Heimat ist ein legitimer Lebensanspruch jedes Menschen und eine Voraussetzung jeder funktionierenden Gesellschaft.
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Mit Heimat ist sorgsam umzugehen, um Wurzeln erhalten zu können, zu pflegen, was Heimat ausmacht, und diese auch weiterzuentwickeln! Heimat ist kein nostalgisch-kitschiger Heimatfilm mit Sennerin und Wilderer, keine Spielwiese für folkloristisches Gehabe. Es wäre billig und fahrlässig, sich auf die Scheinformen der traditionellen Volkskultur zu stützen, die zu touristischen Zwecken das Klischee des jodelnden und dodelnden Österreichs züchten. Es geht nicht um Heimatdümmeleien, und erst recht nicht um Heimattümeleien. Wir schreiben Heimat nicht in Frakturschrift und graben auch nicht in Archiven nach vergangenen Mythen und Symbolen. Jenseits von äußeren Symbolen und trügerischer Wärme müssen wir uns vielmehr der Schwierigkeit bewusst sein, "Worte aus ihren festen und falschen Verbindungen zu lösen" (Hugo von Hofmannsthal). Trotz der subjektiven Bezüge ist Heimat ein politischer Begriff, weil es in seinem Gehalt um das Zusammenleben der Menschen geht. Die Mahnung Simone Weils, die vieles der Totalitarismustheorie von Hannah Arendt vorwegnimmt, ist ernst zu nehmen, wenn sie schreibt: "Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft, weil sie sich selbst vervielfältigt. Einmal wirklich entwurzelte Menschen haben kaum mehr als zwei Möglichkeiten, wie sie sich hinfort betragen sollen: entweder sie verfallen einer seelischen Trägheit, die fast dem Tode gleichkommt, [...] oder sie stürzen sich in eine hemmungslose Aktivität, die immer bestrebt ist, und häufig mit den Methoden äußerster Gewaltanwendung, auch diejenigen zu entwurzeln, die es noch nicht oder erst teilweise sind."
Die Repolitisierung von Heimat zählt daher zu den wichtigen Aufgaben der Politik, die einen Sitz im Leben hat, weil sich Politik daran zu orientieren hat, was dem einzelnen Menschen und den Gemeinschaften ein Zuhause sichern kann. Heimat vermittelt Identität und Geborgenheit. Im tiefsten Sinn des Begriffs geht es um das demokratische, freie und friedliche Zusammenleben der Menschen, das sich an einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamen Werten und gemeinsamen Zielen orientieren muss. Es geht um einen sozialen, übergreifenden Wertzusammenhang, der einerseits durch eine neue Form der Solidarität den destruktiven Tendenzen des sich weit aufsplitternden Egoismus entgegenwirkt, ohne andererseits aber dem notwendigen Pluralismus in einer liberalen Gesellschaft zuwider-zulaufen. Es geht um das klassische Problem des Ethos politischer Gemeinschaften, wie sich die Menschen darauf verständigen, was sie der Gemeinschaft geben können, und nicht, welcher Eigennutz aus der Gemeinschaft erzielbar ist. Es geht um die immer wieder neu zu formulierende Frage, welche Werte unsere Gesellschaft zusammenhalten, wie sich eine politische Gemeinschaft normativ integriert und wie politische Legitimation zustande kommt.
Die Welt hat besonders in den letzten Jahren nachhaltige Veränderungen erfahren. Abgesehen vom Stress der Kartographen, die immer wieder neue Landkarten produzieren müssen, reicht für alle Probleme, die die Welt bewegen – vom Umweltschutz über weltweite Wirtschaftsverflechtungen und Wanderungsbewegungen bis zu den Fragen der regionalen und globalen Friedenssicherung – das nationalstaatliche Denken und Handeln nicht mehr aus. Durch den Zusammenbruch des Kommunismus und die Emanzipation Ost-Mittel-europas sind "im Glanz des Triumphes auch die Grundsätze westlicher Politik zu einem Scherbenhaufen zerschellt" (Ulrich Beck). Nicht nur das internationale Staatengefüge wurde mit dem Jahr 1989 aus der Verankerung gehoben, sondern auch die Demokratien westlichen Zuschnitts sind heftiger als erwartet durcheinandergerüttelt worden. In diesem Sinn ist das Jahr 1989 nicht nur für den Osten, sondern ebenso spürbar für den Westen ein Datum, das eine tiefgehende Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte markiert. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass in fast allen Politikfeldern ein neues Koordinatensystem gefunden, die Weichen neu gestellt werden müssen. Die politische Ordnung in Europa hat sich auch für die Österreicherinnen und Österreicher seit 1989 völlig verändert. Einerseits haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in Maastricht dazu entschlossen, nicht allein einen wirtschaftlichen Binnenmarkt zu kreieren, sondern auch eine gemeinsame politische Europäische Union zu bilden.
