Der Publizist Heinz Nußbaumer und der Schauspieler und Regisseur Helmut Lohner denken darüber nach, was der vielgebrauchte Begriff "Spiritualität" heute bedeuten könnte. | Wiener Zeitung:Herr Nußbaumer, Ihr Buch "Der Mönch in mir - Erfahrungen eines Athos-Pilgers für unser Leben" erlebt nun bereits die fünfte Auflage. Haben Sie diesen Erfolg erwartet? | Heinz Nußbaumer: Nein, das kommt für mich völlig überraschend. Das hätte ich mir nie gedacht!
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Offenbar sind die Themen Religion und Spiritualität populärer, als man denkt?
Nußbaumer: Kürzlich hat mich ein Wiener Kinderchirurg angerufen und gesagt: "Ich bin nicht religiös, aber ich habe schon zwölf Exemplare Ihres Buchs gekauft und an lauter nicht-religiöse Menschen verschenkt." Als ich fragte, weshalb, meinte er: "Sie erwecken eine Sehnsucht in mir, aber Sie vereinnahmen mich nicht." Ich glaube, dahinter versteckt sich eine Botschaft: Wenn man in den theologischen Lexika nachliest, die vor 20, 30 Jahren gedruckt wurden, stellt man fest, dass es das Wort Spiritualität damals noch gar nicht gab. Ich habe den Eindruck, dass dieser Begriff eine "Softversion" von Frömmigkeit bezeichnet, unter dem alle möglichen esoterischen Strömungen subsumiert werden. Es ist ja ein interessantes Phänomen: Einerseits spricht die Soziologie von "Verdunstung der Religiosität", von "Entkirchlichung" und "Entchristlichung". Andererseits nutzen mehr Leute denn je Angebote wie "Kloster auf Zeit" oder sind auf Pilgerwegen unterwegs. Deshalb interessiert mich die Frage: Was ist Spiritualität heute?
Helmut Lohner: Ich habe es da ein bisschen leichter, weil ich mich in die wirklichen Wunder der Schöpfung flüchten kann: Mozart, Beethoven und Shakespeare sind für mich wirkliche Gottesgaben, ja, sie stellen für mich fast Glaubensbeweise dar, also das, was man im modernen Sprachgebrauch Spiritualität nennt.
Nußbaumer: Und nicht auch die Natur?
Lohner: Selbstverständlich! Nur sind das zwei völlig voneinander verschiedene Gebiete.
Nußbaumer: Jede Blume, jede Blüte weist über sich selbst hinaus. Sie ist viel zu üppig angelegt, um nur Selbstzweck zu sein.
Lohner: Natürlich! Aber was die Religionen betrifft, muss ich sagen, dass ich immer versuche, einen gewissen Humor ins Spiel zu bringen. Wissen ohne Humor ist für mich selbst in der Religion oder in der tiefsten Philosophie kaum erstrebenswert. Ich kann mir keinen Gott vorstellen, der nie gelacht hat. Ich kann mir keinen Jesus vorstellen, der auf seinen Wanderungen nie geschmunzelt hätte.
Nußbaumer: Das wird in Umberto Ecos "Der Name der Rose" ja sehr gut thematisiert.
Lohner: Genau. Dennoch wird alles Spirituelle meist in unglaublicher Ernsthaftigkeit betrieben.
Auch in Ihrem Buch ist ja von der "Heiterkeit des Herzens" die Rede.
Nußbaumer: Denn sie war für das frühe Mönchtum ein untrügliches Erkennungszeichen wahrer Gottesnähe. Ein Mensch, der fröhlich ist und lachen kann - auch über sich selbst -, hat sich bereits über seine eigene Persönlichkeit erhoben. Es heißt ja: Der erlöste Christ steht nicht in der Dunkelheit, sondern im Licht. Deshalb fühle ich mich als Katholik in vielem der Orthodoxie so nahe. Weil in der Ostkirche der Auferstandene im Mittelpunkt steht und nicht die Leidensmystik. Die kommt erst mit Franz von Assisi. Das ist etwas, das uns jahrhundertlang sehr niedergedrückt hat. Ich meine, wir haben den Ostersonntag in den Mittelpunkt des Glaubens zu stellen und nicht den Karfreitag.
Lohner: Damit habe ich meine Schwierigkeiten, weil ich Weihnachten in den Mittelpunkt stelle.
Nußbaumer: Na wunderbar!
