Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, spricht über die Unteilbarkeit von Menschenrechten, die aktuelle Kampagne gegen Armut - und über die Situation in unserem Land.
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"Wiener Zeitung": Herr Patzelt, die französische Regierung hat ein Gesetz erlassen, das Frauen verbietet, die Burka zu tragen. Wie steht Amnesty International dazu? Heinz Patzelt: Wir haben dazu einen klaren Standpunkt: Amnesty hält jeden Versuch, eine Person zu zwingen oder ihr zu verbieten, bestimmte Kleidungsstücke zu tragen oder nicht zu tragen, für gleichermaßen menschenrechtswidrig. Man überlege sich, was es bedeuten würde, wenn man strenggläubigen Juden verbieten würde, eine Kippa zu tragen - da würde die ganze Welt aufschreien! Dass es bei der Frage der Gesichtsverschleierung auch darum geht, Frauen ihre Identität zu nehmen und ihre Sexualität zu unterdrücken, ist uns aber völlig bewusst, dagegen treten wir auch klar auf. Aber man muss das eine vom anderen unterscheiden, und es geht um die Verhältnismäßigkeit. Ist eine Beschränkung der menschlichen Freiheit dem angestrebten Zweck angemessen? Ist sie das gelindest mögliche Mittel?
Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" wurde 1948 in Paris, eine alternative Erklärung 1990 in Kairo verabschiedet, in der aber die Rechte der Frauen weniger stark ausgeprägt sind als jene der Männer. Unterstützt man, wenn man das Tragen einer Ganzkörperverschleierung zulässt, denn nicht faktisch diese alternative Erklärung der Menschenrechte?
Ich zolle allen, die aus frauenrechtlicher Perspektive für ein Burkaverbot plädieren, meinen menschenrechtlichen Respekt. Ich glaube nur, dass sie nicht zu Ende denken, dass ein solches Verbot die betroffenen Frauen ganz aus der Öffentlichkeit verdrängen würde. Ein wesentlicher Aspekt dieses Problems ist die Fragestellung: Wer stellt diese Frage und warum tut er das? Hinter vielen, die das Thema in die politische Agenda einbringen, steht blanker Rassismus als menschenrechtswidriges Motiv.
In wie vielen Ländern gibt es Mitglieder von Amnesty International?
In mehr als hundertfünfzig Ländern. Registriert und als Verein tätig ist Amnesty in etwa 80 Ländern.
Auch in muslimischen Ländern?
Amnesty-Strukturen in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung gibt es zum Beispiel in Mali, Algerien, Marokko, Malaysia oder im Senegal, nicht aber in Saudi-Arabien, Afghanistan oder dem Iran, eine vollständige Übersicht gibt es auf www.amnesty.org.
Ist das Verständnis von Menschenrechten bei allen Amnesty-Mitgliedern gleich?
Amnesty besteht aus rund 2,8 Millionen Mitgliedern, und sie haben unterschiedliche politische Anschauungen und unterschiedliche religiöse Überzeugungen. Jedes Amnesty-Mitglied bekennt sich aber zum Grundverständnis, dass es Menschenrechte gibt - und dass diese unabhängig davon sind, ob man als Mann oder als Frau geboren wird. Und dass Menschenrechte unabhängig von jedem kulturellen Kontext gültig sind. Es gab aber stets Gruppierungen - Staaten, religiöse Gemeinschaften, kontinentale Zusammenschlüsse -, die Interpretationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 vorgenommen haben.
Wie etwa diese Kairoer Deklaration.
Ja, zum Beispiel. Es gibt auch eine Debatte über die sogenannten asiatischen Werte, denen zufolge die Gruppe vor dem Einzelnen kommt - was eindeutig im Widerspruch zum Verständnis der Vereinten Nationen steht. Jedes Konzept braucht aber eine Weiterentwicklung. Amnesty steht also nicht hinter einem versteinerten Menschenrechtsbegriff des Jahres 1948. Aber wir sagen, dass alles, was in den 30 Artikeln der Menschenrechtskonvention steht, nach wie vor weltweit für jeden Menschen auf Erden gültig ist.
Also lehnen Sie dezidiert ab, was in Kairo beschlossen wurde?