Seit dem 1. Jänner 1995 – dem Beitritt zur EU – ist Österreich selbst Teil dieser Entwicklung. Noch nie in der Geschichte hat es eine solche Entwicklung gegeben, dass Staaten, Völker und Menschen freiwillig aufeinander zugehen, um sich eine gemeinsame größere Existenz auf einem Kontinent zu bauen, wo man ohnehin in der Geschichte immer aufeinander angewiesen war. Österreichs eigene Biographie war, wie jene der meisten europäischen Staaten, nur in seltenen Fällen wirklich selbstbestimmt. Durch seine geopolitische Lage und durch seine historischen Verknüpfungen befand sich Österreich immer in vielen Abhängigkeiten. Friedrich Heer hat es einmal durchaus treffend, wenngleich überspitzt formuliert: "Es gibt kein historisch-politisches Gebilde in Europa, das so sehr außengesteuert ist wie Österreich."
Mit dem Beitritt zur Europäischen Union hat Österreich erstmals die große Chance ergriffen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und es hat seinen Platz in Europa selbst ausgewählt, und das in einem Europa, das nicht dominiert ist durch Machtblöcke oder Dynastien, sondern durch die Ordnung des Rechts und die Freiheit.
Andererseits sind aber in der näheren geographischen Umgebung Österreichs mehr als zwanzig neue Staaten entstanden. Viele davon sind in ihrer inneren Sicherheit von neuen Despoten und alten fanatischen Ideen beherrscht. Einer der vielen Gründe für die allgemein vorherrschende Ratlosigkeit, ja manchmal Hysterie mag tatsächlich darin liegen, dass bis vor kurzem die Zugehörigkeit zum Osten oder zum Westen eine Klammer politischer Integration und gesellschaftlicher Identität bilden konnte. Nun taucht die Frage auf, was denn die große Identifikationslinie des Eisernen Vorhangs ersetzen und wie ein neues kosmopolitisches Wir-Gefühl entstehen könnte. Können wir solche Identifikationen schaffen, ohne gleich neue Feindbilder aufzubauen? Darin liegt die Gefahr von Samuel Huntingtons "clash of civilisation", dass damit das Substrat neuer Schwarz-Weiß-Bilder geliefert wird.
Europa ohne Trennlinien
Die Zeit ist vorbei, da West in Europa mehr war als eine geographische Kategorie und Ost als ein Synonym für alles Nicht-Westliche und Kommunistische herhalten musste. Die Geographie hat ihre Dimensionen zurückerobert, und sie hat dort ein Vakuum ausgelöst, wo die Politik es sich jahrzehntelang gemütlich gemacht hat. Die Bipolarität war so dominant gewesen, dass nicht nur die Schwächen der westlichen Demokratie, sondern auch die Unterschiedlichkeiten der nationalen Charaktere und Interessen verborgen blieben. Im Bewusstsein der Menschen und der Politiker muss sich nun endlich festsetzen, dass der Westen nicht mehr existiert; auch der sogenannte Ostblock gehört vergangenen Realitäten an. Manchem fällt es offensichtlich schwer, sich davon zu verabschieden.