Lohner: Trotzdem muss ich Ihnen sagen, dass ich jedes Jahr zu dem meiner Meinung nach größten Kunstwerk pilgere, das je geschaffen wurde: Zum Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar mit seiner riesigen Kreuzigungstafel. Obwohl ich, was die Malerei betrifft, ein Mensch des Impressionismus bin, berühren mich diese Bildnisse zutiefst.
Noch einmal zurück zur Orthodoxie bzw. zum Thema Vereinbarkeit von Freude und Religion. Wie äußert sich das konkret?
Lohner: Ich finde gewisse Riten der Ostkirche wesentlich schöner als diejenigen unserer katholischen Tradition. Alleine wenn ich an eine orthodoxe Taufe denke. Ich rede jetzt als Schauspieler und vielleicht auch als Regisseur: Das Ritual, die Zeremonie ist eine ungeheure Darstellung. Irgendwie berührt es mich mehr. Aber vielleicht bin ich ein Mensch, der mehr in Bildern denkt.
Nußbaumer: Ich frage mich manchmal: Bin ich katholisch, bin ich auch orthodox, bin ich auch evangelisch? Dann denke ich mir, wahrscheinlich bin ich alles. Im Laufe der Jahre habe ich überall etwas entdeckt, was ein Stück meiner Identität ist. Wobei man schon sagen muss, dass die orthodoxe Kirche in ihrer alten, wunderbaren Tradition mit den Glaubensformen und äußeren Ritualen intensiver und reichhaltiger umgeht als wir Katholiken.
Lohner: Das ist ein absoluter Bestandteil der Orthodoxie.
Nußbaumer: Der Rückzug in die Urhöhle einer orthodoxen Kirche, das Spiel von Licht und Schatten, von Gebeten, Weihrauchgerüchen und herrlichen Mönchsgesängen, das lässt die Seele nicht unberührt. Das ist nicht zuletzt auch großes klassisches Theater . . .
Lohner: Das meine ich ja.
Nußbaumer: . . . und zwar Theater, das darauf abzielt, Menschen zu bewegen, zu berühren und zu erschüttern.
Lohner: Das war ja ursprünglich der Grund für die Entstehung des Theaters.
Nußbaumer: Kult und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden.
Lohner: Eines der größten Heiligtümer des Altertums war Epidauros, die Kultstätte für den Heilgott Asklepios. Ich will mich jetzt bei Gott nicht versündigen, aber die Geschichte des Asklepios ähnelt sehr der Geschichte des Jesus Christus. Asklepios war der Sohn eines Gottes, er heilte Kranke, er hat Tote wiedererweckt und er musste wieder verschwinden. Er hatte Jünger, die seine Lehre weiter verbreitet haben, was in weiterer Folge zu unserer Ärzteschaft geführt hat. Dort war das Wissen der Heilkunde versammelt. Unser griechisches Erbe . . .
Nußbaumer: Ich erinnere mich gut, wie Papst Johannes Paul II. in der Hofburg war und den Satz sagte: Europa muss wieder aus zwei Lungen leben - Westkirche und Ostkirche. Ich finde das ganz entscheidend. Wir können von einander so unglaublich viel lernen. Wir haben in unserer Verkopfung so viel vergessen, was in der Ostkirche noch da ist. Der Kopf muss sich zum Herzen neigen. Wir "Westler" betreiben ununterbrochen irgendwelche hochintellektuellen Theologien. Die spielen in der Orthodoxie eine wesentlich geringere Rolle. Ich sage nicht, dass das eine richtig ist und das andere nicht - beides sind gültige Glaubensformen.
Lohner: Ich finde, der Glaube ist etwas Einfaches. Wenn man das Ganze ständig umrankt mit Theorien und Auslegungen, wird es immer komplizierter. Das gilt für alle Religionen. Auf meinen Reisen interessiere ich mich immer für die Frage: Woran glauben die Menschen? Dabei stelle ich oft fest, dass viele Religionen überhaupt nicht zueinander finden können, weil es eine Toleranzunfähigkeit gibt.
Nußbaumer: Deshalb bin ich als Katholik so glücklich, dass ich in der heutigen Zeit lebe. In der vorkonziliaren Ära hätte ich nicht hätte leben können. Die beiden Dinge, die für mich wichtig sind, nämlich Wahrheit und Freiheit, sind überhaupt erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil versöhnbar. Also seitdem das Prinzip der Religionsfreiheit unbestritten akzeptiert wird - mehr noch: seitdem es zur Würde jedes einzelnen Menschen gehört, sich seine eigene Freiheit auszusuchen. Somit kann jeder frei behaupten: Das ist die von mir erkannte Wahrheit. Was allerdings die Freiheit des anderen, zu ganz anderen Schlüssen zu kommen, nicht beeinträchtigt. Das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit muss austariert sein, sonst gibt es nur Katastrophen.