Wir lehnen es nicht pauschal ab, wie wir auch die Scharia nicht grundsätzlich ablehnen. Wir weisen aber darauf hin, dass die Scharia in einigen Bereichen den Menschenrechten klar widerspricht, wenn sie etwa Körperstrafen oder Amputationen fordert. Unsere Ablehnung galt aber genauso der US-Regierung, als sie während des "war on terror" daran ging, das Folterverbot auszuhöhlen, und versuchte, das Lager in Guantanamo als menschenrechtskonform darzustellen. Auch wenn der Kongress der Vereinigten Staaten oder alle amerikanischen Bundesstaaten sich darüber einig wären, dass Folter unter bestimmten Bedingungen zulässig ist, wäre das Amnesty egal. Wenn etwas menschenrechtswidrig ist, dann weisen wir darauf hin. Punkt.
Gab es in der Vergangenheit von Amnesty Fälle, bei denen man sich nicht so sicher war?
Bei uns gibt es ständig intensive, manchmal erbitterte Diskussionen über Standpunkte. Am Beginn trat Amnesty bekanntlich nur für Gewissensgefangene ein. Wenn man solchen Menschen zur Freiheit verhelfen kann, müssen sie ihr Heimatland verlassen und brauchen dann einen neuen, sicheren "Hafen". Daher müssen wir uns auch für ein grundsätzliches Menschenrecht auf Asyl einsetzen. Aus der damaligen Perspektive unserer Mitglieder war das aber überhaupt nicht klar.
Die Debatte dreht sich auch ständig um die Frage: Übernehmen wir uns nicht? Und das Argument "Wir können nicht gegen jedes Unrecht auf der Welt auftreten" gibt es bei Amnesty seit Anbeginn.
Wer regt innerhalb von Amnesty neue Entwicklungen an?
Das ist unterschiedlich. Typischerweise sind es organisationsinterne "pressure groups", die sich eines Themas - durchaus aus persönlicher Betroffenheit - besonders annehmen. Das war bei der Todesstrafe so, bei der Diskriminierung von Lesben und Schwulen oder in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs.
Eine klassische Managemententscheidung ist es, zu sagen, dass man etwas "Altes" aufgeben muss, wenn man etwas "Neues" dazu nimmt. Das sind sehr schwierige und schmerzliche Entscheidungen, die aber zwingend notwendig sind, wenn die Organisation wirksam bleiben soll.
Bei welchen Themen hat Amnesty die operative Arbeit eingestellt?
Wir hatten zum Beispiel Programme laufen für Wehrdienstverweigerer oder gegen das sogenannte "house-destroying" der israelischen Besatzungsmächte in Palästina, d.h. der Zerstörung von Häusern jener Familien, aus denen Selbstmordattentäter stammen. Die haben wir später wieder zurückgeschraubt.
Warum?
Nachdem die Menschenrechtswidrigkeit einer Vorgehensweise bekannt gemacht und grundsätzlich anerkannt ist, liegt die Verantwortung wieder bei den Staaten. Wir können und wollen nicht statt der Regierungen Verantwortung übernehmen, da würden wir uns selbst überschätzen und übernehmen. Unsere Aufgabe ist es, den Finger in menschenrechtliche Wunden zu legen und wirksam und unüberhörbar Heilung einzufordern.
Wo hätte sich Amnesty Ihrer Meinung nach nicht engagieren sollen?
Es gab während meiner bisherigen 13 Jahre als AI-Generalsekretär einiges, bei dem ich mir zuerst gedacht habe: "Brauch´ma das auch noch?" Es gab aber letztlich nichts, worauf ich mich, nach Kenntnis aller Argumente, nicht mit Überzeugung und Begeisterung eingelassen habe.
Ich finde es sehr beeindruckend, dass wir zwar großartig streiten können, dass aber dann, wenn wir einmal einen Standpunkt gefunden haben - was bei uns sehr demokratisch vor sich geht -, sich alle daran halten.
Können alle Mitglieder bei allen Themen mitziehen?
Nein. Manche gehen weg, wenn sie etwas nicht mehr mittragen können - oder gründen andere NGOs. "Ärzte ohne Grenzen" etwa ist zum Teil so entstanden.
Wo wird sich Amnesty in nächster Zeit verstärkt engagieren?
Gerade beginnt eine große internationale Kampagne zum Thema "Mit Menschenrechten gegen Armut".
Welches Verständnis von Armut hat Amnesty?
Jedes Verständnis von Armut, das sich nur an konkreten Geldbeträgen orientiert, ist falsch. Arm ist man vor allem dann, wenn man an einer Gesellschaft nicht mehr teilhaben kann. Eine allein erziehende Mutter in Österreich, die ihr Kind nicht auf den Schulskikurs schicken kann, ist in einer ähnlichen Situation wie Eltern in einem afrikanischen Land, deren Kinder nicht in die Schule gehen können, weil man sich Bleistift und Papier nicht leisten kann.
