wem gebührt der Vorrang: dem Bund oder den Ländern? | Die Suche nach Österreich zwischen Provinz und Europa. | Wien. Es ist die Frage nach der Henne und dem Ei. Waren zuerst die Bundesländer, von deren Willen die Existenz Österreichs abhing und abhängt? Oder gebührt der Republik der Vorrang - und diese ist dann halt in neun Verwaltungsdistrikt unterteilt?
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Von den historischen Fakten her ist es keine Frage: Bei der Begründung der Republik nach beiden Kriegen war die Willensbildung in den Bundesländern wichtig. Diese fiel nach dem Zweiten Weltkrieg eindeutig für Österreich aus; nach dem Ersten aber dagegen. Und es war nur der aufgezwungene Wille der Siegermächte, der die neun heutigen Bundesländer nach 1918 zu einem Staat zusammenzwang.
Dadurch entstand ein Österreich, das lediglich als "der Rest" definierbar war, das es in dieser Gestalt vorher nie gegeben hatte, dessen Name primär die Bezeichnung eines "Hauses", also der Habsburger, gewesen war. Das machte die Findung einer Identität für die neue Republik besonders schwierig, da man gleichzeitig diese Familie des Landes verwies. Das Land Österreich verfemte das Haus Österreich.
Die einen wollten nicht, andere durften nicht
Noch schwieriger für die Identitätsfindung des neuen Landes war nach 1918 der tränenreiche Abschied von rein deutschsprachigen Teilen Österreichs, von Südtirol, von Südböhmen, Südmähren, der Südsteiermark oder den Sudetengebieten. Also: Während etliche der Bundesländer nicht bei Österreich dabei sein wollten, durften andere Gebiete - ohne die weder die Tiroler noch die steirische noch die Wiener Kultur denkbar wäre - nicht dabei sein.
Zurück ins Heute: Dass jede Organisationsebene, jede Seite der österreichischen Medaille sich als die wichtigste darstellt, sollte nicht verwundern. So ist es in jedem Büro, in jeder Gesellschaft.
Kann man die Henne-Ei-Debatte bei der Hühnerzucht ignorieren, so ist das beim Aufbau eines Staates aber nicht möglich. Eine Verfassung muss klare Antworten geben, wenn sie funktionieren soll. Vergangene Konstellationen können da nur teilweise weiterhelfen - zu unterschiedlich waren sie in den letzten hundert Jahren Österreichs.
Auch zeigt die Geschichte von 1918, wie wenig hilfreich alte Strukturen für aktuelle Antworten sind: So hat die damalige Aufrechterhaltung der alten territoriale Einheit Böhmens und Mährens durch die Siegermächte völlig ignoriert, dass große Gebietsteile rein deutsch besiedelt waren. Im Fall Tirols hat man hingegen die ähnlich alte Landeseinheit total ignoriert. Deren Beibehaltung wäre auf Grund der italienischen Besiedlung des Trentinos tatsächlich im Sinn des Selbstbestimmungsrechts ungerecht gewesen; genauso ungerecht war aber auch (zumindest für Hunderttausende deutschsprachige Tiroler) die Grenzziehung an Hand der Berge statt der Einwohner.
Emotionale Bindung und Funktionalität
Entscheidend für den künftigen Stellenwert im Machtspiel von Bund ist also sicher nicht die Geschichte. Entscheidend ist, welche Konstruktion die Bürger wollen und brauchen. Es geht um emotionale Bindung wie auch um Funktionalität, also um das, was jede Ebene für das Heute und Morgen leisten kann.
Emotional - das wird politisch oft unterschätzt - ist vielen Österreichern ihr Bundesland näher, vertrauter, lieber als die Republik oder gar die EU. Das bestätigen zahllose Studien. Das trifft besonders für den Süden und Westen Österreichs zu.
Provinzialismus in einer globalen Welt
Das mündet freilich auch oft in Provinzialismus. Dieser kann einem auch heitere bis peinliche Erlebnisse bescheren: etwa wenn man mit einem steirischen Kollegen durch China reist, der bei fast jedem Gespräch die Besonderheiten der Steiermark und ihrer Landwirtschaft zum Thema zu machen versucht. Und der sich dann wundert, auf so viel Ahnungslosigkeit über die Wichtigkeit der Steiermark zu stoßen.
Ähnlich mussten auch die Chefs der Bundesländer lernen, dass ihr Gewicht in Brüssel ein sehr kleines ist; sie nehmen deshalb oft - auf Steuerkosten - eigene Begleitjournalisten mit, damit wenigstens irgendwo ihr Besuch bei der EU vermerkt wird.
Freilich geht es auch österreichischen Ministern international oft ähnlich: etwa beim Weltwirtschaftsforum in Davos müssen sie unter der Weltprominenz froh sein, wenn sie irgendwo in einem Nebenraum ein paar Minuten zu Wort kommen. #
Zurück zu den Bundesländern: Trotz ihrer relativ geringen Bedeutung im internationalen Getriebe ist die regionale Verankerung der Menschen wichtig und notwendig. Denn das Bundesland ist für die Mehrheit der Österreicher in besonderem Ausmaß Heimat. Und "Heimat" liegt bei fast allen Umfragen an der Spitze der persönlichen Wertskala, auch wenn es in der jeweils jungen Generation einen natürlichen Drang in die Ferne gibt, der sich aber ab Familiengründung wieder zu einer Heimatbindung umkehrt.