Lohner: Genau. Was mich an den Religionen oft stört, ist ihre grauenvolle Rechthaberei.
Nußbaumer: Wenn wir beide uns miteinander vergleichen, würde ich sagen, dass Sie interkultureller geprägt sind als ich. Ich bin wahrscheinlich von meiner Herkunft her ein bisschen katholischer, christlicher geprägt. Trotzdem sind Sie schon auf Wallfahrten und Pilgerwegen unterwegs gewesen, da bin ich noch aus ganz anderen Gründen auf den Berg Athos gefahren - nur um der ständigen Erreichbarkeit zu entfliehen. Worin liegt für Sie die Motivation zum Pilgern?
Lohner: Ich habe bis vor 16 Jahren sehr viel gearbeitet. Ich war 23 Sommer lang in Salzburg tätig und hatte schon eine regelrechte Liste im Kopf, wo ich überall hinwollte, wenn ich einmal mit den Festspielen aufhöre. Das erste war der Jakobsweg von St. Jean-Pied-de-Port über die Pyrenäen nach Santiago de Compostela. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich keinerlei religiöse Motive hatte. Ich wollte einfach den Weg machen: 750 Kilometer in 30 Tagen. Der Grund war vielmehr ein anderer: Man ist sehr mit sich allein. Und man kommt gerade dabei auf die Nachtseiten seines Verhaltens. Ich würde sagen, dass man sich dabei fast besser kennen lernt, als einem lieb ist.
Nußbaumer: Ein Abstieg in die eignen Schattenzonen?
Lohner: Ja, das fand ich für mich sehr wichtig. Ich muss auch sagen, dass es mein Leben teilweise verändert hat.
Nußbaumer: Ich bin einmal fünf Tage von Wien nach Mariazell gegangen und habe Ähnliches erlebt wie Sie. Auch, dass einem mit jedem Tag die Umwelt, die Natur immer schöner erscheint. Dass man Dinge entdeckt, die man am ersten Tag nicht entdeckt hätte. Trotzdem war es zunächst nicht mehr als eine Fünf-Tageswanderung mit spirituellen Inhalten. Das Interessante war nur: Als ich Jahre später eine Krebsoperation hatte, es mir wirklich sehr schlecht gegangen ist und ich in der Intensivstation einfach nur über diese ärgste Zeit hinwegkommen wollte, da bin ich den ganzen Weg nach Mariazell in Gedanken nachgegangen. Ich habe mich einfach von der Realität abgemeldet und mich auf eine für mich unglaubliche Weise an jede Wiese erinnert.
Lohner: Das kann ich absolut verstehen. Ich war in Machu Picchu in Peru und habe den Inka-Trail gemacht. Eines Morgens habe ich um vier Uhr früh einen derart überwältigenden Sonnenaufgang erlebt, dass ich plötzlich verstanden habe, was die Inkas empfunden haben und was für einen Glauben sie hatten. Ich konnte mich nicht von diesem Bild trennen.
Nußbaumer: Ich habe so etwas Ähnliches einmal in der Dämmerung am See Genezareth erlebt - da kann kein heiliger Text mithalten.
Am Ende Ihres Buches beschreiben Sie eine Szene, als Sie gemeinsam mit einem Mönch eine Nacht in einer Einsiedelei verbrachten. War das auch eines jener Erlebnisse, die nachhaltig in Erinnerung bleiben?
Nußbaumer: Ja. Dieser Mönch hat die ganze Nacht sein Herzensgebet gebetet. Erst in der Morgendämmerung sind wir ins Freie gegangen, wobei der Mönch derartig von dem Geschehen der Nacht erfüllt war, dass er den ganzen Steilhang hinunter Purzelbäume geschlagen hat. Das war für mich ein wunderbarer Augenblick der Freude und Erlöstheit! So stelle ich mir einen tief gläubigen Menschen vor, der imstande ist, Freude zu empfinden - über das Geschenk der Schöpfung, über das Geschenk des gemeinsam erlebten Augenblicks. Das Dasein eines Eremiten, der nur auf sich selbst konzentriert ist, halte ich für fragwürdig. Für mich muss immer ein Du mitspielen. Wir dürfen uns nicht abschotten und sagen: Es geht nur um das Heil meiner Seele.
Lohner: Ähnlich wie bei den heiligen Männern am Ganges . . .