Aber ist die "absolute Armut", also etwa ständig hungern zu müssen, nicht weitaus schlimmer?
Die Frage ist, wo können wir einen menschenrechtlichen Beitrag leisten. Natürlich hat für jemanden in akuter Todesgefahr Erste Hilfe oberste Priorität. Aber auf lange Sicht ändert sich für die Hungernden die Situation nur, wenn man neben der Hungerbekämpfung auch für Emanzipation, Meinungsfreiheit und Selbstartikulationsfähigkeit sorgt. Das ist ein ganz ein wichtiger Punkt: Wer von Armut betroffen ist, muss sich artikulieren, muss politisch teilhaben dürfen, muss also Zugang zu klassischen bürgerlichen Menschenrechten haben.
Sie sagen, auch die Finanzkrise sei ein menschenrechtliches Problem. Andererseits behaupten Sie, Menschenrechte seien keine Frage des Geldes. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nun, einerseits gelten Menschenrechte unabhängig davon, ob ein Staat reich oder arm ist. Andererseits kosten Menschenrechte natürlich Ressourcen und Geld. Es ist immer die Frage, wie eine Gesellschaft Geld verteilt. Wesentlich war, festzustellen: "Während ihr hier im wohlhabenden globalen Norden das System rettet, bedenkt bitte, dass diese Finanzkrise in den Ländern des globalen Südens wesentlich katastrophalere Auswirkung hat!"
Wenn jemand in Österreich ein Drittel seiner Einkünfte verliert, ist es schlimm, aber vermutlich nicht lebensbedrohend. Wenn das jemandem in Afrika passiert, der mit einem Dollar pro Tag auskommen muss, kann es den sicheren Tod bedeuten. Man darf nicht akzeptieren, dass die Erhaltung unseres Wohlstands darauf aufbaut, dass man Länder im Süden von dramatischer Armut in tödliche Armut treibt.
Kommen wir nach Österreich: Bei einem Kriminalfall in Krems, wo ein Jugendlicher bei einem nächtlichen Einbruch von einem Polizisten erschossen wurde, gab es von Ihrer Seite nachträglich massive Kritik an der Staatsanwaltschaft. Warum?
Es hat sich herausgestellt, dass die Vernehmung der beteiligten Polizisten vier Tage lang nicht durchsetzbar war, weil es auf Seiten der Staatsanwaltschaft keinen Ansprechpartner gab. Die Staatsanwaltschaft hat es nicht geschafft, ein rasches Ermittlungsverfahren durchzuführen. Das hat die Aufklärung dessen, was in Krems passiert ist, massiv behindert.
Dafür gab es in diesem Fall von Ihnen ausdrückliches Lob für die Exekutive. Womit hat sie sich das verdient? Die oberösterreichische Polizei hat eine Sonderermittlergruppe eingesetzt, die hervorragende Aufklärungsarbeit geleistet hat. Die haben mustergültig vor Gericht ausgesagt, und das muss man anerkennen.
War das ein Einzelfall? Oder sehen Sie eine Tendenz zu verbesserter Polizeiarbeit?
Ich habe den Eindruck, dass die Polizei strukturell zu verstehen beginnt, dass sie selbst vor allem dazu da ist, Menschenrechte zu schützen. Man kann, glaube ich, sagen, dass sie am Weg zur größten Menschenrechtsschutzorganisation ist - und auch sein muss. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir es bei der Polizei nicht mehr mit einem kontroversiellen Gegenüber zu tun haben, sondern zunehmend an einem gemeinsamen Strang ziehen.
Seit wann ist das der Fall?
Das ist ein Eindruck, der sich in den letzten ein, zwei Jahren verfestigt hat. Ich würde allerdings nicht auf die Idee kommen, zu sagen, damit sei schon alles erledigt. Aber die Polizei ist auf einem guten Weg. So gibt es etwa ein Reformprojekt mit dem wortspielerischen Titel "Polizei.Macht.Menschenrechte", das Innenministerin Fekter vor einem halben Jahr gemeinsam mit Caritas-Wien-Chef Landau und mir vorgestellt hat.
Wie läuft die Kommunikation zwischen Amnesty International und der Innenministerin?