Ein Hauptproblem des Verhältnisses der Europäischen Union zum postkommunistischen Europa bestand und besteht in der Frage nach dem europäischen Selbstverständnis. Die Europäische Union "kann nicht allein durch einfache Ausdehnung ihrer eigenen Verträge und Vereinbarungen der postkommunistischen Welt gerecht werden", schreibt Ralf Dahrendorf. Beides – das Zerbrechen der alten Grundsätze wie die Neuformulierung des europäischen Selbstverständnisses – findet noch hinter den Fassaden von Kontinuität und Stabilität statt. Europa kann in Zukunft aber nur mehr gemeinsam weiterentwickelt werden. Europa ist gemeinsame Sache aller Europäer geworden. Neue Räume werden erschlossen. Gewohntes wird zurückgelassen, Grenzen werden überwunden, aber auch neue errichtet. Österreich ist von allen diesen Entwicklungen sehr stark betroffen, um nicht zu sagen: mittendrin.
"Österreich war ein europäisches Gebilde par excellence, das nicht nur die Hoffnungen und Tragödien dieses Kontinents mittrug und mitgestaltete, sondern auch auf seltsame Art und Weise Modell für ein Europa war, das sich nicht finden konnte", schreibt der in Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann. Und mit Blick auf das wenig geglückte Millennium im Jahr 1996 fügt er hinzu: "Wenn überhaupt, dann gälte es also, das tausendjährige Österreich aus einer europäischen Perspektive zu betrachten."
Im fünfzigsten Jahr des Bestehens der Zweiten Republik wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Unbeschadet der von der Bevölkerung durch einen beeindruckenden Volksentscheid gewollten und von allen wesentlichen politischen Kräften des Landes getragenen Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union (die den ökonomischen und politischen Zustand der Beinahe-Grenzenlosigkeit verspricht) ist Österreich bestrebt, einen ebenso grenzenlosen Zugang zu seinen östlichen Nachbarn zu finden.
Die Beschreibung unserer Heimat kann nur erfolgreich sein, wenn sie die multikulturellen Wurzeln unserer Herkunft berücksichtigt. Österreich hat, bedingt durch seine Geschichte, das "Anderssein-als-die-anderen" in seine eigene Identität inkorporiert. Es ist eine Nation nicht durch Abgrenzung und Ausschluss geworden, sondern in ständiger Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Völkern. Allzu gerne werden diese Zusammenhänge vergessen. Dann gleitet die eigene Identität in Skurrilität und Eigenbrötelei ab. Gerade in der Europäischen Union wird sich die österreichische Identität nur bestätigen und festigen, wenn sie in Beziehung zum Andersartigen tritt und sich in offener Kommunikation behauptet und bewährt. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als vergessene Beziehungen herzustellen, abgebrochene Gemeinsamkeiten zu suchen, den bunten Charakter der österreichischen Seele freizulegen und sich entwickeln zu lassen.
Österreich hat auf Grund seiner eigenen Biographie Erfahrungswerte gesammelt, die in Europa in solcher Art bis jetzt nicht vorkommen. Noch einmal Konrad Paul Liessmann: "Das Neue Europa, das in vielem mit Fragen konfrontiert sein wird, die in der Vergangenheit in dieser Dimension nur das alte Österreich beschäftigt hatten, wäre gut beraten, sich dessen Behandlung solcher Probleme zu vergegenwärtigen." Vielleicht könnte von diesem Punkt aus eine Erinnerung mobilisiert werden, die auch Ost-Mitteleuropa jene europäischen Perspektiven zurückgibt, die es einst geprägt haben.
Grenzenlos heißt nicht, dass alle Grenzen abgeschafft werden, denn ohne Grenzen gibt es keine Kulturen. Die Grenzen nach außen, wiewohl aber auch eine Grenze nach innen, müssen überprüft werden, inwiefern sie den Anforderungen des beginnenden 21. Jahr-hunderts standhalten.
Ein grenzenloses Österreich als Mitglied einer grenzenlosen Europäischen Union ist in gewisser Hinsicht auch ein Traum. Ein Traum, der von einer Zeit kündet, die davon lebt, dass nationale Grenzen und Vorurteile im menschlichen Zusammenleben keine Rolle mehr spielen. Ein Traum davon, dass Österreichs einmalige Erfahrungen mit Grenzen in diesem besonderen Teil Europas reaktiviert werden und zur Findung Europas beitragen. Österreich muss tausend Jahre, nachdem sein Name zum ersten Mal urkundenmäßig erwähnt wurde, sein Verhältnis zu Europa neu definieren. Als "Geisteskontinent", wie Friedrich Heer Österreich einmal bezeichnet hat, hat Österreich gute Chancen, denn "Europa wird ein Produkt eures Geistes sein, des Wollens eures Geistes und nicht ein Produkt eures Seins, denn es gibt kein europäisches Sein." Zu diesem deutlichen, aber harten Schluss kam Jullen Benda im Paris der Vorkriegszeit.