Eine spezifische Form dieser Heimatbindung ist der noch immer sehr hohe Stellenwert für Umweltschutz, der ja nur eine Fortsetzung der älteren Begriffe Natur- und Denkmalschutz ist.
Es wäre gefährlich, die Verankerung der Menschen in ihren Ländern, in den Gemeinden oder Tälern geringzuschätzen. Jedes Gemeinwesen muss auf solchen identitätsbildenden Strukturen aufbauen, sie nutzen und fördern. Sein Funktionieren ist total abhängig davon, welche Legitimität, welche innere Zustimmung es bei den eigenen Bürgern hat. Der Unterschied zwischen Amerikanern und Österreichern im Verhalten bei den Katastrophen des Sommers 2005 spricht Bände: Nach dem Hochwasser war Nachbarschaftshilfe hierzulande überall selbstverständlich. In New Orleans waren es hingegen Plünderungen und Aggressionsakte - obwohl es auch dort eine starke (vielleicht zu starke) föderalistische Struktur gibt.
Auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen wie Freiwillige Feuerwehren oder das Rote Kreuz sind Fundamente regionaler Solidarität und Heimatverbundenheit. Es ist auch kein Zufall, dass unter den zahllosen Kleinigkeiten, die in Wahlkämpfen so verstreut werden, der größte Renner der letzten Jahrzehnte das Heimatliederbuch war, das die ÖVP-Spitze herausgegeben hat. Wenn auch zum Hohn mancher städtischer Intellektueller.
Wiederbelebung des Heimatbegriffs
Diese an einem manchen altmodisch klingenden Heimatbegriff angeknüpfte Identitätsbildung sollte als ganz wichtige soziale Kraft auch in Schulen und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Rolle spielen. Regionale Musik, Geschichte, Literatur sind seit dem Zeitpunkt aus den Regionalprogrammen des ORF verschwunden, da dieser sich mit Kommerzformaten in einen Wettbewerb mit den Privatradios begeben hat. Ähnliches hat sich in den Schulen im Musikunterricht abgespielt, wo kaum noch Volkslieder gelehrt werden. Manche Zeitgeister haben Volkslieder sogar unter Faschismus-Verdacht gesetzt, obwohl diese Lieder ja viel älter sind. Und umgekehrt gilt bei vielen Lehrern: Was nicht im Radio stattfindet, kann nicht gut sein, kann den Kids nicht gefallen.
Fraglich ist nur, ob der profit-gesteuerte Einheitsbrei der internationalen Kommerzmusik so viel besser ist als Volksmusik. Und in leicht pervertierter Form ist diese ja via "Musikantenstadl" zurückgekehrt. Hansi Hinterseer & Co zeigen: Regionale Identitätsbildung hat auf allen Ebenen ein großes Potenzial.
Das gleiche gilt auch auf dem Gebiet der Verwaltung. Im Grunde sollte ein Österreicher nie nach Wien fahren müssen, um einen Behördenweg zu erledigen. Er braucht im Zeitalter des Autos Gericht und Finanzamt nicht in jedem Dorf, aber sehr wohl im eigenen Bundesland. Es ist auch gut, wenn die Fussball-Nationalmannschaft hie und da auch in den Ländern spielt. Man könnte sogar fragen, warum es keine Bundesländer-Auswahlmannschaften gibt?
Gesetzgebung durch Länder notwendig?
Eine ganz andere Frage auf der funktionellen Ebene ist aber, ob es auch noch eine eigene Gesetzgebung durch die Bundesländer braucht. Diese scheint durch die Zeitentwicklung völlig überholt. So wie es im 19. Jahrhundert die unterschiedlichen Stadtrechte waren, sind heute eigene Landesbauordnungen, Jugendschutz- oder Jagdgesetze anachronistisch geworden. Wien und viele andere Städte haben nicht an emotionaler Bedeutung für ihre Bürger verloren, seit nicht mehr an jedem Stadttor Zölle kassiert wurden, seit nicht mehr in jeder Stadt andere Längen- und Gewichtsmaße existieren.
Es ist ja sogar auf staatlicher Ebene vielfach fraglich, wie hilfreich in der EU noch nationale Unterschiede sind. Es ist für die Bürger nur ärgerlich - und keineswegs identitätsfördernd - wenn in jedem Land Stromstecker und Verkehrsregeln unterschiedlich sind, wenn es technisch noch immer nicht möglich ist, dass die gleichen Lokomotiven quer durch Europa fahren.
Eine Neudefinition Österreichs könnte und sollte im Interesse der Stabilität des Staates die Bundesländer gewaltig aufwerten - auch wenn sie dabei die überflüssig gewordene Kompetenz verlieren, für jedes Land eigene Gesetze zu erlassen.