Zum Hauptinhalt springen

Heimat und Flucht

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Die Rede bei der Gedenkfeier des Mauthausen Komitees in Steyr.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wenn wir von Heimat sprechen, dann assoziieren wir damit ganz instinktiv: Schutz, Zugehörigkeit, das Eigene, das Vertraute. Entscheidend für Heimat ist, dass wir all das instinktiv mit ihr verbinden. Heimat - das ist genau dieses instinktive Verbinden, diese selbstverständliche Zugehörigkeit. Deshalb erlebt man Heimat als ewig. Ein trügerisches Erleben. Denn der Einbruch, der Zusammenbruch dieser Welt ist möglich.

Bei den Gedenkveranstaltungen zu 1938 hört man immer von Szenen, wo Leute herausgepickt wurden - ausgesondert aus ihrem Leben, aus ihrer Normalität, aus ihrer Selbstverständlichkeit. Diese Menschen haben nichts getan. Sie haben sich nicht verändert - aber die Welt um sie herum, die Heimat, ihre Heimat, die hat sich verändert. Sie aber waren immer noch die, die sie waren - deshalb musste man sie auch markieren, um sie auszusondern. Das Vertreiben aus der Heimat beginnt vor der Flucht.

Heute gibt es neue Heimatverluste: Kriege, Unlebbarkeit von reiner Anwesenheit. Immer aber beginnt die Flucht vor dem eigentlichen Aufbruch. Die Flucht beginnt mit dem Ende der Selbstverständlichkeit, mit dem Ende der selbstverständlichen Anwesenheit. So ist der Flüchtling ein Heimatloser - noch bevor er sich auf den Weg macht.

Flucht - das ist eine geografische, physische aber auch psychische Bewegung. Flucht - das ist ein politischer, sozialer, aber auch existenzieller und emotionaler Zustand. Flüchtende bewegen sich in Ländern, in der Landschaft, in der Natur - das ist die geografische, die physische Bewegung. Aber sie bewegen sich ohne eigenen Platz, in einer völligen Unbehaustheit. Das ist der emotionale Zustand. Bewegt man sich in der Welt ohne eigenen Platz, dann bewegt man sich streng genommen nicht in der Welt - dann bewegt man sich nur auf der Welt: Das ist der politische, soziale und existenzielle Zustand der Flucht. Flucht heißt nicht nur Heimatverlust. Flucht heißt auch Weltverlust. Ein völliges Freigesetzt-Sein. Flüchtlinge haben natürlich Menschenrechte. Die gelten ja für alle. Universell. Die sind nicht an eine Heimat gebunden. Die tragen Flüchtlinge sozusagen mit. Am eigenen Körper. Und dennoch. Auch die Menschenrechte bieten nicht wirklich den Schutz, den sie versprechen. Denn deren universelle Gültigkeit muss ja irgendwo vollzogen werden. Die universellen Menschenrechte werden an konkreten Orten ausgeführt. Und da erweisen sie sich als durchaus löchriger Schutz.

Heute haben wir eine paradoxe Situation: Diejenigen, die ihre Heimat verlassen müssen, scheinen die Heimat derjenigen, zu denen sie flüchten, zu bedrohen. Die äußerst heikle Gemengelage eines doppelten Verlustes: Die Leute hier haben Entheimatungsängste - Angst vor dem Verlust ihrer gewohnten Welt. Die Flüchtlinge aber werden zwei Mal heimatlos: Zum Verlust ihrer alten Heimat kommt die Verweigerung einer neuen Heimat hinzu. Diese wird ihnen durch den hiesigen Heimat-Begriff, die eine Heimat der Ähnlichen ist, verwehrt. Aus diesem sind sie ausgeschlossen. Von Natur aus. In einer pluralisierten Gesellschaft aber kann Heimat nur ein Zusammen der Verschiedenen sein. Bestenfalls.