Die Welt ist ebenso unsere Heimat
Auf die Ebene der Weltgesellschaft übertragen, die heute schon Wirklichkeit ist und sich in Zukunft noch stärker und dichter entwickeln wird, heißt das, dass der Nationalstaat, wie er sich im Laufe der Neuzeit bis heute herausgebildet hat, immer mehr in Frage gestellt wird. Ob die gewohnte Kombination zwischen Heimat und einem damit gemeinten Nationalstaat auseinanderdriftet oder nicht, wird die Zukunft zeigen. Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, wird jedenfalls eine neue Qualität annehmen müssen, oder er wird in seiner Bedeutung ausgehöhlt werden. Das Gewaltmonopol des Nationalstaats nach innen und außen wird immer mehr in Zweifel gezogen.
Unsere Welt ist längst eine Kommunikationsgemeinschaft geworden, und damit wird sie zunehmend auch zu einer moralischen Schicksalsgemeinschaft. Wenn am Fernsehschirm Bilder von Bosnien, Algerien oder Ruanda gesendet werden, dann wird in dieser Ohnmacht nicht selten nach einer übergeordneten Instanz, nach einer rechtlichen Gewalt gerufen, die diesem fürchterlichen Treiben ein Ende setzt. Das moralische Bewusstsein eines mitdenkenden Zeitgenossen lässt sich nicht mehr damit beruhigen, dass man sich nicht – gemäß dem Völkerrecht – in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einmischen dürfe, sondern es ist ihm unerträglich, dass dem Unrecht und der Barbarei nicht Einhalt geboten wird.
Ebenso wird man auf internationaler Ebene in den nächsten Jahren immer eingehender die Frage diskutieren, ob nicht die Menschenrechte eindeutigen Vorrang vor dem Völkerrecht haben sollten und ob zur Durchsetzung der Menschenrechte nicht ein Gewaltmonopol auf Weltebene geschaffen werden sollte, das dem verletzten Menschenrecht mit effektiver Macht zum Durchbruch verhilft, auch unter Missachtung der Souveränität von Staaten. Johann Baptist Metz hat Aufsehen erregt, als er die Frage ausgerufen hat: "Gibt es indes nicht zweierlei Menschenrechte in der Weltpolitik?" Die Entwicklung hin zu solchen regionalen und kontinentalen Gewaltmonopolen, die mit einem Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten verbunden ist, ist sichtbar im Gange – und diese Entwicklung ist wohl auch der einzige Weg, um größere und übergreifende Sicherheitszonen zu schaffen, die sich auch als Werte-Gemeinschaft und Rechts-Gemeinschaften verstehen. Mit der Frage der Mitsprache und Mitgestaltung ist ganz wesentlich auch die Frage der heimatlichen Geborgenheit, der geistigen Orientierung und der moralischen Bindung an eine bestimmte Lebenswelt verbunden. Diese heimatliche Geborgenheit ist eben nicht nur ein subjektives Bedürfnis des einzelnen Menschen oder gar eine atavistische Sentimentalität. Sie ist eine notwendige Bestands¬garantie für die Gesellschaft, denn ohne diese geistige Zuord¬nung, emotionale Hinwendung und moralische Bindung ihrer Mitglieder kann auch eine Gesellschaft nicht bestehen.
Wo man ohnehin nichts mitzureden hat oder glaubt, nichts mitreden zu können, dort verliert man das Interesse und einhergehend damit die Übersicht und die Orientierung, bald auch den letzten Rest von Engagement, moralischer Bindung und sozialem Verantwortungsgefühl, insgesamt also den entscheidenden Orientierungspunkt gesellschaftlichen Denkens und Handelns, jenen räumlichen und menschlichen Bezugsrahmen, der eigentlich das ist, was man Heimat nennt, was uns das Gefühl der Geborgenheit und der Identität gibt.