Frau Innenministerin Fekter ist für uns weder Freundin noch Feindin. Bei diesem Reformprojekt gibt es, wie gesagt, eine positive Kommunikation. Aber das, was Frau Fekter und ihr Ministerium im Bereich Asylrecht machen, ist nach wie vor skandalös!
Was ist Ihre Hauptkritik?
Die immer schärfere Diskriminierung von Asylwerbern, sei es in der ausschließlich im Asylrecht eingeführten Beschneidung des Instanzenzugs, sei es im sozialen Bereich oder im Zusammenhang mit der geplanten allgemeinen Inhaftierung nach Asylantragstellung im Umgang mit der persönlichen Freiheit.
Von der Polizei haben Sie gesagt, sie sei auf einem guten Weg. Auf welchem Weg sehen Sie Österreich und sein politisches Umfeld?
Einerseits befindet sich Österreich in der Europäischen Union, und damit in jener Weltgegend, wo weitaus am meisten Menschenrechte für die meisten Menschen gelten. Andererseits springt es dann besonders ins Auge, wenn nicht für jeden in Österreich alle Menschenrechte Gültigkeit haben. Wenn ich gut ausgebildet bin, österreichischer Staatsbürger, männlich und Krawattenträger mit guten Umgangsformen, dann lebe ich in Österreich in einem menschenrechtlichen Paradies. Wenn mir aber eine oder mehrere dieser Eigenschaften fehlen, kann es auch hierzulande erschreckend rasch eng werden.
Welcher der österreichische Fälle aus den letzten Jahren macht Sie besonders betroffen?
Das Nichtaufklären des Brandanschlages auf ein Asylwerberheim in Kärnten, bei dem es im Juni 2008 zehn Schwerverletzte und einen Toten gegeben hat. Der Fall hat mehrere zornig machende Aspekte: Es ist jetzt vor kurzem ein Strafverfahren gegen den Heimbetreiber und den Flüchtlingsreferenten des Landes Kärnten eingestellt worden, die beide in diesem Fall vielleicht ein wenig Schuld trifft.
Aber es gab gleich nach dem Anschlag ein dramatisches Ermittlungsversagen der Polizei, mit der Konsequenz, dass der Täter für immer verschollen bleibt. Die Familie des Toten und die zehn Schwerverletzten haben also keine Chance, Schadensersatzansprüche oder Schmerzensgeldansprüche zu stellen, obwohl sie massiv zu Schaden kamen und die Ermittlungen total verschlampt wurden. Diese Mischung aus Verfolgungsunwilligkeit nach Menschenrechtsverletzungen, Straf- und Folgenlosigkeit sowie schlussendlich Verbesserungsunwilligkeit ist leider nach wie vor typisch für Österreich.
Zur Person
Heinz Patzelt, geboren 1957, ist seit dem 1. Jänner 1998 Generalsekretär von Amnesty International Österreich. Davor arbeitete der ausgebildete Jurist in einer Anwaltskanzlei, einer Werbeagentur und einem Software-Unternehmen. Neben Studium und Beruf war Patzelt zudem ehrenamtlich als Rettungsfahrer bei den Maltesern, in der Behindertenbetreuung und im Katastrophenschutz tätig.
Der mit einer Ärztin verheiratete Heinz Patzelt ist ein passionierter Bogenschütze und Segler. Und sein kulturellen Interessen sind vielseitig: Er liebt die Brunetti-Krimis von Donna Leon, geht gerne ins Theater und ist ein erklärter Fan der Schauspielerin Birgit Minichmayr. Gefallen findet Patzelt aber auch an Action-Filmen mit Bruce Willis in der Hauptrolle.
Amnesty International ist eine nichtstaatliche Non-Profit-Organisation, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt. Die Organisation wurde 1961 in London von Peter Benenson gegründet und hat derzeit weltweit 2,2 Millionen Mitglieder. Amnesty recherchiert Menschenrechtsverletzungen und betreibt Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. In Österreich ist Amnesty seit 1970 als Organisation tätig.
Ursprünglich setzte sich Amnesty nur für Gewissensgefangene ein, das Spektrum der Themen hat sich seitdem aber laufend erweitert und umfasst heute u.a. den Kampf gegen Folter und Todesstrafe, sowie den Einsatz für Frauen- und Asylantenrechte. 2010 führt Amnesty International eine europaweite Kampagne gegen die Ausgrenzung der Roma und eine weltweite Kampagne gegen Armut.
Peter Jungwirth, geboren 1962, lebt in Wien und ist als freier Journalist im Print- und Hörfunkbereich tätig.