Nußbaumer: Das mag ich auch an der modernen Wellnesskultur nicht, dass sie eigentlich nur auf die Frage konzentriert ist: Wie geht es mir besser? Es gibt das wunderbare Wort: "Ich bin durch dich so ich". Dieses Du kann ein Schöpfergott sein - oder ein menschliches Du, das ich konkret vor mir habe. Aber nur die Selbstverwirklichung im Ich, das wäre mir zu wenig.
Lohner: Wenn man etwas Besonderes sieht oder erlebt, das einem sehr nahe geht, hätte man schon gerne ein Paar Augen neben sich.
Nußbaumer: Ja, das stimmt! Damit man das Erlebnis teilen kann. Wirklich erzählen kann man es ohnedies niemandem.
Lohner: Es gibt eben Dinge, die man nicht beschreiben kann. Ich finde, Religion ist eine Gefühlssache. Mit dem Hirn kann man sie nicht erfassen. Deshalb hat für mich Religion auch nichts mit Wissenschaft zu tun, allenfalls vielleicht ihre unterschiedlichen Auslegungen. Aber Religion ist unerklärbar, glaube ich. Noch einmal: Der Jammer ist, dass jede einzelne Religion von sich behauptet, dass sie Recht hat.
Nußbaumer: Das ist übrigens mein Vorwurf an die Religionsführer nach dem 11. September 2001. Damals haben alle gesagt: Wir müssen aus der Katastrophe etwas lernen. Immer aber war damit gemeint: Der andere muss lernen. Damals hätten sich die Religionsführer an der Hand nehmen und vor laufenden Kameras die Botschaft verbreiten müssen, dass Religion nie wieder zum Vorwand für Gewalt werden darf. Dass sich die Schändung der Menschlichkeit nicht auf Gott berufen darf. Das hätte man an jedem Ort dieser Welt hören müssen. Noch etwas: Ich führe bisweilen Religions-Dialoge - meist mit Menschen, mit denen ich gar keinen Dialog führen müsste. Solange es uns nicht gelingt, wenigstens einen Dialog mit unserem eigenen radikalisierten Klientel zu führen, und solange wir nicht zum Dialog derer finden, die einander zutiefst misstrauen, ist alles letzlich lart pour lart.
Lohner: Deshalb bin ich auch ein absoluter Gegner des Satzes von Wittgenstein: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen". Ich halte es da eher mit Sokrates, der gesagt hat: "Wir haben die Wahrheit gesucht. Wir haben sie nicht gefunden. Morgen reden wir weiter."
Biographisches
Helmut Lohner, 1933 in Wien geboren, ist seit 1952 als Schauspieler tätig. Er begann als Ensemblemitglied des Wiener Theaters in der Josefstadt und ging 1963 nach Deutschland: Berlin, München, Hamburg und Düsseldorf waren die Stationen seiner künstlerischen Laufbahn. Lohner trat auch im Zürcher Schauspielhaus und seit 1978 im Burgtheater auf, 23 Sommer lang wirkte er bei den Salzburger Festspielen mit, von 1991 bis 1993 als Darsteller des "Jedermann". Von 1997 bis 2003 war er Direktor des Theaters in der Josefstadt. Auch in dieser Zeit stand er immer wieder auf der Bühne, unter anderem als Graf Almaviva in Ödön von Horváths Komödie "Figaro lässt sich scheiden". Als Regisseur ist er mit Opern- und Operetteninszenierungen hervorgetreten; er hat außerdem in zahlreichen Filmen mitgewirkt.
Kammerschauspieler Helmut Lohner wurde mit mehreren Ehrungen ausgezeichnet, unter anderem mit der Kainz-Medaille (1980), dem Nestroy-Ring (1988) und dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien (2006).
Heinz Nußbaumer, geboren 1943 in Bad Reichenhall, hat Rechts- und Staatsphilosophie sowie Kunstgeschichte in Salzburg studiert, und war danach als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und als Pressereferent tätig. Von 1990 bis 1999 leitete er den Presse- und Informationsdienst der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei und fungierte als Pressesprecher der Bundespräsidenten Kurt Waldheim und Thomas Klestil.
Seit 2000 ist Heinz Nußbaumer freier Publizist und Medienberater. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und ist als Gastgeber der ORF-Sendereihe "Philosophicum" auch dem Fernsehpublikum ein Begriff. Seine Arbeit wurde unter anderem mit dem "Dr. Karl Renner-Preis für Publizistik" und dem "Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse" gewürdigt.
Im vergangenen Jahr erschien im Styria-Verlag Nußbaumers Buch "Der Mönch in mir - Erfahrungen eines Athos-Pilgers für unser Leben", das den Ausgangspunkt für das hier abgedruckte Gespräch bildete.