Das Wort Heimat mag ein altmodisches Wort und auch ein missverständliches Wort sein, weil es oftmals missbraucht und zur Legitimierung großer Schandtaten verwendet worden ist. Was damit aber gemeint ist – so, wie ich es verstehe –, ist ein legitimer Lebensanspruch jedes Menschen und eine Voraussetzung jeder funktionierenden Gesellschaft. Wie eng oder wie weit jeder für sich diesen Kreis zieht, in wie vielen konzentrischen Kreisen sich jemand beheimatet fühlt, das steht auf einem anderen Blatt. Glücklich ist der Mensch, der zahlreiche solcher Heimaten kennt, der in vielen solcher Bezugsrahmen lebt und zu Hause ist. Unglücklich ist jener Mensch, dem alles fremd geworden ist, der sich nirgendwo zu Hause fühlt, sondern überall im Exil. Bei allen Veränderungen des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens sollte danach getrachtet werden, einen lebendigen, erlebbaren und nachvollziehbaren Bezugsrahmen aufzubauen, in dem Zugehörigkeit, selbstverständliche Einbindung und Geborgen¬heit möglich sind.
Vilém Flusser schreibt dazu: "Wir sind wohnende Tiere (sei es in Nestern, Höhlen, Zelten, Häusern, übereinandergeschichteten Würfeln, Wohnwagen oder unter Brücken). Dennoch ohne einen gewöhnlichen Ort könnten wir nichts erfahren." Die Anzeichen für ein neues Unbehaustsein sind bei Flusser deutlich erkennbar, weil "unsere Häuser der Aufgabe nicht gerecht werden, Geräusch zu Erfahrungen zu prozessieren." Das Haus ist für ihn im topologischen Denken das soziale Gehäuse, in dem die zwischenmenschliche Kommunikation stattfindet, gleichsam als ein schöpferisches Gebilde. Wahrscheinlich haben wir die Häuser umzubauen. [...] Das heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür gibt es nur noch in Märchenbüchern." Bei Vilém Flusser hat diese Diagnose nichts mit Nostalgie zu tun. "Die Dialektik der Verwurzelung ist dem Emigranten bewusst. Nach Verlassen der Heimat ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte." Aus der Ferne erkennt man aber nicht etwa nur, "dass jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und dass in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, dass erst nach der Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteil, Entscheiden und Handeln zugänglich werden." Die Sehnsucht nach Behausung einerseits und die Emanzipation von vorgegebenen Strukturen andererseits sind keine Gegensätze. Vielmehr kommt im Leben der Zeitpunkt, zu dem bisher Gewohntes neu er-kämpft werden muss, weil man es sonst nicht wiedererkennen würde. Dach, Mauer, Fenster und Tür sind in der Gegenwart nicht mehr operationell, weil materielle und immaterielle Kabel unser Haus wie einen Emmentaler durchlöchert haben", und das erklärt, warum ein Gefühl einsetzt, sich unbehaust zu fühlen. Trotz notwendiger Überwindung aller Verstrickungen müssen wir – da wir nicht mehr gut zu den Zelten und den Höhlen zurückkehren können – "wohl oder übel neuartige Häuser entwerfen", Häuser von uns, in denen wir leben und zu Hause sein können.
Heimat und Demokratie
So wie jeder Mensch grundsätzliches Recht auf Leben und Freiheit hat, so hat jeder Mensch auch ein Anrecht darauf, in einer Gemeinschaft zu leben, der er sich zugehörig fühlt – in einer Gemeinschaft, die ihn nicht befremdet und entfremdet, sondern die ihn beheimatet und ihm Werte, Geborgenheit, Sicherheit und Selbstgewissheit vermittelt. Mein Verständnis von Politik ist es, den Menschen Ängste zu nehmen. Angst hat von ihrem Wesen her mit Un-sicherheit und Unüberschaubarkeit einer Gefahr zu tun. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Es ist daher ein gesicherter und überschaubarer Ort in der Politik zu schaffen, der dieses Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit erfüllt.
Die Demokratie – hat Aristoteles einmal gesagt – reicht so weit wie die Stimme ihres Herolds. Die Heimat ist daher der Ort der demokratischen Politik der Bürgernähe, der Politik mit Sitz im Leben. Die Politik der Heimat wird gleichermaßen zur Politik auf dem Marktplatz des Dorfes und der Stadt. Und der demokratische Politiker muss sich, um die Verdrossenheit an ihm zu überwinden, an den Orten des Zusammenlebens der Menschen wieder sehen lassen, um den Willen der Menschen zu verstehen. Gefragt ist eine Politik, die ihren Sitz im Leben hat. Heimat bedeutet, dass die "Vernunft am besten dort aufgehoben ist, wo die Menschen zusammenkommen, um miteinander zu reden. Die europäische Gesellschaft kann nicht überleben, wenn nicht die Menschen in den konkreten Gemeinschaften und den gesellschaftlichen Institutionen ihre Aufmerksamkeit sowie ihre Kraft und ihre Mittel gemeinsamen Vorhaben widmen".
Der Politik fällt dabei die Aufgabe zu, diese Orte der Begegnung, des Gesprächs, der Kommunikation zu ermöglichen. Kultur besteht aus Traditionen, alten und neuen Denkmälern, Trachten, Liedern, Erzählungen und Geschichten, aus dem, was die Menschen essen und trinken. Die österreichische Kulturlandschaft, das Klöster- und Schlösserreich, die Bauten aus Vergangenheit und Moderne, sie alle sind die sichtbaren Zeugen einer Identität. Zukunft kann Österreich also nur haben, wenn dafür Sorge getragen wird, dass diese Vielfalt, dieser Reichtum, diese kulturelle Stärke der Heimat auch erhalten und gesichert werden. Das ist ein politisches Programm, das ist eine politische Verpflichtung, das ist ein politischer Auftrag, wohl eine entscheidende Frage der Zukunft.
Die Politik muss also darauf ausgerichtet sein, dass die Österreicher stolz sein können auf ihr Land, dass es Ansehen und Hochschätzung bei seinen europäischen Nachbarn und in der ganzen Welt genießt. Heimat darf nicht als Enge verstanden werden, sondern als Tiefe und Gerade. Wenn vor allem Österreicher in ihre Geschichte blicken, erkennen sie die große Begabung, Fremde zunächst nicht zu fürchten, sondern aufzunehmen und hier zu be-heimaten. "Wir sind wer" – und mit diesem stolzen Selbstbewusstsein können Österreicher überall ihren Reisepass herzeigen. Ob wir wer und dass wir wer sind, das hängt allein davon ab, ob man sich dazu gemeinschaftlich bekennt.
Das Bekenntnis zur Heimat erfordert neben dem partikularen Bekenntnis zu den Ländern und Regionen gleichzeitig aber auch ein universales Bekenntnis zu Europa. Österreich als Staat ist selbst ein Beispiel dafür, wie sich die Vielfalt in der staatlichen Einheit trifft und zum neuen Ganzen wird. Österreich wiederum ist einer der tragenden und verbindenden Teile des größeren Europas. Seine Identität geht dabei nicht an Europa verloren, im Gegenteil: Europa selbst gewinnt seine Identität – auch durch Österreich. Ein Europa ohne Österreich und ein Österreich ohne Europa sind schwer denkbare Stellungen, die weder für Österreich noch für Europa Sinn geben.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus einer Rede, die Erhard Busek am Freitag zur Eröffnung der Sommergespräche "Lebenswerte (der) Heimat – Zuhause im globalen Dorf Europa" (28. bis 31. 8.) der Waldviertel-Akademie hält.
Link: www.waldviertelakademie.at
Dieser Tage hat Erhard Busek seine Memoiren "Lebensbilder" veröffentlicht (Kremayr & Scheriau, 288 Seiten, 24 Euro). Er blickt darin auf seine politische Laufbahn, sein Verhältnis zu anderen Politikern zurück und lässt auch Überlegungen zu Europa oder Bildungspolitik nicht zu kurz kommen.